Kultur

Feministische Künstlerin Orlan: Frauenrolle rückwärts

Droht der genderpolitische Backlash-oder ist er schon da? Die französische Künstlerin Orlan, die ab dieser Woche ihr Werk in Wien zeigt, kämpft seit den 1960er-Jahren gegen Geschlechterstereotype. Ihre Zuversicht hat sie längst verloren.

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Seidiges Haar, füllige Lippen, die Haut glatt wie ein Babypopo, schlanke Figur, wobei-ein bisschen Kim-Kardashian-Hintern wäre nicht schlecht: So etwa sehen die Beauty-Vorgaben aus, die sich auf Social Media verbreiten. Für eine durchschnittliche Frau kaum erfüllbar. Kürzlich installierte die Plattform TikTok sogar einen Filter, der Gesichter magisch verjüngt. Das digitale Schönheitsdiktat hat Folgen: Wie eine Studie kürzlich herausfand, ist das Körperbild junger Mädchen und Frauen im Keller-nur 45 Prozent der befragten Schülerinnen sehen ihr eigenes positiv, Tendenz rasant sinkend. Dass die permanente Sorge um eine gefällige Erscheinung Frauen von Wichtigerem ablenkt, ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Aber waren wir gesellschaftlich nicht schon einmal weiter?

Als die Künstlerin Orlan, heute 75, mit ihrer Kritik an stereotypen Schönheitsvorstellungen berühmt wurde, erahnten wenige die Bedeutung, die eine Technologie namens World Wide Web dereinst erlangen würde. Ab 1990 sorgte die Französin mit Fotos und Videos von plastisch-chirurgischen Operationen gegen die Normschönheit, die sie an ihrem eigenen Körper ausführen ließ, für Aufregung. Nun stellt Orlan ihr Œuvre in Wien vor. Die Sammlung des Energieanbieters Verbund, fokussiert auf feministische Kunst, zeigt eine Schau am Wiener Firmensitz und bringt eine umfassende deutschsprachige Publikation dazu heraus.

Ein Hinterhof am Rande des Pariser Viertels Oberkampf, ein großes eisernes Tor. Darauf steht in fünf orangen Lettern: O-R-L-A-N. Um 19 Uhr möge man zum Interview antreten, hieß es. Das Studio Orlan operiert meist zwischen 13 und 21 Uhr, manchmal auch bis Mitternacht. Orlans Assistent, ein freundlicher junger Mann mit Goldrandbrille und schwarz lackierten Fingernägeln, öffnet das Tor. Orlan trägt in der Mitte gescheiteltes langes Haar-eine Hälfte schwarz, eine weiß. Lila Lippen, lila Lidschatten, silberne Fingernägel, Glitzerstiefel, Samtjacke, kurz: Sie ist eine Erscheinung.

"Wollen Sie eine Führung durch das Studio?"Unbedingt! Die Räume, in denen Orlan und ihre drei Assistent:innen arbeiten, sind nicht so großzügig wie Ateliers anderer ihres Kalibers. Dafür kann man hier ihr Werk aus sechs Jahrzehnten im Schnelldurchlauf besichtigen: einen Screen, auf dem sich die Künstlerin als computeranimierte enthäutete Figur langsam bewegt; ein monumentales Foto ihres berühmten "Le Baiser de l'Artiste" ("Kuss der Künstlerin"); ihren "Orlanoïde"-einen Roboter mit ihrem Aussehen-,Fotomontagen, für die sie heulende Frauen aus Picasso-Gemälden zerhackte ("Die weinenden Frauen sind zornig"). Orlan weist auf zwei große Bücherregale: "Das sind alles Publikationen über meine Arbeiten." Dabei zieht sie ihre Brauen nach oben, reißt die Augen auf und drückt die Lippen aufeinander-eine Mimik, mit der sie wichtige Aussagen unterstreicht. 

Feminismus Radikal

Bild: "chirurgische Performance", 1991

Im Studio stehen auch großformatige Foto-Selbstporträts, die direkt nach ihren plastisch-chirurgischen Operationen entstanden. Neun davon ließ sie innerhalb von drei Jahren durchführen, unter Lokalanästhesie. Auf Fotos und Videos sieht man, wie ihr Körper aufgeschnitten wird, während sie in die Kamera spricht und mit dem OP-Personal scherzt. Eines der Ergebnisse sticht bis heute ins Auge: An Orlans Schläfen sitzen zwei Silikonimplantante, kleine Höcker, an diesem Abend glänzend bestrichen. "Die Idee hinter den plastischchirurgischen Operationen war, gegen Stereotype zu kämpfen", erzählt Orlan. Ihre Kritik richte sich nicht gegen kosmetische Chirurgie, "sondern gegen das, was wir damit machen".Nämlich die immer gleichen und schwer erreichbaren Körperideale zu reproduzieren, vorgegeben von kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen.

Wie stark diese sind, zeigte sich in Orlans Schwierigkeiten bei der Suche nach Fachleuten für die OPs. "Die männlichen Chirurgen, mit denen ich sprach, wollten, dass ich 'hübsch' bleibe, und haben meinem Plan nicht zugestimmt",erinnert sich die Künstlerin. Als sie die Arbeiten zeigte, erlebte sie heftige Attacken-wie so oft, wenn Frauen den Finger in die Wunde legen. Masochistisch und verrückt sei sie, hieß es. Heute würde sie sich wohl einen Shitstorm nach dem anderen einhandeln.

Was hält Orlan, die seit den 1960er-Jahren die Rolle der Frauen in der Gesellschaft kritisch reflektiert, vom Frauenbild in den (all-)gegenwärtigen Social-Media-Welten? "Mein ganzes Leben kämpfte ich gegen den Objektstatus von Frauen und für ihre Befreiung",resümiert sie. "Aber ich habe den Eindruck, dass es nichts genutzt hat. Jetzt bewegt sich alles wieder rückwärts. Die heutigen Influencerinnen propagieren dieselben Stereotype von Frauen, wie sie damals gängig waren: blond und langhaarig. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem wir vor 60 Jahren waren. Erschreckend!"

Doch gibt es nicht längst eine Reihe von Gegenbewegungen? Wenn auf der "Vogue" Models posieren, die keinem gängigen Ideal entsprechen, wenn Body Positivity zum Schlagwort der Stunde geworden ist? Wenn die Instagram-Influencerin Celeste Barber in absichtlich ungeschickten Videos die absurden Posen ihrer schlanken, normschönen Kolleginnen veräppelt und damit immerhin über neun Millionen Follower unterhält? Orlan bleibt wenig optimistisch: "Das sind Ausnahmen, die nicht ausreichen, um ein Gegengewicht zu bilden."

Schon eine ihrer frühen Fotografien offenbart die Haltung der Künstlerin, die in dem kleinen Ort Saint-Étienne nahe Lyon als Mireille Suzanne Francette Porte geboren wurde. Auf der Arbeit aus dem Jahr 1966 steigt sie aus einem altmodischen Bilderrahmen. Eine programmatische Ansage: Die junge Künstlerin überwindet gesellschaftliche Barrieren. Und das in einer Zeit, da sie als Frau noch nicht einmal ein Bankkonto eröffnen durfte. Als sie 1977 auf der FIAC, der wichtigsten Kunstmesse Frankreichs, ihre Küsse zum Verkauf anbot("Le Baiser de l'Artiste"),verlor sie ihren Job als Lehrerin an einer Schule. Danach erlebte sie eine schwere Zeit, "ohne Job, ohne Geld".Doch sie biss sich durch. Aufgeben? Niemals.

Heute zählt sie zu den berühmtesten lebenden Kunstschaffenden der Grande Nation. Ihr Studio arbeitet auf Hochbetrieb-Ausstellungen in Luxemburg, Barcelona, Marseille, São Paulo und eben Wien wollen bestückt werden. Zudem erhebt sie ihre Stimme in gesellschaftlichen Debatten. 2018 publizierten 100 Frauen, darunter Schauspielstar Catherine Deneuve, in der Tageszeitung "Le Monde" einen offenen Brief gegen die Initiative #BalanceTonPorc ("Verpfeif dein Schwein"), das Pendant zu #MeToo in Frankreich. Darin propagierten sie eine "Freiheit des Sich-Aufdrängens",die für die "sexuelle Freiheit unerlässlich" sei. #BalanceTonPorc produziere Opfer, hieß es darin: Männer seien ihren Job losgeworden, "wenn ihr einziges Unrecht darin bestand, ein Knie berührt zu haben, versucht zu haben, einen Kuss zu stehlen und bei einem beruflichen Abendessen über 'intime' Dinge zu sprechen oder sexuell aufgeladene Nachrichten an eine Frau zu senden, bei der die Anziehungskraft nicht auf Gegenseitigkeit beruhte".

Dem entgegnete Orlan mit einem Text unter dem Titel "Liberté, Égalité, Sororité" ("Gleichheit, Freiheit, Schwesterlichkeit"), in dem sie schrieb: "Sobald Feminismus an Boden gewinnt, gibt es Widerstand."Jenen Frauen, die #BalanceTonPorc beschuldigten, einen Krieg der Geschlechter heraufzubeschwören, schleuderte sie entgegen: "Der Krieg gegen das weibliche Geschlecht ist eine Tatsache und Jahrtausende alt!"

Die Brisanz, die Orlans Kunst bis heute besitzt, beweist auch ihr 1989 entstandenes Werk "L'Origine de la guerre" ("Der Ursprung des Krieges"),das Bild eines nackten männlichen Unterleibs mit gespreizten Beinen. Es ist eine Paraphrase auf das Gemälde "L'Origine du monde" ("Der Ursprung der Welt")ihres Landsmanns Gustave Courbet, eine Ikone der französischen Kunstgeschichte, die denselben Ausschnitt eines weiblichen Körpers zeigt. Orlans Version macht sich einerseits darüber lustig, wie die Kunst das Weibliche auf das Sexuelle reduzierte und mystifizierte. Andererseits stellt der Titel das Patriarchat als todbringend dar. Wer heute dieses Bild beispielsweise auf Facebook postet, merkt: Noch immer fühlen sich viele Männer davon persönlich getroffen-als behaupte Orlan, jeder einzelne von ihnen sei eine Art Mini-Putin. Ein grobes Missverständnis.

Übertreibt die Künstlerin mit ihrer Rede vom "Krieg gegen die Frauen"? Wohl kaum. Im Iran, in Afghanistan und vielen anderen Weltgegenden tobt dieser nach wie vor und sichtlich immer schlimmer. In Teilen der USA und Europas sind Rechte, die einst sicher erschienen, abgeschafft: Vielen Amerikanerinnen ist Abtreibung wieder verboten, ebenso den Polinnen. Selbst in Österreich erschwert die schlechte ärztliche Versorgung die körperliche Selbstbestimmung der Frauen. Zudem sind in Europa rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch, die keine Zweifel an ihrem Frauenbild lassen. In der Vorwoche führte die FPÖ die profil-Sonntagsfrage mit 31 Prozent an. Sollte 2024 ein blauer Bundeskanzler das Land regieren, wird es frauenpolitisch wohl schnurstracks in die Vergangenheit gehen.

Orlan, was denken Sie: Wird eine heute Zehnjährige in Europa für den Rest ihres Lebens über ihren Körper bestimmen können? Die Antwort kommt pfeilschnell: "Ich bin pessimistisch." Orlan reißt ihre Augen auf und drückt die Lippen aufeinander.

 

Orlan, Six Decades

Vertikale Galerie der Sammlung Verbund, 22. März bis 30. Juni. Am Hof 6a, 1010 Wien.

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation, hg. von Gabriele Schor und Catherine Morris (308 S.,Hatje Cantz, EUR 56,-)

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer