Filmfestspiele Venedig 2022: Betrachtungen zu Entertainment und Faschismus
Harry Styles ist in der Stadt! Einzig denkbare Reaktion (aus Sicht seiner Fans): Verzückung! Hysterie! Alle anderen reagieren eher ratlos: Wer ist der von kreischenden Menschen belagerte junge Hipster mit den Arm-Tattoos und der Sonnenbrille? Die ersten Paparazzi-Fotos, die den Pop-Superstar noch an Bord eines Wassertaxis und während seiner Ankunft am Lido zeigen, gingen bereits Minuten nach ihrer Herstellung um die Welt. Als Styles dann am Montagabend gegen 19 Uhr, an der Seite seiner aktuellen Partnerin, der US-Schauspielerin und Regisseurin Olivia Wilde („Booksmart“), kurz vor der Weltpremiere ihres gemeinsamen Films („Don’t Worry Darling“) über den roten Teppich tänzelte, stand fest: Mehr Glamour werden die 79. Filmfestspiele in Venedig wohl nicht mehr mobilisieren können.
Das englische Jugendidol gibt in Wildes giftbuntem neuen Film einen jungen Ingenieur, der mit seinen Kollegen in einer an Jim Carreys „Truman Show“ erinnernden Mustersiedlung am Rande der kalifornischen Wüste irgendwann in den 1950er-Jahren an einem streng geheimen wissenschaftlichen Projekt arbeitet. Die Frauen organisieren Haushalt und Kinder, winken jeden Morgen treuherzig den Limousinen ihrer Karriere-Mad-Men nach und erfreuen sich ihres sorgenfreien Lebens und einer konstanten Alkoholzufuhr. Bis einige von ihnen die Scheinidylle zu hinterfragen beginnen. An diesem Punkt setzen Paranoia und Horror ein, denn die Welt, die sie bewohnen, scheint brüchig.
„Don’t Worry Darling“, das klingt ein bisschen wie „What’s Up, Doc“ (1972), jedenfalls mindestens so nostalgisch-komödiantisch, wie das erste Drittel dieses Films sich auch gibt, um anschließend recht übergangslos in Beklemmung und Psychothrill zu kippen. Das ist alles lustig anzusehen, wird von Florence Pugh als Heldin sympathisch vorangetrieben, und die Inszenierung teilt hübsche Seitenhiebe auf Metaverse und Unterhaltungsindustrie aus, verlässt sich aber dann doch zu stark auf alle naheliegenden Pop-Dystopien aus Kino, Funk und Fernsehen.
Filmfestivals sind schizophrene Gebilde: Sie naschen gern vom Baum des Massen-Entertainment, um jedoch ihr Gesicht zu wahren, müssen sie aus Balancegründen auf der anderen Seite auch ein paar extraherbe Reality-Checks anbieten. Auf der politisch akuten Seite des Spektrums findet sich heuer etwa das neue Werk des ukrainischen Filmemacher Sergei Loznitsa, der seine jüngste Archivarbeit „The Kiev Trial“ auch als Kommentar zu dem bald 200 Tage tobenden Angriffskrieg der Russen auf seine Heimat versteht (ein Interview mit ihm werden Sie demnächst in unserer Printausgabe lesen können). In „The Kiev Trial“ widmet er sich einem der NS-Kriegsverbrecherprozesse, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in vielen sowjetischen Städten organisiert wurden. Das in Moskauer und Kiewer Archiven erst kürzlich gefundene Filmmaterial, das den im Jänner 1946 abgehaltenen Schauprozess in Kiew gegen ein gutes Dutzend mittel- und hochrangiger, an den Massakern an der Zivilbevölkerung beteiligter Nazis dokumentiert (die Täter erklären ihre Gräueltaten, die Überlebenden berichten von den durchlebten Schrecken), wurde von Loznitsa nur sanft gekürzt und – vor allem akustisch immersiv – bearbeitet.
Es ist ein Mahnmal gegen den sich wiederholenden Horror eines Angriffskrieges zur Expansion des eigenen „Lebensraums“ durch Auslöschung eines Volkes, wie das auch einer der Nazis in „The Kiev Trial“ nennt. Loznitsas Film ist ein sprödes, betont neutral präsentiertes, aber inhaltlich monströses Objet trouvé, das als Echokammer der gegenwärtigen Ereignisse zu lesen ist, als Reflexion des Systems der Todesstrafe oder auch als Vorführung eines propagandistischen Apparats in Aktion. Solchen Filmen Denk- und Debattenraum zu geben, auch dazu sind Filmfestspiele da.