„Mermaids Don’t Cry“ von Franziska Pflaum: Arielle im Gemeindebau
Abtauchen, um der Welt zu entfliehen. Der Supermarktangestellten Annika (gespielt von Stefanie Reinsperger) fällt es schwer, sich von ihrer Umwelt abzugrenzen. Der egozentrische Vater (Karl Fischer) klebt an ihr, der Freund zieht bei ihr ein, weil er selbst keine Wohnung findet – und die beste Freundin (Julia Franz Richter) schiebt oft die Kinder zu ihr ab, um Zeit für sich zu haben. Und in der Arbeit regiert eine Chefin (Inga Busch) mit esoterischen Methoden. Ruhe findet Annika nur, wenn sie sich im Schwimmbad ein Meerjungfrauen-Outfit verpasst, untertaucht und sich der Ruhe hingibt. Zum großen Glück der Selbstermächtigung fehlt Annika nur die perfekte Schwanzflosse aus dem Online-Shop, die jedoch viel zu teuer ist.
Eine gute, in diesem Fall auch witzige Geschichte, entsteht oft, wenn die Wirklichkeit mit der Fiktion kollidiert. Denn die maßgeschneiderte Flosse, die im Sommer-Kinofilm „Mermaids Don’t Cry“ der Wiener Filmemacherin Franziska Pflaum, 36, eine Hauptrolle spielt, war für den Dreh schwer zu bekommen. „Wir haben angefangen zu arbeiten und hatten keine Flosse“, erzählt Pflaum im Gespräch mit profil über den holprigen Drehstart im Sommer 2021. Denn eines ist hier von der ersten Minute an klar: Für ihre Träume braucht Annika keine sündhaft teure Silikonprothese.
Für mich war klar, dass ich keinen Standard-Körper als Meerjungfrau haben möchte.
Aufgefallen ist Pflaum das Mermaiding, wie der Trend, mit Flosse zu schwimmen und sich in wellenförmigen Bewegungen wie eine Meerjungfrau durchs Wasser zu bewegen, genannt wird, bei einem Schwimmtraining in Berlin. Einerseits fand sie die Verkleidung skurril, erzählt sie, andererseits habe die Unterwasserchoreografie in ihr Erinnerungen, Sehnsüchte und Vorstellungen geweckt, wie sie selbst als Kind im Becken geschwommen sei und Arielle gespielt habe. Denn der Mythos um die kleine Meerjungfrau, die Faszination für griechische Wasserwesen und -nymphen, auch der Hype um die Neuverfilmung des Disney-Klassikers “Arielle”, dies alles zeige nur, dass die alte Frage, was sich unter der Wasseroberfläche verberge, immer noch aktuell sei. Ihr eigener Film, meint Pflaum, spiele und persifliere die Klischees.
„Für mich war klar, dass ich keinen Standard-Körper als Meerjungfrau haben möchte”, erzählt Pflaum über das Casting. Es gebe so viele verschiedene Körper. Fasziniert von der Schauspielerin Stefanie Reinsperger, die vor allem durch ihre Rolle im Sonntagabend-Krimi „Tatort“ bekannt geworden ist, sei sie länger schon. Vor allem als schlecht gelaunte Polizistin in David Schalkos Serien-Hit „Braunschlag“ sei sie ihr in Erinnerung geblieben.
Dass der Traum, als Meerjungfrau schwerelos durch das Schwimmbad und die Welt zu gleiten, nun im Wiener Gemeindebau schwelt, ist einem Zufall geschuldet. Denn ausgedacht hat sich die Geschichte Pflaum bereits 2015 oder 2016. So genau weiß sie das nicht mehr. Eigentlich wollte sie damals einen anderen Debütfilm (Arbeitstitel: „Schneetreiben“) realisieren. Sie verlegte kurzerhand das Mermaids-Setting von der deutschen Hauptstadt in die Wiener Rennbahnsiedlung. Das Berlinerische, wie Pflaum es nennt, schwinge in ihrem Film aber noch mit. Denn Menschen im Prekariat, das hier zwischen Plattenbau und Job im Diskonter gezeigt wird, sehe man im österreichischen Kino kaum. Da dominiere gern der Blick nach unten, meint die Regisseurin: das Geschmacklose und Grindige. Gemerkt hat sie das, als sie auf der Suche nach einem Drehort in der Siedlung unterwegs war. Denn die Leute gingen davon aus, dass hier wieder ein Film entstehe, der nur zeige, wie schlecht es den Menschen im “Problemviertel” gehe. Pflaum selbst aber wollte lieber die Lebensschlauheit ihrer Figuren in den Fokus rücken. Die typisch österreichische Komödie, das Kino-Kabarett, wollte Pflaum vermeiden. Lieber denkt sie beim Arbeiten an die Filme des deutschen Regisseurs Andreas Dresen („Halt auf freier Strecke“), der seine Figuren als Helden des Alltags zeichnet.
Dass „Mermaids Don’t Cry“ jetzt bei aller Liebe zum Detail (man beachte die Ausstattung der Unterwasserszenen, die im Hietzinger Bad in Wien gedreht wurden) doch ein wenig zu sehr auf dem Reißbrett konstruiert scheint und auf den schnellen Publikumslacher setzt, macht nur deutlich, dass sich der Film bis zum Schluss nicht ganz entscheiden kann, ob er sozialkritische Dramedy oder sommerliche Komödie sein will.
Ihrem Film hätte sie gerne noch einen dokumentarischen Touch verliehen, das war aber mit 26 Drehtagen (plus zwei für die Unterwasserwelten), nicht drin. Nach zehn Jahren mit Studenten- und Kurzfilmen (sie gewann den Deutschen Kurzfilmpreis 2014 für „So schön wie du“) sollte „Mermaids Don’t Cry“ endlich eine größere Produktion werden, bei dem sie nicht nur auf das Wohlwollen ihres Freundeskreises zurückgreifen wollte. Bei künftigen Projekten (bei der heurigen Diagonale wurde ihr gemeinsam mit ihrem Schreibpartner Thomas Mraz der Carl-Mayer-Drehbuchpreis für ein Treatment namens „Basta“ zugesprochen) würde sie gerne länger proben und mehr Zeit für Vorbereitung haben, dann könne sie auch schneller drehen. Aber das sei Lehrgeld, das man für ein Debüt eben zahle.
Würde sie „Mermaids Don’t Cry“ noch einmal drehen, der Film sähe anders aus, meint sie noch, auch wenn sie mit dem Ergebnis zufrieden sei. Die Idee eines Filmemachers wie Michael Haneke, seinen Film „Funny Games“ für das US-Remake eins zu eins, Szene für Szene, noch einmal zu drehen, würde ihr „im Leben nicht einfallen”.