Filmfestspiele in Venedig: Lob der Anomalie
Am siebten Tag sollst du ruhen, heißt es in den Dekreten des Alten Testaments; für die bislang eher enttäuschend verlaufenen Filmfestspiele in Venedig gilt das offenbar auch: Nach sechs Tagen mühevoller Sichtungsarbeit an fast durchwegs missratenen Wettbewerbsbeiträgen verschaffte erst Spieltag Nummer sieben das sichere Gefühl der Regeneration angesichts einer rundum virtuos gedachten und gestalteten Arbeit. Charlie Kaufman, 56, Autor postmodernistischer Grotesken wie „Being John Malkovich“ (1999) und „Vergiss mein nicht! (2004), zudem langjähriger kreativer Partner der Regisseure Spike Jonze und Michel Gondry, hat mit „Anomalisa“ (gemeinsam mit dem Trickfilmer Duke Johnson) nun seine zweite eigene Kinoinszenierung (nach „Synecdoche, New York“, 2008) vorgelegt: eine Stop-Motion-Animation, in der Menschenminiaturen eine seltsam wiedererkennbare Welt bewohnen. Ein auf Unternehmenseffizienz spezialisierter Sachbuchautor (Stimme: David Thewlis) reist für einen Vortrag nach Cincinnati, checkt in ein anonymes Businesshotel ein, wo er sich seiner wachsenden Depression überlässt. Er nimmt Kontakt zu einer verflossenen Geliebten auf, der Abend endet im Desaster; erst die Zufallsbekanntschaft mit einer scheuen jungen Frau namens Lisa (gesprochen von Jennifer Jason Leigh) gibt ihm kurzfristig so etwas wie Aussicht auf Lebensglück zurück.
Albtraumhafte Situationen
Das Doppelbödige der Selbstreflexion gehört den Prinzipien der Arbeit Kaufmans: So verfügen die Figuren, denen er im Einzelbildverfahren Leben einhaucht, zwar über ausgesprochen menschliche Qualitäten, aber rätselhafterweise auch über ein maschinelles Innenleben – ihre Gesichter sind aus Modulen gebaut, die im Ernstfall auch kurz auseinanderfallen oder andere Dysfunktionen entwickeln können. Und so ultrarealistisch die Szenenbilder aussehen, so albtraumhaft sind die Situationen, in die der Antiheld gerät – und die Menschen, die ihn umgeben: Überall starren ihn dieselben Gesichter an, überall wird er in denselben Smalltalk verwickelt, und die gesamte (auch weibliche) Menschheit klingt männlich sonor (Tom Noonan). Nur er und Lisa fallen aus dem Rahmen dieser gespenstisch vereinheitlichten Welt: seine „Anomalisa“ sogar mit bezaubernd weiblicher Stimme. Aber das gemeinsame Glück ist fragil. Subtil analysiert Kaufman nicht nur Alltagsroutinen und Beziehungskonflikte, sondern auch die dramaturgische Feinmotorik des Science-Fiction- und Liebesproblemkinos, konstruiert mit scheinbar ganz simplen Mitteln einen hochkomplexen Puppentrickfilm über Sex, Einsamkeit und psychische Störungen.