Filmemacher Michael Haneke wird 80: Eine Würdigung
Er sei übrigens "nicht gerührt", betonte Michael Haneke etwas atemlos vor gut zwei Wochen im Österreichischen Filmmuseum, als er, zum Auftakt seiner Wiener Retrospektive, gerade die Genese seines Kinodebüts "Der siebente Kontinent" (1989) erläuterte. Er sprach durch die Virenschutzmaske, was ihm hörbar Mühe bereitete, aber die Idee, angesichts einer gewissen Kurzatmigkeit für sentimental, gar ergriffen gehalten zu werden, behagte ihm nicht.
Die Anekdote zeichnet das Porträt eines Künstlers, der für größere Gefühlsaufwallungen, etwa aus dem trivialen Anlass der Erreichung eines runden Geburtstags, keine Verwendung hat. Es geht um nicht weniger als: das Kino, die Kunst, die Welt. Am Mittwoch dieser Woche wird Haneke 80 Jahre alt, aber am liebsten würde er den Ehrentag gleich wieder streichen.
Interviewanfragen beantwortet Haneke gegenwärtig abschlägig. Er bitte um Verständnis, aber er habe sein Werk über die Jahrzehnte umfassend kommentiert: "Zum gegenwärtigen Filmgeschehen hab ich nichts zu sagen, zu den opportunen aktuellen Themen noch weniger. Und zu meinem Alters-Jubiläum am wenigsten." In Wahrheit bedaure er heute, "viel zu viel gesagt zu haben - es behindert die freie Sicht auf die Filme und hat in erster Linie Missverständnisse und Vorurteile provoziert. Hätte ich den Mund gehalten, wär's besser gewesen."
Tatsächlich hat Haneke 30 Jahre lang gerne und detailliert Auskunft über sein Schaffen gegeben, seine Ausführungen und Selbstinterpretationen füllen zahllose Bände, auch weil er es stets geschätzt hat, die komplexen Formen zu erklären, die er seinen rigorosen Erzählungen von Depression und Gewalt gegeben hat. Haneke-Filme sind eher nichts für Zartbesaitete: Sie behelligen einen mit Existenzekel und Selbstvernichtungssehnsucht ("Der siebente Kontinent"), mit der Amoral einer wohlstandsverwahrlosten Jugend ("Benny's Video"), mit den langen Schatten der Kriege ("Caché", "Das weiße Band"), dem Sadomasochismus der Hochkultur ("Die Klavierspielerin"), mit Apokalypse ("Wolfzeit"), nahendem Tod ("Amour") und den Reibungsflächen einer multiethnischen Gesellschaft ("Code inconnu").
Als hellwacher Gesellschafts- und Zeitdiagnostiker hat es Haneke zuwege gebracht, weit über politische Aktualitäten hinaus zu denken und Kunstwerke herzustellen, die einem auch Jahrzehnte nach ihren Premieren noch Verständnishilfe leisten, was eine in Krieg, Isolation und Klimakatastrophe versinkende Welt betrifft - und die Unzumutbarkeit eines von Industrie, Monotonie und Vereinzelung geprägten Lebens.
Hanekes Visionen haben sich, ihrer Formenstrenge und Unterhaltungsverweigerung zum Trotz, als global mehrheitsfähig erwiesen (ein Oscar, zwei Goldene Palmen und zwei Golden Globes zeugen davon). Gegen das Etikett des Pessimisten wehrt er sich energisch, sein Blick auf die Welt sei realistisch, nicht hoffnungslos. Aber Michael Haneke ist ein Regisseur, der lieber schwer Erträgliches ins Auge fasst als leicht Verdauliches - und einer, der es mag, Lücken zu schlagen ins Gefüge der Geschichten, mit denen er sein Publikum konfrontiert. Er gibt den Grundbedürfnissen seiner Zuschauer ungern nach, das macht seine Filme, je nach Blickwinkel, zu quälenden Erfahrungen oder zu intellektuellen Herausforderungen: Das Kino, wie Haneke es sieht, ist keine Wunscherfüllungsanstalt, sondern ein Härtetest.
Ein Dutzend Kinofilme, dazu zehn Fernseharbeiten hat Michael Haneke in den knapp 50 Jahren seiner Regie-Laufbahn in die Welt gesetzt. Konsequent verfolgt er von Anfang an seine Themen. Schon Hanekes allererste Fernseharbeit, "...und was kommt danach?", die er 1974 nach einem Hörspiel des Briten James Saunders entwirft, berichtet von Kommunikationsproblemen und Kontaktlosigkeit. Seine Fernsehfilme erscheinen, bei aller bereits feststellbaren visuellen und sozialen Intelligenz, den Konventionen des Mediums durchaus noch verpflichtet. Hanekes Übergang zum Kino gestaltet sich als radikaler Bruch, als Riss im Beton des Problemfilms. "Der siebente Kontinent" spürt 1989 dem unerklärten Suizid einer Familie nach, den Endlosschleifen des alltäglichen Existierens. Die Idee des Freitods fasziniert Haneke seit je, schon seinen autobiografischen TV-Zweiteiler vom Aufwachsen in kleinstädtischer Depression benennt er 1979 nach jenen, die kollektiv den Sprung in den Untergang praktizieren: "Lemminge".
Die Schauspielerin Isabelle Huppert, die viermal mit Haneke gearbeitet hat, schickt auf profil-Anfrage aus Paris folgenden Geburtstagsgruß: "Die Erfahrung, mit Michael zu arbeiten, war stets hinreißend. Sein Engagement, seine Präzision, seine Vision inspirieren mich. Mit ihm, einer der großen Stimmen des Weltkinos, zu drehen ist ein ebenso starkes Erlebnis wie das Sehen seiner Filme. Und auch wenn man es kaum glauben mag: Er ist außerdem sehr lustig!"
Ein verkappter Humorist ist Haneke definitiv: Seine Adaption der Jelinek'schen "Klavierspielerin" (2001) nannte er "meine kleine Komödie" und "die Parodie eines Melodrams"; im Kern seiner doppelt gedrehten "Funny Games" (einmal deutschsprachig 1997, einmal für den anglophonen Weltmarkt 2007) findet sich eine giftige Demontage des sadistischen Mainstream-Entertainments. In "Happy End", einem Remix seiner vertrauten Motive, machte er sich 2017 schließlich noch über die eigenen Zwangsvorstellungen lustig.
Anruf bei der Cutterin Monika Willi, die seit gut 20 Jahren in Hanekes innerstem Kreis arbeitet und dessen bedeutendste Produktionen (darunter "Die Klavierspielerin", "Das weiße Band" und "Amour") editiert hat; sie werkt gerade in der schottischen Einöde an der Montage eines US-Films, eines mit Cate Blanchett besetzten Dirigentinnendramas. Die Schnittmeisterin kommentiert die anhaltende Kreativpartnerschaft mit Haneke so: "Es gibt einen Konsens in der Beurteilung. Das Vertrauen war schnell da, und dann wird klar, dass man, was Filme angeht, sehr ähnlich empfindet und denkt. Ich bin eine Freundin des Understatements, ich ziehe, genau wie Michael, das Weniger dem Mehr vor, das Subtile dem Dramatischen und das Trockene dem Fetten."
Haneke konzipiert seine Filme erstaunlich weitgehend im Kopf, fixiert sie in Drehbüchern und Storyboards. Seine notorische Präzision und sein Perfektionismus schränken die gestalterischen Spielräume in Produktion und Nachbereitung ein. "Natürlich wird ein Haneke-Film nicht erst im Schneideraum erfunden oder neu geschrieben", sagt Monika Willi. "Aber es geht eben doch darum, aus den vielen Möglichkeiten der verschiedenen Takes einen Film zu gestalten, es geht um das filigrane Zusammenspiel aus Bild-,Sprachund Tonarbeit-und nicht zuletzt darum, die allerbesten Momente des Schauspiels zu finden." Die primäre Freude in der Arbeit mit Haneke sei jedoch schlicht "die Großartigkeit seiner Filme".
Es ist schade, dass Hanekes nächster großer Schritt, wohl auch an den Druckverhältnissen einer pandemischen Kulturlandschaft, möglicherweise bereits endgültig gescheitert ist. Die dystopische zehnteilige Serie, die Haneke noch 2018/19 unter dem Titel "Kelvin's Book" geschrieben, geplant und dem Vernehmen nach zu einem Großteil auch finanziert hat, hätte die Rückkehr dieses Regisseurs zu einem fundamental gewandelten Fernsehen bedeutet. Seine letzte TV-Produktion, eine Adaption von Kafkas Romanfragment "Das Schloss", liegt 25 Jahre zurück.
Die derzeit (und noch bis 2. Mai) laufende Haneke-Werkschau im Filmmuseum bietet Rückblenden in die Karriere dieses eigensinnigen Künstlers, der einen ohne Umweg über die Rührung so heftig zu schütteln und aufzustören versteht.