Filmemacher Nikolaus Geyrhalter über sein neues Werk "Über die Jahre"
profil: Ein ganzes Jahrzehnt lang haben Sie an Ihrem neuen Film gearbeitet, den Sie folgerichtig „Über die Jahre“ nannten. Wie entstand er? Nikolaus Geyrhalter: Wir drehten 2004 drei Wochen lang in einer alten Waldviertler Textilfabrik, ehe sie zugesperrt wurde, danach verfolgten wir die Schicksale jener weiter, die ihre Jobs verloren hatten: jedes Jahr ein paar Drehtage, wie es eben gepasst hat. Wir hielten losen Kontakt zu unseren Protagonisten, klopften regelmäßig bei ihnen an. Manchmal waren sie schwer zu finden.
profil: Aber zehn Jahre Drehzeit waren anfangs nicht geplant, oder? Geyrhalter: Nein, zunächst dachten wir an drei, vier Jahre, aber dann fanden wir es schade, den Sack so schnell wieder zuzumachen. Mit der Dauer wurden auch die Erzählbögen immer größer. Und es war ein Geschenk, wirklich entspannend, einmal einen Film zu machen, der keine These hat, mit dem man nichts beweisen muss, der nur festhalten kann, was passiert. Das ist Dokumentarismus im eigentlichsten Sinne: Man macht die Augen auf, richtet seine Kamera ein und schaut dem Leben dabei zu, wie es sich entwickelt. Wenn ich sieben Menschen dabei beobachte, wie sie jeweils zehn Jahre älter werden, ergibt das zusammen die Spanne eines ganzen Menschenlebens.
profil: Sie konzentrieren sich ganz auf Ihre Protagonisten, führen lange Interviews mit ihnen: „Über die Jahre“ scheint viel „verbaler“ zu sein als Ihre letzten Filme. Geyrhalter: Das liegt auch daran, dass das Konzept mehr als ein Jahrzehnt alt ist: Damals war ich eben noch stärker in diesem dialogischen Arbeiten verwurzelt. Aber ich merke, wie die intensive Auseinandersetzung mit Menschen vor der Kamera für mich immer schwieriger wird.
profil: Warum? Weil es ein emotionaler Aufwand ist? Geyrhalter: Auch. Und ich empfinde es als immer problematischer, mit diesem Verhältnis umzugehen. Nun glaube ich zwar nicht, dass man den Menschen mit der Kamera die Seele raubt, aber eine Frage stellt sich schon: Wer profitiert von einem Film am Ende? Und wie kann man dem Vertrauen gerecht werden, das einem entgegengebracht wird? Einen Film zu machen, ist die eine Sache, aber er entwickelt dann ja ein Eigenleben, auf das ich auch keinen Einfluss mehr habe.
profil: Muss man fürchten, jemanden auszubeuten, den man im Kino darstellt? Geyrhalter: Diese Gefahr liegt nahe, ich muss mich stets fragen: Was kriege ich von meinen Protagonisten? Und was kann ich ihnen zurückgeben?
profil: Sie versuchen, moralisch zu handeln und Ihre Helden gegen Voyeurismus und Ausverkauf zu schützen. Geyrhalter: Ja, aber das ist viel weniger einfach, als es klingt.
profil: Die Eigenbrötler in Ihrem Film regen durchaus zum Lachen an. Geyrhalter: Man darf auch lachen, solange man mit- und nicht auslacht.
profil: Als Fragesteller hinter der Kamera sind Sie bisweilen fast verzweifelt bemüht, Ihre Figuren zum Erzählen zu bewegen. Ging Ihnen das erstmals so? Geyrhalter: Ich stieß hier schon manchmal an Grenzen, die ich bislang nicht kannte.
profil: Wovon handelt „Über die Jahre“? Geyrhalter: Vom Leben.
profil: Das ist zu einfach. Geyrhalter: Nein! Mehr kriegen Sie von mir nicht. Und ich will die Wahrnehmung auch nicht vorab einschränken. Mein Film beobachtet das Leben: Die Arbeitslosigkeit war irgendwann nur noch ein thematischer Vorwand. Es ist, als pflanzte man einen Baum, ohne zu wissen, wohin die Äste wachsen werden. „Über die Jahre“ ist einer der seltenen Fälle, wo man als Filmemacher die Freiheit hatte, diesen Ästen zu folgen – und keine Vorgaben inhaltlicher Art zu beachten hatte.
profil: Sehen Sie Ihre Domäne, den Dokumentarfilm, als fragile Spezies? Geyrhalter: Es wird tendenziell schwieriger. Die Förderpartner und Fernsehstationen haben immer weniger Geld, geben nur noch einen Bruchteil dessen aus, was sie noch vor zehn Jahren zu investieren bereit waren. Und der Quotendruck steigt, auch in den Kultursparten der Sender. Dabei ist die Quote ein viel zu unscharfes Instrument, um Qualität zu messen.
profil: Die Grazer Diagonale zollt Ihrer Arbeit mit einer großen Personale Tribut. Ein seltsames Gefühl, erstmals Bilanz zu ziehen? Geyrhalter: Natürlich. Ich bin da gespalten: Es ehrt mich einerseits, und es macht mir Freude, meine alten Filme dafür digital zu restaurieren. Andererseits scheint immer auch die Aufforderung, in Pension zu gehen, mitzuschwingen. Spaß beiseite: Es kann nur eine Zwischenbilanz sein. Ich nehme das alles nicht besonders ernst. Mir geht es um meine Filme und nicht um mich als Person.
profil: Sie sind nicht eitel genug? Geyrhalter: Ja, und ich definiere mich selbst nicht als Künstler oder als großen Filmemacher. Das mögen andere behaupten, ich nehme das augenzwinkernd zur Kenntnis, aber ich halte mich damit nicht auf.
profil: Sie sehen sich eher als Handwerker? Geyrhalter: Total. Film ist für mich absolutes Handwerk, auch körperlich anstrengend. Ich merke oft, dass Regisseure überfordert sind, weil sie das Gefühl haben, dass am Set dauernd Dinge passieren, die sie nicht unter Kontrolle haben.
profil: Sie fotografieren Ihre Filme selbst. Eine enorme Doppelbelastung, oder? Geyrhalter: Nein, für mich wäre es eine Doppelbelastung, neben den Interviews einem Kameramann erklären zu müssen, wie ich meine Bilder haben will. Ich komme von der Fotografie, die Bildtechnik und -komposition stresst mich nicht.
profil: Seit wann drehen Sie digital? Geyrhalter: Seit 2000. „Elsewhere“ war mein erster nicht-analog gedrehter Film. Aus heutiger Sicht ist das Ergebnis, technisch betrachtet, nicht sehr befriedigend, weil es erst der Anfang hochdefinierter Videotechnologie war. Kurz darauf war das digitale Bild dem analogen schon weit überlegen.
profil: Sie würden nicht mehr auf Film drehen wollen? Geyrhalter: Nein. Weil der Aufwand zu groß war und die Einschränkungen zu massiv. Man musste alle zehn Minuten die Rolle wechseln. Da verpasste man in laufenden Interviews manchmal das gerade Wichtige. Wenn man digital dreht, hat man eine Stunde lang keine Gesprächsunterbrechungen mehr. Das schafft eine ganz andere Konzentration. Und der geringe Kontrastumfang des analogen Filmbilds, das oft große Korn, die Kratzer und Laborfehler: All dem weine ich nicht nach.
Zur Person Nikolaus Geyrhalter, 43, gehört zu Österreichs renommiertesten Dokumentarfilmstilisten. Schon sein Debüt, die Wiener Donau-Studie „Angeschwemmt“, produzierte und fotografierte er 1994 selbst, danach erweiterte er seinen Aktionsradius thematisch, formal und geografisch konsequent – mit „Das Jahr nach Dayton“ (1997), der Tschernobyl-Recherche „Pripyat“ (1999) und dem Weltreisefilm „Elsewhere“ (2001). In der Folge wurde Geyrhalters Kino wortkarger und bildgewaltiger: „Unser täglich Brot“ lotete 2005 die Abgründe der Lebensmittelindustrie aus, „Abendland“ (2011) jene der Festung Europa.
Aus der Zeit Eine große Erzählung von den kleinen Dingen: Nikolaus Geyrhalters und Wolfgang Widerhofers „Über die Jahre“.
2003 fasste Nikolaus Geyrhalter die Idee ins Auge, die letzten Betriebstage einer alten, vor der Schließung stehenden Textilfabrik im Waldviertel zu dokumentieren. 2004 begann er zu drehen, blieb drei Wochen, lernte das – nur noch aus wenigen Menschen bestehende – Personal kennen und beschloss, dessen weitere Lebenswege zu verfolgen. An drei bis vier Jahre dachte Geyrhalter damals, es wurde ein Jahrzehnt daraus: „Über die Jahre“ ist, mit drei Stunden Laufzeit, ein so epischer wie feingliedriger Entwurf über den Fluss der Zeit geworden, über die Unberechenbarkeit des Lebens und das Konzept der Arbeit als Identitätsnachweis und Ersatzhandlung.
Foto: Philipp Horak für profil