Flake von Rammstein: „Frauen müssten das doppelte Gehalt bekommen“
„Tagchen“, sagt Christian Lorenz fröhlich am Telefon und bittet, in ein paar Minuten noch einmal anzurufen – er brauche noch kurz. Als Starallüre kann man ihm die Zeitverzögerung allerdings nicht auslegen, im Gespräch mit Flake, wie sich der 55-Jährige als Künstler nennt, vergisst man schnell, dass er seit über einem Vierteljahrhundert bei einer der erfolgreichsten Rockbands der Gegenwart Keyboard spielt. Ihre letzte Tournee führte Rammstein 2019 quer durch Europas Fußballstadien, 2022 wird die Berliner Band wieder in Nordamerika und Europa spielen – darunter zwei Mal im ausverkauften Klagenfurter Wörthersee Stadion. Der Anlass für das Gespräch ist vergleichsweise leise: Flake wollte eigentlich mit seiner Biografie „Heute hat die Welt Geburtstag“ auf Lesetour durch Österreich gehen. Ein Virus kam dazwischen. Mittlerweile sind die vier Termine auf Herbst 2022 verschoben. Nach seinen DDR-Erinnerungen („Der Tastenficker“, 2015) erzählt Flake in seinem zweiten Buch nicht nur von den schwierigen Anfangstagen einer oft missverstandenen Ossi-Band, sondern beschäftigt sich mit durchaus existenziellen Fragen, schreibt über Alkoholprobleme, Mobbing in der Schule und sein Leben mit dem Stottern.
Flake: Es wäre unglaubwürdig, wenn wir auf Teufel komm raus an diesem bösen Image festhalten würden. Heute sind wir alte Männer, haben Familie, tragen Verantwortung. Wenn man als Rockband unauthentisch wird, dann sollte man lieber aufhören – dann ist es egal, ob man gut spielen kann oder gut aussieht. Unsere Fans mögen uns, weil wir ihnen nichts vormachen.
Flake: Privat war die Pandemie für mich eine wunderschöne Zeit. Ich konnte Zeit mit den Kindern verbringen, die mir sonst nicht vergönnt gewesen wäre. Ob wir mit Rammstein dieses Jahr spielen oder nächstes, macht für die Welt keinen Unterschied. Außerdem habe ich festgestellt, dass das Corona-Leben meinem normalen Leben ziemlich ähnelt. Die nächtliche Ausgangssperre habe ich gar nicht mitbekommen, da ich sowieso um neun Uhr ins Bett gehe. Als alter Mann sieht man mich auch nicht in Clubs, da würde ich mich nur lächerlich machen.
Flake: Ich habe nur Angst vor Dingen, die ich nicht einschätzen kann. Ein Virus, das kriege ich oder kriege ich nicht – und ich weiß, dass ich mich davor schützen kann. Eine reale Konfrontation mit einem Problem ist das beste Mittel gegen Angst. Wenn man Flugangst hat, ist das beste Mittel, dass man einfach fliegt.
Flake: Ich habe mich sehr brav an die Regeln gehalten und finde, dass unsere Regierung die Krisensituation gut gemeistert hat. Ich habe in all meiner Rebellion kein Problem damit, mich einer Instanz unterzuordnen. Wenn jemand klüger ist als ich, dann wäre es dumm, wenn ich das Gegenteil mache.
„Wir geben Kindern die Musik, mit der sie ihre Eltern ärgern und sich abnabeln können.“
Flake: Richtig hart war es für unsere Mitarbeiter, die keine Verdienstmöglichkeit hatten. Als Band haben wir sie im ersten Jahr finanziell unterstützt. Bis wir wieder live spielen können, gibt es die Möglichkeit, sich umzuorientieren. Die Pandemie zwingt uns, Situationen, die man nicht ändern kann, einfach auch hinzunehmen. Ich sehe das sehr pragmatisch.
Flake: Im Gegenteil. Mir ist bewusst geworden, wie belanglos meine Bücher und meine Aussagen sind. Es gibt wirklich wichtigere Dinge, als mit einer Lesung mein Ego zu befriedigen. Meine Motivation sind die Menschen, die mal wieder etwas Normales erleben möchten und sich an Banalitäten erfreuen wollen.
Flake wuchs im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg auf, absolvierte eine Lehre als Werkzeugmacher und stieß 1983 zur legendären Ost-Punk-Band „Feeling B“. Bei Rammstein nimmt Flake eine Ausnahmestellung ein. Ein großer Anteil der satirischen Elemente der imposanten Bühnenshow stellt ihn ins Zentrum. So wird er von Sänger Till Lindemann beim Song „Mein Teil“ in einem überdimensionalen Kochtopf gegrillt; bei „Ich tu dir weh“ badet er im offenen Feuer. Während der Konzerte legt er zudem etliche Kilometer zurück: Die meiste Zeit über bedient Flake sein Keyboard von einem Laufband aus; seine Tanzeinlagen sind unter Fans legendär. Mit seinen Aktionen bricht er mit der vordergründigen Schwere der Band.
Flake: Ja, ich selbst hatte Bedenken. Im Stadion spielen nur Bands, die ihren Zenit bereits überschritten haben. Eine junge Punkband sieht man nie im Stadion, auch die White Stripes, Sex Pistols oder Dead Kennedys haben nicht dort gespielt. Im Stadion spielen Künstler wie Phil Collins oder Bruce Springsteen – und diese Rentnerbands kurz vor Feierabend. Man sucht sich das aber nicht aus, es ist eher eine logische Entwicklung.
Flake: Auf jeden Fall. Früher haben wir gedacht: Politiker machen Politik, und Rockbands machen Rockmusik – und jeder weiß, welche Haltung wir vertreten. Das war aber nur selten der Fall. Heute wissen wir, dass man seine Standpunkte ruhig klar darlegen kann. Die Idee mit der Regenbogenfahne war eine spontane Solidaritätsaktion bei einem Konzert in Polen, als wir mitbekommen haben, wie dort gegen die queere Bewegung vorgegangen wird. In Russland, wo Homophobie noch viel stärker verbreitet ist, haben wir das weitergeführt.
Das Wechselspiel aus Tabubruch und ungeteilter Aufmerksamkeit hat bei der 1994 in Berlin gegründeten, noch immer in Originalbesetzung existierenden Band Tradition. 2009 wurde das Studioalbum „Liebe ist für alle da“ in Deutschland indiziert. Später wurde die Indizierung wieder gerichtlich aufgehoben. International war der Erfolg indes reibungsloser: Der US-amerikanische Regisseur David Lynch untermalte seinen Film „Lost Highway“ bereits im Jahr 1997 mit Songs der Band; den prestigeträchtigen New Yorker Madison Square Garden verkaufte man 2010 in etwa 20 Minuten aus. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat das Phänomen Rammstein einmal so erklärt: „So wie Charlie Chaplin in ‚Der große Diktator‘ Hitler zwischen Gebrabbel nur ‚Apfelstrudel‘ und ‚Wiener Schnitzel‘ sagen lässt, so sabotiert Rammstein auf obszöne Weise die faschistische Utopie.“
Flake: Das ist eine große Ungerechtigkeit. Selbst wenn sich was geändert hat, ist der Anteil weiblicher Bands und Künstlerinnen immer noch viel zu niedrig – auch der Anteil der Frauen in Plattenfirmen und Chefetagen. Eigentlich müssten ein paar Männer Platz machen, damit ein paar Frauenbands auf die Bühne könnten. Grundsätzlich müssten Frauen das doppelte Gehalt bekommen, um die ganze Ungerechtigkeit auszugleichen.
Flake: Zu unseren Anfängen hatten wir das große Glück, dass die Musikmanagerin Petra Husemann die Chefin von Motor Music war. Sie hat uns eine Chance und einen Plattenvertrag gegeben. Heute kann ich sagen: Rammstein ist von einer Frau auserwählt worden. Bei uns arbeiten Frauen in der Pyrotechnik, und es gibt Truckerinnen, die für uns tätig sind. Eigentlich muss man das überhaupt nicht erwähnen. Aber natürlich halten wir der Gesellschaft einen Spiegel vor und versuchen, auf den wunden Punkt zu tippen.
Flake: Wir haben mit Rammstein ein neues Album aufgenommen, das vereinnahmt mich emotional zu 100 Prozent. Parallel dazu kann ich nicht an einem Buch schreiben. Zu einer neuen Rammstein-Platte gehört mehr, als in den Proberaum zu gehen. Im Prinzip bin ich 24 Stunden am Tag damit beschäftigt. Oft liege ich nachts im Bett, und dann fällt mir eine Zeile ein, die ich noch gerne ändern würde. Ein Seuchen-Album ist es aber nicht geworden.
Über das Phänomen Rammstein kursiert ein geflügeltes Wort: Für die deutsche Sprache habe die Band in den vergangenen 27 Jahren mehr getan als das Goethe-Institut seit seiner Gründung. Ob in Südamerika, den USA, Australien oder Frankreich – überall singen die Menschen die Texte nahezu fehlerfrei mit.
Flake: Dieses blöde Thema. Ich würde gerne Romane schreiben, aber immer, wenn ich anfange, merke ich, wie schwierig das ist. Bei meinen Romanversuchen denke ich: Das gibt es in anderen Büchern hundertmal besser. Eine Biografie hinschmieren kann jeder Idiot, richtige Schriftstellerei ist etwas anderes.
Flake: Nein, ich hasse Ratschläge und Besserwisserei. Alle wichtigen Sachen im Leben muss man selbst durchleben, man muss sich zehn Mal verlaufen, um ans Ziel zu kommen. Nur so kann man dieses Glücksgefühl erfahren, wenn man dann angekommen ist. In einer Beziehung ist das nicht anders. Es gibt Dinge auf der Welt, die kann einem niemand abnehmen.
Flake: Nein, eigentlich nicht. Früher wurden wir von den Medien gemieden, wurden nicht mal erwähnt. Auf sein Vermächtnis hat man keinen Einfluss.
Flake: An sich ist die Provokation ja nichts Schlimmes. Wir geben Kindern die Musik, mit der sie ihre Eltern ärgern und sich abnabeln können. Rammstein ist für viele Menschen das, was in meiner Jugend die Rolling Stones oder Sex Pistols waren. Auch „Sexy MF“ von Prince ist Provokation.
Flake: Techno zum Beispiel. Auch Miley Cyrus ist nur schwer zu hören, oder der Rapper Pitbull. Diese hochgepitchten Stimmen und Autotune-Experimente machen mich fertig.
Hinter der Geschichte
Philip Dulle (li. beim Telefoninterview mit Flake) hörte von Rammstein zum ersten Mal als Elfjähriger Mitte der 1990er-Jahre von Freunden in Kärnten. Das auf Audiokassette überspielte Debüt „Herzeleid“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer, Gerüchte über Konzerte mit Flammenwerfern machten die Runde – die perfekte Musik, um seine Eltern zu erschrecken.
Stephan Graschitz (re.) verfolgt die Band seit 2001 und dem Hit „Sonne“. Seither ist die Band sein täglicher Begleiter. In Klagenfurt wird er zweimal dabei sein.
Flake liest aus seinem Buch – im nächsten Jahr:
28.11. – Wien, Globe
30.11. – Graz, Orpheum
2.12. – Innsbruck, Musichall
4.12. – Linz, Posthof