Bereits vor der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2022 hat sich der Blick auf Ernaux, inzwischen 83, radikal verändert. Ihr autofiktionales Schreiben, das stets auch die sozialen Klassenunterschiede im Visier hat, prägte Generationen von jüngeren Autoren – vom Soziologen Didier Eribon bis zu Édouard Louis. Auch sie legen gern die Sozialbrille an, um zu zeigen, dass sich in persönlichen Erfahrungen stets auch gesellschaftliche Verwerfungen spiegeln. Wir sind Produkte unserer jeweiligen Klasse und der oft verlogenen Werte unserer Epoche. Der nüchtern-beschreibende und hochpräzise Tonfall, den Ernaux in die Literaturwelt gebracht hat, passt perfekt, um „feine Unterschiede“ aufzudecken, die nach Pierre Bourdieu unser Leben bestimmen, weil sie als „natürlich“ wahrgenommen werden – und dadurch unsichtbar bleiben.
Die Scham des Arbeiterkinds
Klassenprivilegien sind in der Literatur seit ein paar Jahren zum prägenden Thema geworden – und zwar weit über Frankreich hinaus. Die Autorin Daniela Dröscher etwa untersuchte in ihrem Roman „Lügen über meine Mutter“ (2022), wie der soziale Aufstieg, den ihr Vater hinlegen wollte, das Übergewicht ihrer Mutter zur täglichen Qual in der Beziehung machte. Auch Deniz Ohde bewies in ihrem sprachlichen Meisterwerk „Streulicht“ (2020), dass sie Ernaux gelesen und verstanden hat: Es geht um die Scham, als Arbeiterkind aufzusteigen und sich so von seiner Herkunftsklasse zu entfremden. Aber auch darum, wie man der verordneten Sprachlosigkeit entkommen kann. Ohne Ernaux und Eribon, der sich dezidiert auf seine ältere Kollegin bezieht, gäbe es weite Teile der spannenden zeitgenössischen Literatur nicht. Selbst wenn der Trend, seine Außenseiter-Familiengeschichte ins Zentrum des Schreibens zu rücken, mittlerweile etwas ausufert.
Unter dem neutralen Titel „Eine Leidenschaft“ ist der Ernaux-Roman von 1991 in neuer Übersetzung von Sonja Finck nun abermals erschienen. Suhrkamp setzt auf ein dezentes Cover mit einem Foto der Autorin. Aber was wird in dem dünnen Buch verhandelt? Es beginnt vielversprechend: Die Icherzählerin bekennt, zum ersten Mal in ihrem Leben einen Pornofilm im Fernsehen gesehen zu haben. „Es folgte eine Großaufnahme, das Geschlecht der Frau erschien auf dem Bildschirm, deutlich sichtbar im Flimmern, dann das Geschlecht des Mannes, sein erigierter Penis, der in die Scheide der Frau glitt. Sehr lange wurde das Rein und Raus aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Der Schwanz kam wieder ins Bild, in der Hand des Mannes, und Sperma ergoss sich der Frau auf den Bauch.“ Man gewöhne sich an diesen Anblick, notiert die Autorin lapidar, aber das erste Mal sei verstörend für sie gewesen. Ihr gehe es beim Schreiben um jenen Effekt, den die Szene eines Geschlechtsakts hervorrufe: „Beklemmung und Fassungslosigkeit, ein Aussetzen des moralischen Urteils.“
Was dann folgt, klingt allerdings erstaunlich konventionell. Wir erleben eine Frau, die sich schön macht für einen verheirateten Mann, der sich meldet, wenn er Lust auf Sex hat. Die Icherzählerin ist unschwer als das Alter ego der Autorin zu erkennen, sie ist geschieden, hat zwei erwachsene Söhne. Sie muss um die 40 sein, die Geschichte spielt Ende der 1980er-Jahre, der Fall der Berliner Mauer wird erwähnt, aber nur als Beispiel dafür, wie wenig sie während dieser Affäre, die rund ein Jahr dauert, von Politik mitbekommt. Über den Mann erfährt man wenig, er sei „ein Ausländer“, der aus Osteuropa stamme. Und sehe ein wenig aus wie der Schauspieler Alain Delon.
Ernaux, die berühmt dafür ist, mit spitzem Operationsbesteck zu analysieren, hat diesmal erstaunlich stumpfe Instrumente. Sie verlässt das Haus so wenig wie möglich, um keinen Anruf zu verpassen: der Fluch des Festnetzes. Sogar die Benutzung des Föhns oder Staubsaugers vermeidet sie, um ja kein Klingeln zu überhören. Sie kauft Nylonstrümpfe, Ohrringe und Kleider, um ihm zu gefallen, obwohl es ohnehin schnell zum Sex kommt. Im Gespräch mit Freundinnen versucht sie, ihre „Obsession“ zu verschleiern, aus Angst, niemand könne sie verstehen. „A“, wie der Mann genannt wird, scheint ein Klischee zu sein: Er liebt Anzüge von Yves Saint Laurent, teure Autos, mit denen er über die Autobahn rast, und er trinkt viel Alkohol. Als er in eine andere Stadt zieht, bricht ihr Leben zusammen. Sie wünscht sich abstruse Dinge: von Einbrechern getötet zu werden oder auch einen positiven HIV-Test. „Dann hätte er mir wenigstens irgendetwas hinterlassen.“
Warten auf „Mr. Big“
Ernaux erzählt ohne Pathos, was durchaus eine Stärke dieses seltsamen Romans ist, der im Grunde aber ein schon damals veraltetes Frauenbild prolongiert: Die Geliebte wartet und nimmt hin. Der verheiratete Mann gibt alles vor. In dem vor zwei Jahren erschienenen Band „Der junge Mann“ ging es ebenfalls um eine Affäre, allerdings mit einem um 30 Jahre jüngeren Studenten. Spannend daran war, in welch kleinen Gesten sich der junge Mann als Produkt seiner Klasse offenbarte.
„Eine Leidenschaft“ hingegen schwebt im luftleeren Raum. Weil ihr fremdgehender Geliebter kein Franzose ist, greifen auch ihre Bewertungskriterien nicht. Er bleibt verschwommen, sie ein Produkt des Patriarchats. Wie Carrie Bradshaw im TV-Format „Sex and the City“ wartet sie auf ihren „Mr. Big“. Wobei in der beliebten Serie zumindest die offenen Gespräche unter Freundinnen für unterhaltsames feministisches Futter sorgten.
Bei Ernaux kommen erst ganz am Ende ein paar dürftige Erkenntnisse. „Ich habe herausgefunden, wozu man fähig ist – zu allem nämlich. Zu geheimen Wünschen, die sublim oder tödlich sein können, zum Verlust der eigenen Würde.“ Keine Frage, Ernaux möchte nicht bewerten, was sie erlebt hat. Aber eine gesellschaftliche Analyse, warum Frauen sich schlecht behandeln lassen, und es dann zur Leidenschaft erklären, würde man sich von einer „Ethnologin ihrer selbst“, wie sich Ernaux bezeichnet, durchaus wünschen.
Der Suhrkamp-Verlag verzichtet zwar auf eine reißerisch-erotische Covergestaltung, eine Mogelpackung ist das Buch trotzdem. Im Rahmen eines Gesamtwerks würde man sich über diese Petitesse freuen. Als Einzelausgabe sind 20,60 Euro für 70 groß gedruckte Seiten überteuert. So kühl sich Ernaux auch diesmal wieder ihrem hitzigen Sujet nähert, so unbefriedigend bleibt das Ergebnis, sowohl literarisch als auch intellektuell.