Gluckern in der „Glucke“
Das war bereits so bei „Kolks blonde Bräute“. Auftritt von vier Freunden: Heiner, Bodo „Mufti“ Morten, Satschesatsche und Held Kolk, Briefträger und Oberschluckspecht in der Hamburger Kneipe „Glucke“. Was für den vor knapp zehn Jahren verstorbenen Übersetzer, Schulz-Verehrer und Kolumnisten Harry Rowohlt galt, darf Schulz für sich selbst taxfrei in Anspruch nehmen: In „Kolks blonde Bräute“ – später mit den Bänden „Morbus Fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“ (2002) und „Das Ouzo-Orakel“ (2006), in denen Mufti-Bodo die Antiheldenrolle übernimmt, zur sogenannten „Hagener“-Trilogie ausgebaut – fiedelt und tänzelt ein „Paganini der Abschweifung“.
Nun also „Amor gegen Goliath“, Schulz’ neuer Roman. Es ist ein gewohnt wunderlich-wirres, brillantes Buch geworden, eine Riesengaudi. Schulz kommt in mäandernder Weise vom Hundertsten ins Tausendste, er grast so gut wie alle Themen ab, die in der Luft hängen. Müsste man einen Begriff finden, der diesen Roman am ehesten beschreibt, es wäre dieser: Gegenwartsattheit, die sich zu Befund und Botschaft fügt, bedingungslos um Erhalt und Schutz jenes kleinen blauen Balls zu kämpfen, der, durch Klimakatastrophe und kriegerische Konflikte bedroht, verlassen durchs uferlose All schlingert. Bisweilen benötigt es ein 750 Seiten-Epos, um die Kämpfe und Krämpfe der Jetztzeit halbwegs komplex zu verhandeln. „Amor und Goliath“ ist dieser Roman, der das zwiespältige Grundrauschen der Gegenwart einfängt – als großartiges Stück Humor weiterspinnt und gleichzeitig sehr ernst nimmt.
„Amor und Goliath“ ist Schulzens bislang umfangreichster Roman; eine kühne Prosa-Achterbahnfahrt im Jahrhundertsommer 2018 und in den anschließenden Masken-Seuchen-Jahren zwischen Hamburg, Osnabrück und einem ehemaligen Hippiecamp im sonnigen Süden Kretas; eine schier endlose Szenenrevue, eine auf das große Spektakel im kleinen Alltag versessene Inszenierung, bevölkert von bezaubernden Plappermäulern mit Esprit, redseligen Ironikern und Bar-Buddhas. Dazu die Erkenntnis, dass der Wald inzwischen nicht mehr nur aus Bäumen besteht, sondern auch aus Feeds, Shitstorms, Interessen, Standpunkten: „Meinungen, Deinungen, Seinungen“, stöhnt einer in „Amor und Goliath“, diese ganze „grassierende Aufeinander-ein-Meinerei“. Das dumme Gefühl der Unzufriedenheit und Unsicherheit mit der Welt und sich selbst, es spricht aus jeder Seite dieses Romans.
Im Schlamm der Depression
Cathi Weye, 40, Psychologin und ehrenamtliche Klimaschützerin, sowie ihr Ehemann Patrick „Ricky“ Kottenpeter, 39, Werbe-Jingle-Komponist, eher gloriose Heulsuse als feuriger Gigolo, sind die Gravitationszentren. Cathi will die Welt vor globaler Erwärmung retten, während Kottenpeter ein Kerl ist, in dessen Umkreis nichts Gutes gedeiht: „Den ganzen Dienstag lang schimmelte er vor sich hin.“ Ricky durchlebt die Coronakrise als persönliches „Quarantanamo“: „Da stand er nun, ein Mann wie ein Pudding.“ Irgendwas zwischen Knilch, Stoffel, Strolch, Molch, Macker, Trickser. Ein liebenswürdiger Pülcher. Bevor er ganz im „Schlamm der Depression“ versinkt, spaltet er sich in „KO“ („Kottenpeter-Original“) und „KA“ („Kottenpeter-Avatar“) auf.
Umschwirrt und -zwischert werden Cathi und Ricky vom flamboyanten Journalisten Philipp Büttner, 52, der über Schnitzler promovierte und dessen einziges Begehr vor der dräuenden Apokalypse eine Ménage-à-trois ist, sowie von der pensionierten Studienrätin Ilona Gammasch, 67, geschieden und wie vom Weltrettens-Teufelchen besessen.
Klima- und Coronakrise, Musik und Migräne, Liebesglück und -unglück, Herz und Schmerz ziehen sich durch die Textur des gesamten Romans, in dem Schulz das große Ausleuchten der Ambivalenzen und Idiosynkrasien seiner Figuren ansteuert, sprich: uns alle unter die Lupe seiner Beobachtungsgabe und phosphoreszierenden Sprache legt, dabei das neue deutsche Biedermeier einfühlsam zersägt, dessen Gretchenfrage im immer lauter und bedrohlicher ausklingenden Anthropozän lautet: „Wie hast du’s mit dem Klimawandel? Do you panic?“
Es gibt so gut wie nichts, dem dieser Roman keine kleine Bühne böte, zur Planetenrettung wird gefälligst angetreten! Tupperware-Partys und LGBTQI+; Prof. Drosten und Dr. Goebbels; Pariser Bataclan und Benzodiazepin; Wokeness, vegane und Conchita Wurst; FPÖ-Ibiza- und Corona-Ischgl-Gate; Sebastian Kurz und Otto Waalkes; Tech-Exzentriker Elon Musk und Verschwörungs-Club QAnon; Georg Büchner und ZZ-Top-Bärte; Birkenstock und „Oblahila“-Frisur („oben blank, hinten lang“); Doomsday Clock („100 Sekunden vor 12“) und Donald Trump; Taubenhass und Amselträllern; Terrortrupp IS und Massenmörder Anders Behring Breivik; Arschgeweih und Lastenfahrrad; Gargellen in Vorarlberg und YouPorn. Ein Buch sprengt lustvoll jeden dramaturgischen Rahmen; Schulz bläst in sein poetisches Megafon, sodass der graue Alltag seiner Figuren zartpastell- bis neongrellfarben leuchtet, reichert die Seiten an mit Fußnoten, Zeichnungen, Notenlinien, Aufzählungen, Klammer-in-Klammer-in-Klammer-Sätzen, Song- und Literaturzitaten, Dialog-Delirien. Selbst Kohlmeisen („Jonny“, „Toni“) und Stieleichen („Alimur Viribus I“) tragen hier Namen.
Haare in der Suppe
Die unterschiedlichen Diskurslinien an den vielen Aktivismusfronten, analog und online, all die „Thesen-Meißeleien, zänkischen Dekonstruktionen und rhetorischen Jonglagen mit unterschiedlichen Waaggewichten“ durchkreuzt Schulz so lustvoll wie souverän: „Mittlerweile macht ja jeder Depp mit Laptop einen auf Vlogger, Hauptsache, er kriegt drei Hauptsätze hintereinander auf die Reihe und kann fehlerfrei deep – state – deep – state skandieren. Die suchen die Haare in den Suppen, bis sie ein paar über ihre Glatze kämmen können oder endlich „ne Frisur beisammenhaben, die dann natürlich, was Wunder, beschissen aussieht.“
Am Ende braut sich auf Kreta ein Lebens- und Liebes-Fiasko zusammen, wie es schöner nicht zu haben ist. Die privaten Desaster am Libyschen Meer als Präludien für die Schockwellen der tobenden – Extremhitze, Artensterben, Meeresspiegelanstieg – Klimakatastrophe. Lava, marsch! Ein Tanz im Vulkan.
Am Ende: ein zumindest tendenziell hoffnungsfroher Imperativ. „Dass David ein zweites Mal gegen Goliath gewinnt, ist sehr unwahrscheinlich“, schreibt Schulz: „David gegen Goliath, das war im Holozän. Im Anthropozän brauchen wir Amor.“