Fotohistoriker Holzer: "Jeder hat die Dunkelkammer in der Hosentasche"
Anton Holzer unterhält mit der seit 2001 von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Fotogeschichte" eine weit über die Grenzen Österreichs bekannte Anlaufstelle in Sachen Fotohistorie. Der Publizist, 1964 in Südtirol geboren, kuratierte zuletzt im Wien Museum die viel beachtete Schau über den amerikanischösterreichischen Fotokünstler Robert Haas und veröffentlichte im Darmstädter Theiss Verlag die Sammlung "Krieg nach dem Krieg", eine Dokumentation seltener, zwischen 1914 und 1918 entstandener Lichtbilder. Mit dem Metier kam Holzer, der in Wien ein mit Fotoliteratur vollgestopftes Büro betreibt, spät in Kontakt: "Der Großvater war Bergbauer und hat nie einen Fotoapparat besessen. Er wollte sich auch keinen leisten, weil das geheißen hätte, die Arbeit zu unterbrechen und sich selbst bei der Freizeit zuzuschauen."
INTERVIEW: WOLFGANG PATERNO
profil: Würden Sie im Brandfall eher Gelddepot oder Fotoalbum retten? Holzer: Meine vielen Alben würde ich sicher nicht schleppen. Abgesehen davon besitze ich tatsächlich keine Fotos von mir zwischen Geburt und Volljährigkeit. Der Karton wurde irrtümlich entsorgt.
profil: Wurde Ihre Erinnerung damit gleichermaßen mitbeseitigt? Holzer: Ich laboriere nicht an biografischem Bedeutungskollaps. Im 19. Jahrhundert wurde versucht, die Welt zu retten, indem man sie ablichtete. In Fotos Biografie und Welt festzumachen, ist nach wie vor absurd.
profil: Fotos speichern also nicht Vergangenes? Holzer: Fotos bilden die Welt nicht zwangsläufig ab. Ich schaue bei jedem Foto, das ich in die Hand nehme, auf die Rückseite: Welche Stempel finden sich? Welche Notizen? Was ist mit Bildern zu ihrer Zeit passiert? Wie lesen wir sie heute? Man muss Fotos gegen den Strich bürsten. Bilder, die isoliert an der Wand hängen, interessieren mich nicht sonderlich. Ich will sie buchstäblich umdrehen, um ihre ständig wechselnden Bedeutungen zu entziffern.
profil: Fotografieren Sie auch selbst? Holzer: Leidlich. Mit zehn bekam ich von meiner Tante eine Jahrhundertwende-Kamera mit Loch im Balg. Nach zwei überbelichteten Filmen habe ich es sein lassen. Ab 16 war ich einige Jahre während der Schulferien Skipass-Fotograf im Ort. Mit einer Polaroid machte ich Zehntausende Bilder.
profil: Roland Barthes merkte vor 40 Jahren an, Fotografie sei das "Stiefkind der Kultur". In unserer Epoche des digitalen Bilderrauschs käme er wohl zu einem anderen Befund. Holzer: Die Fototheorien von Barthes oder Susan Sontag sind Kinder ihrer Zeit. Ab den 1960er-Jahren weitete sich der elitäre Fotografenkreis unumkehrbar zur Massenknipserei. Barthes versuchte noch 1980 den bereits damals unrettbaren Gedanken zu retten, dass bestimmte Bilder Wahrheit festhalten, eine unmittelbare Verbindung zur Realität herstellen würden.
Unsere Kinder werden einmal kopfschüttelnd auf die Facebook-Epoche zurückblicken.
profil: Sontag monierte bereits 1977, es gebe eine Bilderflut, die eingedämmt werden müsse. Holzer: Seit Jahren erforsche ich in Archiven Bilder von endlicher Zahl. Die Fotos des österreichischen Kriegspressequartiers aus dem Ersten Weltkrieg umfassen 33.000 Prints - wenn ich mich anstrenge, kann ich das Konvolut in fünf Monaten abarbeiten. Jede Bild-Analyse von Instagram, Facebook oder Flickr wäre nach wenigen Monaten Makulatur. Es gibt keine Grundgesamtheit der Bilder mehr. Flohmarkt-Fotofunde werden durch die digitale Durchdringung bald selten werden.
profil: Auf Instagram werden täglich bis zu 95 Millionen Bilder hochgeladen. Holzer: Diese Bilder lassen sich nicht mehr dingfest machen. Das Denken über Fotografie, das Ende des 20. Jahrhunderts etabliert wurde, ist inzwischen vollkommen obsolet. Dennoch reflektieren wir wenig darüber, was dies mit den Bildern und mit uns selbst macht. Die Banalisierung der Bilderkunst als tägliche Praxis wird die visuelle Erinnerung radikal verändern. Unsere Kinder werden einmal kopfschüttelnd auf die Facebook-Epoche zurückblicken.
profil: Sind Selfies die beste oder schlechteste Erfindung seit Langem? Holzer: Der Kult des Narzisstischen wird versanden. Es kommt wenig dabei heraus, wenn die Menschheit sich ständig bei allen möglichen und unmöglichen Tätigkeiten selbst zuschaut. Niemand wäre früher auf die Idee gekommen, immerzu sein Essen zu fotografieren.
profil: Die Selfie-Sucht ging mit der Erfindung des Smartphones einher. Holzer: Die Kamera ist ein machtvolles Instrument. Jeder Mensch macht sich vor der Kamera zurecht. Ich kenne niemanden, der angesichts eines Kameraauges nicht anders schauen würde. Das Manko in unserem Skifotopassbüro war, dass wir keinen Spiegel hatten. Das geriet für viele zum Drama. Auch auf briefmarkenkleinen, verschwommenen Bildern will man schön sein. Selfies sind entsetzlich langweilige Selbstverbesserungen in Bilderfolgen.
profil: Ist die legendäre Fotoagentur Magnum, die heuer ihren 70. Geburtstag feiert, in Zeiten der Bilderschwemme ein Anachronismus? Holzer: Magnum beharrt auch im digitalen Zeitalter auf der Einzigartigkeit des fotografischen Blicks. Viele Agenturen sind insolvent, während es Magnum gelingt, aus dem historischen Erbe Kapital zu schlagen. Die geschickt platzierte Message lautet: Unsere Geschichte ist so toll, dass es uns auch in Zukunft brauchen wird. Viele Magnum-Fotografen sind heute als Künstler rehabilitiert. Robert Capa hätte das nie von sich behauptet - allenfalls, dass er ein guter Handwerker sei.
Den hehren Reporter, der an der Kriegsfront Realität abbildet, gibt es nicht mehr.
profil: Viele Magnum-Reporter stilisierten sich dennoch zu Haudegen. Holzer: Sie verklärten sich zu engagierten Botschaftern der Wahrheit. Dieser Mythos ist tot. Im postdokumentarischen Zeitalter muss auch die Fotografie ihr Tatsachendogma aufgeben. Den hehren Reporter, der an der Kriegsfront Realität abbildet, gibt es nicht mehr.
profil: Ist die klassische Fotografie tot? Holzer: Zumindest scheintot. Der Fotokunstmarkt übertrifft sich seit der digitalen Wende zugleich mit enormen Steigerungsraten und Rekordpreisen. Das bedingt, dass man aus der Bildermasse zuweilen fragwürdige, von Galeristen geadelte Unikate isolieren muss.
profil: Jedes Foto sagt auch etwas über den Menschen aus, der den Auslöser drückt. Was erzählt die gegenwärtige Bilderflut über uns? Holzer: Fotos zu machen, war lange Zeit teuer und einem elitären, meist männlichen Kreis vorbehalten, manche Genres wie die Aktfotografie sind das explizite Ergebnis dieses männlichen Blicks. Heute ist jeder Fotograf -sowie Produzent und Konsument. Jeder hat die Dunkelkammer in der Hosentasche. Es ist inzwischen schwierig, zu bestimmen, wer vor und wer hinter der Kamera steht.
Auf die Zeit der Bilder und Wortschnipsel folgt womöglich eine Epoche, die uns wieder ganze Sätze und Bilder bescheren wird, in der wir auch wieder die Rückseite betrachten werden.
profil: Henri Cartier-Bresson bemerkte einst: "Deine ersten 10.000 Bilder sind die schlechtesten." Besteht Hoffnung für die Smartphone-Amateure? Holzer: Absolut nicht. Cartier-Bresson fiel als Fotograf nicht vom Himmel. In seiner Lebensleistung finden sich zahllose Brüche und Verwerfungen, neue Blickwinkel und Perspektiven. Die Facebook-Fotografie wird sicher nicht zwangsläufig besser.
profil: Welche Entwicklung innerhalb der Bilderwelt sehen Sie mit Besorgnis? Holzer: Die extreme Verkürzung der Lebensdauer. Fotos blitzen nur mehr auf, ohne dass sie als haltbar gedacht und in einem Medium aufbewahrt werden. Fotos sind zu bloßen Schnipseln geworden. 1839, als die Fotografie offiziell in die Welt trat, machten sich die Maler über die Lichtzeichner lustig: "Ihr öffnet das Kameraauge für den einzelnen Moment." Heute verschwinden Fotos nach zwei Sekunden digitaler Lebenszeit im Orkus. Man macht Bilder, die nicht mehr viel mehr sind als jäh aufflammende Sternschnuppen. Fotos sind ab dem 19. Jahrhundert massiv in unser Leben getreten, um Dinge festzuhalten und dann irgendwo abgelegt zu werden - in einer Schuhschachtel, im Archiv, im Tiefenspeicher. Viele dieser Bilder tauchen immerhin irgendwann wieder auf, um neue Geschichten zu erzählen.
profil: Sie sehen die Zukunft vor allem negativ? Holzer: Vielleicht beschert uns diese eine Art Medienbruch. Auf die Zeit der Bilder und Wortschnipsel folgt womöglich eine Epoche, die uns wieder ganze Sätze und Bilder bescheren wird, in der wir auch wieder die Rückseite betrachten werden.
profil: Was wird sich ein Fotohistoriker im Jahr 2100 über unsere Zeit denken? Holzer: Er wird lächelnd zurückblicken. Im langfristigen Nachhinein betrachtet werden die Aufregungen und Diskussionen um Bilderschwemme und digitale Fotofälschung ein Sturm im Wasserglas gewesen sein. Die Fotografie wird in 100 Jahren eine Erscheinung unter vielen anderen Medien und die Frage nach der idealen Speicherung gelöst sein. Man wird seinen Kindern erzählen: "Früher gab es Bilder, die man in Händen halten und umdrehen konnte." Verschwinden werden die Bilder aber nie. Es wird immer Bedarf nach Skipassfotos geben.