Ludvig ist charismatisch, aber auf fast unerträgliche Weise selbstbezogen. Es ist schwer, ihn zu mögen. Sind solche Figuren besonders interessant darzustellen?
Mikkelsen
Schon. Mein diesbezügliches Erweckungserlebnis war der junge Robert De Niro in „Taxi Driver“. Das ist mein Lieblingsfilm, aus genau diesem Grund. Ich sah „Taxi Driver“ als Teenager, und ich weiß noch, dass ich dachte: Ich mag diesen Typen nicht, ah doch, jetzt mag ich ihn – nein, doch nicht. Es war diese Achterbahnfahrt. Ich kannte diese Art von Film nicht. Entweder waren die Protagonisten sympathisch, oder man hasste sie.
Die hohe Ambivalenz einer Filmfigur aktiviert das Publikum: Es muss selbst mitarbeiten, zu Haltungen kommen. Zielen Sie auf solche Prozesse?
Mikkelsen
Immer. Auch wenn ich sogenannte bad guys spiele. Auch Schurkenfiguren sind leiden-schaftlich, etwas treibt sie an, nicht nur „das Böse“ schlechthin, sondern auch eine Vision, eine Hoffnung. Simon Bennebjerg, der in „King’s Land“ meinen Kontrahenten spielt, macht das meisterlich. Er begeht grauenhafte Taten, aber wir sehen in ihm immer auch den Buben, der einst jedes Spielzeug hatte und von niemandem, der mit ihm spielte, gemocht wurde. Das ist auch herzzerreißend.
Wie nähern Sie sich historischen Stoffen dieser Art? Recherchieren Sie?
Mikkelsen
Manchmal mach ich das, hier weniger. Wäre es beispielsweise entscheidend darum gegangen, wie genau man Kartoffeln aussät und erntet, hätte ich mir das genauer angesehen. Wenn ich in einem Film einen Friseur spiele und in 80 Prozent der Szenen meinem Beruf nachzugehen hätte, müsste ich das Handwerk präzise lernen. In „King’s Land“ war so etwas nicht nötig. Die dänische Historie kenne ich genau, weil ich ein Geschichtsfreak bin. Mein Forschungsgebiet ist eher das Drehbuch selbst; man muss dessen Vorgaben immer im Blick behalten, sich jeden Tag fragen, was man davon hingekriegt hat und was man ändern muss.
Robert Mitchum hat sich oft lustig gemacht über die Hybris der Schauspielzunft. Man müsse doch einfach nur am Set auftauchen und seine Dialoge aufsagen.
Mikkelsen
Das kann man so sehen. Was das Klischee des Method Acting betrifft, stimme ich ihm absolut zu. Der Begriff wird enorm missverstanden. Method Acting ist eine sehr, sehr langweilige Technik, die an einer New Yorker Schauspielschule ersonnen wurde: Man ruft sich eine bestimmte Erinnerung zurück ins Gedächtnis, indem man sie an eine physische Aktion knüpft. Jedes Mal, wenn ich diese Kaffeetasse zu meinem Mund hebe, erinnere ich mich an eine bestimmte Sache. Wie öde! Und alle glauben immer, Method Acting sei ein superriskantes Spiel mit dem eigenen Körper: 30 Kilo zunehmen, um näher an einer Figur sein, das hat nichts mit Method Acting zu tun. Als Schauspieler drei Jahre lang auf einem Berg zu leben und deine Kinder dazu zu bringen, dich mit deinem Rollennamen anzusprechen, das ist einfach nur gestört!
Sie arbeiten viel mit Ihrem Charisma, strahlen meist Ruhe aus, wenn in Ihnen auch meist etwas Finsteres zu schwelen scheint, agieren so gut wie nie übertrieben. Weniger ist mehr?
Mikkelsen
Manchmal. Ich habe einige dunkle Komödien gemacht, besonders jene mit Anders Thomas Jensen, deren Charaktere nicht einfach nur völlig übertrieben, sondern dem absoluten Irrsinn verpflichtet sind. Understatement ist also nicht immer die beste Wahl. Wichtig ist, dass man nicht ins Chargieren verfällt. Man kann eine hintergründig geschriebene Nebenfigur spielen und dabei unfassbar schmieren. Overacting bedeutet ja letztlich nur, dass man eine Rolle nicht zu fassen gekriegt hat. Ich habe Schauspieler gesehen, die alle Register zogen, unglaublich aufdrehten, und ich glaubte ihnen alles. Das ist nicht Overacting. Wenn man eine Figur hinkriegt, auf welche Weise auch immer, ist es einfach gutes Schauspiel.
Bestehen in gerade dieser Hinsicht nicht enorme Unterschiede zwischen Theater- und Filmschauspiel? Vor der Kamera, die jede Regung in Ihrem Gesicht seismografisch festhält, kann man doch gar nicht so aufdrehen.
Mikkelsen
Man kann alles, was man im Kino leisten kann, auch am Theater hinkriegen. Natürlich wird man auf der Bühne keine Großaufnahme kriegen oder flüstern können, aber man kann sich das Publikum ebenso nah heranholen wie im Kino. Man muss ihm nicht entgegenkommen. Andererseits bin ich kein Spezialist mehr für Theater, das habe vor 20 Jahren ad acta gelegt, insofern sollte ich vielleicht eher den Mund halten.
Einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen sehen Stress und Bühnenangst als Motoren, ohne die man niemals wirklich großartig performen könne.
Mikkelsen
Ja? Klingt nicht besonders gesund.
Sie haben nie Angst?
Mikkelsen
Doch, manchmal macht mich etwas nervös oder unsicher, aber das ist kein Zustand, den ich suche, um gut zu sein. Je wohler du dich fühlst, je wohler sich auch die Leute fühlen, mit denen du spielst, desto mehr werden wir einander vertrauen und zusammen erreichen können. Wenn man da mit seiner kleinen Neurose sitzt und nur in Ruhe gelassen werden will, wird man nie etwas gemeinsam hinkriegen. Aber in einem haben Sie recht: In meinem Business blühen eine Menge Neurosen.
Sie haben an der Ballettakademie in Göteborg Tanz studiert, traten jahrelang in Musicals und Choreografien auf, ehe Sie Schauspieler wurden. War das eine gute Grundlage und Vorbereitung für die Dinge, die Sie heute tun?
Mikkelsen
Vermutlich ja. Aber ich habe kein Leben, in dem ich es anders versucht hätte. Ich war ja auch Leichtathlet, das hilft mir noch heute bei bestimmten Stunts. Ich nähere mich dem Schauspielen nicht über den Tanz. Oft empfand ich Choreografien bloß als Ästhetik, aber wenn es dramatisch wurde, liebte ich es. Und irgendwann fragte ich mich eben, warum ich nicht gleich Drama machte. So wurde ich Schauspieler.
Abgesehen von dem Finale in Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ (2020) gibt es kaum Tanzszenen in Ihren Filmen.
Mikkelsen
Jedes einzelne der Filmprojekte, die man mir seither vorgeschlagen hat, sah eine zentrale Tanzszene vor. Darin steckt eine derart irrwitzige Fantasielosigkeit, dass es mir den Atem verschlägt. Ich tanze gerne in jedem Film, in dem dies wenigstens ein bisschen Sinn ergibt. Aber nur zum Spaß? Sicher nicht. Ich brauche gute Gründe, um im Kino bestimmte Dinge zu machen.
Ihre Tanzszene in „Der Rausch“ ist doch großartig.
Mikkelsen
Dafür gab es ebenfalls keinen Grund. Ich hatte stark dafür plädiert, diese Szene ersatzlos zu streichen.
Wirklich?
Mikkelsen
Ja! Ich hasste diese Szene. Und ich irrte mich! Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie in einen realistischen Film passen sollte. Thomas erklärte mir erfolglos zahllose Male, warum die Szene wichtig sei. Am Ende meinte er nur: „Halt’s Maul und vertrau mir!“ Also drehten wir sie.
Sie haben zwei lange Serien gemacht: die Krimireihe „Unit One“ (2000–2004) und „Hannibal“ (2013–2015), in der sie den kannibalischen Titelhelden spielten. Mögen Sie das: über Jahre blockiert zu sein für alle anderen Arbeiten?
Mikkelsen
Man gibt einen Teil seiner kreativen Freiheit auf, das ist wahr. Zugleich weiß man aber auch, dass man jahrelang einen spannenden Job haben wird. Zu „Unit One“ kam ich nach meinen frühen Filmen, die echt Rock’n’Roll waren, die wir sorglos improvisierten. Und plötzlich steckte ich in diesem Serienkorsett. Das war zunächst frustrierend, aber irgendwann lernte ich diese Bedingungen zu akzeptieren und zu lieben. „Hannibal“ dagegen war radikaler als alle Filme, die ich bis dahin gedreht hatte. Da vermisste ich es nur, zu Hause zu sein.
Sie leben in Dänemark und auf Mallorca. Können Sie noch durch Kopenhagen laufen, ohne belästigt zu werden?
Mikkelsen
Nicht wirklich. Aber es gibt diese neue Generation, die gar nichts im Kino gesehen hat. Ich muss also nur warten, bis diese Leute erwachsen ist. Im Ernst: Ich habe beschlossen, dies nicht als Problem zu behandeln. Ich kann eh nichts dran ändern, schlechte Laune wäre auch nicht hilfreich. Und ich habe ein sehr spezielles Kurzzeitgedächtnis: Ich verlasse mein Haus und vergesse meine Bekanntheit – bis mich irgendjemand anspricht. Insofern kann mich Paranoia nie ereilen, denn ich gehe einfach meinen Besorgungen nach. Bis jemand ein Foto mit mir machen will. Da erst erinnere ich mich, dass ich ja dieser Schauspieler bin, den alle kennen.
Zwischen Ihren Engagements in europäischen Autorenfilmen treten Sie gern in weltberühmten Kinoserien auf.
Mikkelsen
Vor drei Jahren rechnete mir ein Freund vor, wie irre es sei, dass ich als Däne in all diesen ikonischen Serien, in einem James-Bond-Film, in Marvel-Produktionen und sogar in einem „Star Wars“-Spin-off gespielt habe, anders als jeder US-Schauspieler. Er meinte, da fehle echt nur noch „Indiana Jones“. Eine Woche später rief man mich an, ob ich in „Das Rad des Schicksals“ mitwirken wollte.
Sind solche Mega-Produktionen für einen Charakterdarsteller nicht auch ein bisschen langweilig?
Mikkelsen
Gar nicht! Es ist dieselbe Arbeit, nur richtet man sein „Guten Morgen“ dort an 500 und nicht nur an zehn Menschen. Klar, es gibt an solchen Sets keine intimen Momente, aber man kann dort genauso über Szenen und Figuren diskutieren. Alles gut. Nur der Prozess ist ein bisschen anders. Aber wenn man fünf karge Arthouse-Dramen hintereinander gedreht hat, ist es doch großartig, mit einem Schwert in der Hand durch die Luft zu fliegen. Danach freut man sich umso mehr auf das nächste Kunstprojekt. Als ich ein Kind war, habe ich solche Fantasy-Filme geliebt. Mit Ende 50 kann ich nun endlich selbst in ihnen auftreten.