Flaschenpost an die Nachwelt: Rainer Werner Fassbinders epochales Werk, neu betrachtet
Eigentlich hatte er dieses Buch bereits in den 1980er-Jahren schreiben wollen. Doch der britische Musikjournalist Ian Penman, geboren 1959, war immer wieder daran gescheitert, das Werk des deutschen Regie-Titans Rainer Werner Fassbinder auf den Punkt zu bringen. Tatsächlich ist dessen kreative Eruption schwer zu fassen. Denn der Regie-Berserker, der in nur 13 Jahren fieberhafter Arbeit, zwischen 1969 und 1982, über 40 Spielfilme realisierte (und dabei ist beispielsweise die fast 16-stündige Serie „Berlin Alexanderplatz“ von 1980 nur als ein einziger Film gezählt), schrieb Drehbücher und Theaterstücke, inszenierte, schnitt, produzierte und komponierte. Beihilfe zur Selbstzerstörung leisteten Alkohol sowie all die aufputschenden und sedierenden Drogen, die Fassbinder für seinen Schaffensrausch nutzte; zehn Tage nach seinem 37. Geburtstag kam sein Herz zum Stillstand, in seiner Münchner Wohnung, wo der Mann wie stets schon an seinem nächsten und übernächsten Projekt arbeitete.
Als Spiegelkabinett betrachtet Penman, der sein Buch „Thousands of Mirrors“ genannt hat, Fassbinders filmisches Werk – in doppelter Hinsicht: Nicht nur sind die Inszenierungen des Regisseurs, die meist im Studio und in Innenräumen entstanden, voller Spiegelungen, wie in den US-Kino-Melodramen des von Fassbinder verehrten Douglas Sirk, auch das Erzählte selbst ist in der Regel vielfach gebrochen und hochreflektierend, individuelle Geschichten mit politischen Subtexten verklammernd – von den deutschen Nachkriegsjahren und dem zuverlässig nachwirkenden Faschismus bis in den deutschen Terror-Herbst 1977, dessen moralische und gesellschaftliche Erschütterungen Fassbinder mehrfach verarbeitete. Penman legt sein Buch radikal persönlich und als Splitterwerk an: In 450 Kurzbeiträgen, die freilich oft ineinander übergehen, einander fortschreiben, theoretisiert er Fassbinders Filme und deren Wirkungen, insbesondere auf ihn selbst. Und er geht dabei die Arbeiten nicht eine nach der anderen durch, sondern spürt deren geradezu prophetischen soziopolitischen Botschaften nach. Fassbinders Kino als Flaschenpost an die Nachwelt.
Im Suhrkamp-Verlag ist „Tausende von Spiegeln“, Penmans kaleidoskopische Annäherung an Fassbinder, nun ein Jahr nach der englischen Erstausgabe auch auf Deutsch erschienen, glänzend übersetzt von Robin Detje. Vor einer Woche erst erhielt Penman für seine Fassbinder-Studie den Ondaatje-Preis der ehrwürdigen Londoner Royal Society of Literature. Sein immens lesenswertes, auch stilistisch verführerisches Buch ringt einem eigentlich längst umfassend ausgeloteten Thema ganz ungewöhnliche neue Perspektiven ab.