Da das nicht nur sehr junge, sondern auch sehr internationale Publikum in den sozialen Medien im Nachhinein jedoch weit weniger über die Performances (wobei jene der New Yorker Höhenfliegerin Ice Spice extra erwähnenswert erscheint), sondern fast durchwegs über die teils eklatanten organisatorischen Mängel diskutierte, dürfte eine Fortsetzung des nächsten Austro-Hip-Hop-Festivalversuchs allen Beteuerungen zum Trotz alles andere als eine ausgemachte Sache zu sein.
2 Von der Wiese ins Wohngebiet: Der Festival-Einzug in den urbanen Raum
Ein Festival auf der (hier nur sprichwörtlichen) grünen Wiese, das mangels Camping-Möglichkeiten und ausreichender Verkehrsanbindung die mehr oder weniger gleichzeitige Abreise von rund 50.000 Gästen gewährleisten muss: Vielleicht konnte dem Rolling Loud diese Quadratur des Kreises auch gar nicht gelingen. Es kommt nicht von ungefähr, dass in jüngerer Zeit ein verstärktes Vordringen des Festivalbetriebs in den urbanen Raum zu beobachten ist, zuerst international, neuerdings aber auch hierzulande. Die Vorteile solcher City-Festivals lägen auf der Hand, weiß David Dittrich, Head of Festivals beim heimischen Konzertveranstalter Arcadia Live, der seit 2023 etwa das Lido Sounds am Linzer Urfahraner Markt organisiert: „Linz bietet Hotels, Gastronomie, Ruhe bei Bedarf, Anbindung per Fernzug oder Regionalbahn und vieles mehr. Das innerstädtische Open Air-Format scheint da eine der wenigen Möglichkeiten zu sein, gleichzeitig die Bedürfnisse von jüngeren und älteren Besucher:innen zu erfüllen.“
Zielgruppentechnisch kann die Ansprache einer nicht mehr ganz jungen, dafür aber inzwischen zahlungskräftigeren Klientel ein naheliegender Schritt sein. Nur weil man nicht mehr wie zu Teenagerzeiten auf schlammigen Äckern zeltet, will man noch lange nicht auf Open-Air-Magie verzichten – wie auch Lisa Schneider, Co-Kuratorin des Wiener Popfests 2024 und als FM4-Musikredakteurin regelmäßige Vor-Ort-Beobachterin des Festivaltreibens, zu berichten weiß: „Eintages- und Boutique-Festivals sind bei uns auf dem Vormarsch. Also: saubere Klos, und am Abend fahr ich heim. Das ist einfach auch ein interessanter Entwurf für Menschen über 30, die dann tatsächlich mehr wegen der Musik hinfahren als wegen des Festival-Feelings drumherum. Von Pink bis Taylor Swift werden auch Stadionkonzerte mittlerweile wie Eintages-Festivals behandelt – mit zwei bis drei Support Acts, also Beschallung gut acht Stunden lang durchgehend.“
Auch aus Veranstaltersicht seien die Vorteile – etwa in Fragen der Logistik und der Nachhaltigkeit – nicht von der Hand zu weisen, wie David Dittrich skizziert: „Die komplette Infrastruktur wie Schauplatz, Strom, Hotels ist bereits zur Gänze vorhanden und muss nicht extra für drei Tage auf eine unvorbereitete Fläche gebracht und aufgebaut werden.“ Passend dazu verwandelte sich vor zwei Wochen selbst die St. Pöltner Innenstadt in eine Spielwiese für prononciert progressives Konzertgeschehen, als dort im Rahmen des neu etablierten Tangente Festivals Queer-Pop-Ikonen wie Fever Ray und Arlo Parks beim eintägigen Pop am Dom gastierten. Dass in diesen Tagen auch die Bundeshauptstadt wieder einmal das Flair einer ausgedehnten Open-Air-Popkonzertreihe abseits der gängigen Gratisangebote oder des verlässlichen Programms in der Open-Air-Arena schnuppern darf, erscheint angesichts dieser Entwicklung eigentlich nur als logische Folge.
3 Bündelung der Kräfte: Sind die fetten Festivaljahre vorbei?
Jene MetaStadt Open Airs gastieren – nach einjähriger Pause – noch bis 29. Juli auf den von historischen Backsteinbauten idyllisch umrahmten ehemaligen Elin-Gründen im 22. Wiener Gemeindebezirk. Im Grunde handelt es sich um eine Aneinanderreihung von Eintages-Festivals, deren Programmierung mit (in den anvisierten Alterskohorten verlässlich gut angenommenen) Retro-Acts wie Air, Patti Smith oder Cypress Hill weniger verwundern mag als die ungewöhnliche Promoter-Konstellation dahinter. Die einzelnen Tagesevents werden nämlich paritätisch von Barracuda Music und Arcadia Live bespielt, zwei Playern, die sich im Rest des Konzertjahres eigentlich in Konkurrenz gegenüberstehen.
Selbst wenn die Kooperation für Branchenbeobachter nicht gänzlich aus heiterem Himmel kommt – bei beiden Unternehmen ist der deutsche Branchenriese CTS Eventim über unterschiedliche Tochtergesellschaften Mehrheitseigentümer –, lässt die Bündelung der Kräfte und die damit verbundene Teilung unternehmerischer Risiken doch vermuten, dass die Rahmenbedingungen für Veranstaltungen dieser Art auch schon rosiger waren. „Explodierende Kosten, von Personal über Gagen bis Infrastruktur, kombiniert mit einer volatilen Nachfrage und einem Trend zum späteren Ticketkauf, sind mit Sicherheit die größten Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen“, will Dittrich die ungemütliche Marktlage gar nicht leugnen. Diese wird noch durch gewisse Nachwuchssorgen verschärft, die sich als Konsequenzen der Corona-Jahre begreifen lassen: Ganze Jahrgänge der Generation Z, die in dieser Zeit sozusagen ihrer Konzert-Initiation beraubt wurden, sind nun nicht mehr ganz so leicht für die Faszination eines Festivalerlebnisses zu gewinnen. Doch selbst wenn die beispielsweise in Deutschland oder Großbritannien konstatierte Festivalkrise hierzulande noch nicht zu nennenswerten Veranstaltungsstreichungen geführt hat, so fällt doch auf, dass heuer noch an keinem größeren Festival-Eingang das einst obligatorische „Sold Out“-Schild hängen konnte. Die Boom-Stimmung in der Branche macht sich dieser Tage schon ziemlich rar – fast so wie Schattenplätze auf vollversiegelten Konzertarealen.
4 Alternative Lösungen: Headliner-Not macht erfinderisch
Während die Festivalveranstalter kostenseitig durch Kooperationen vereinzelt noch Synergieeffekte erzielen können, stehen sie in Programmfragen naturgemäß in einem knallharten Wettbewerb, der an den Landesgrenzen längst nicht Halt macht. Immerhin entscheidet über Wohl und Wehe eines Festivals, zumal ab einer gewissen Größenordnung, zu einem wesentlichen Teil das Line-up – und hier wiederum ganz besonders jene Acts, die in den größten und dicksten Lettern gedruckt sind: die Headliner. Bei entsprechender Breitenwirkung erledigt sich die Sorge um den Trend zum späteren Ticketkauf ganz schnell von selbst.
Doch die raren Blockbuster-Acts spielen in der Regel lieber gleich Solo-Arena-Konzerte – mittlerweile bereits oft in Form von Residencies mehrmals hintereinander am selben Ort, siehe demnächst Taylor Swift und Coldplay im Happel-Stadion oder Adele mit zehn (!) XXL-Gigs in München – mit unmittelbarerem Zugriff auf die Eintrittsgelder und ohne Abstriche bei den Gestaltungsmöglichkeiten der aufwendigen Bühnenshows. Und selbst wenn ein solcher Superstar-Status mal zu einem Festival-Auftritt führt, dann höchstens bei speziell imageträchtigen Events mit einem gewissen Marketing-Mehrwert – wie dem kalifornischen Coachella oder dem britischen Glastonbury Festival.
Als Resultat dieser Umstände entsteht um all jene populären Acts, die für Festival-Engagements zur Verfügung stehen, ein europaweites Wettrennen mit potenziell kostspieligen Folgen. Denn, so Lisa Schneider, die Veranstalter hätten oft die Erfahrung gemacht, dass es auf dem heimischen Markt „für manche internationale Hype-Superstars zwar ein entsprechendes, aber eben auch zu kleines Publikum gibt“. Da sich beachtliche Streaming- und Social-Media-Zahlen zuverlässig in stattlichen Gagen, aber nicht unweigerlich in verkauften Tickets niederschlagen, scheint Risiko-Aversion für heimische Promoter – das Ausmaß der Aufgeregtheit schwankt bei Routine-Headlinern von Green Day bis Kraftklub doch erheblich – vielfach nach wie vor das erste Gebot zu sein. Das zweite: Kompensation durch Kreativitätsextra.
Dieses kommt entweder dadurch zustande, dass über ein stimmiges Gesamtpaket und Vor-Ort-Erlebnis eine unverkennbare Festivalidentität aufgebaut wird, die unabhängig von einzelnen Namen funktioniert (als größtes Vorbild wie abschreckendes Beispiel mag hier das Influencer-Schaulaufen zu Coachella dienen). Oder eben dadurch, dass man beim Buchen aus der Not eine Tugend macht und nach alternativen Lösungen sucht – wie im Fall des Lido Sounds, das in dieser Spielzeit kurzerhand den Linzer Electroswing-Eskapisten Parov Stelar in seiner Heimatstadt zum Headliner erhob. Eine solche Gunst der Stunde sei allerdings nicht selbstverständlich: „Das Booking-Business ist schon ein Drahtseilakt, der neben etwas Glück auch ein gewisses kreatives Fingerspitzengefühl benötigt“, räumt David Dittrich ein.
5 Don’t Look Back in Anger / Man spricht Deutsch: Nische, Nostalgie, Local Heroes
Ein Blick über den Atlantik weckt Vermutungen, in welcher Manege diese Drahtseilakte künftig vermehrt vollzogen werden könnten. In den USA versuchen Festival-Newcomer wie Just Like Heaven, Cruel World oder das treffend titulierte When We Were Young derzeit erfolgreich und ganz spezifisch Nische und Nostalgie zu bespielen – mit Line-ups, die Szenen und Genres gut abbilden, aber teils so wirken, als seien sie frisch aus einer Zeitkapsel geholt worden. Dass der Trend zum ausgeprägten Retro-Programm längst auch bei uns angekommen ist, lässt sich angesichts von Festivals wie Clam Rock oder Lovely Days nicht mehr leugnen. Im kommenden Jahr wird er mit der Wiederbelebung des Alternative-Rock-Festivalklassikers Forestglade mit einem Programm wie anno 1995 auch die Generation X einholen.
Parallel zur intensiveren Zielgruppenfokussierung sind in Zukunft noch stärker als in den letzten Jahren Line-ups zu erwarten, die das Schaffen in den regionalen Musikmärkten in den Vordergrund rücken. Bereits heuer vertraut das Frequency mit den Hip-Hop-Künstlern Apache 207, RAF Camora und Peter Fox an den drei regulären Tagen durchgehend auf Headliner mit deutschen Texten, das Lido Sounds bestritt gleich einen ganzen Tag ausschließlich mit Acts aus dem deutschsprachigen Raum. Die Gefahr, dass sich höher budgetierte Festivals auf diese Weise allzu ausgiebig aus jenem Künstlersegment bedienen, aus dem auch das demnächst am Wiener Karlsplatz stattfindende Popfest sein Alleinstellungsmerkmal speist, sieht Kuratorin Schneider nicht: „Das Popfest ist ja nach wie vor das Festival, das rein auf österreichische Acts setzt. Das ist die DNA, die Geschichte: Seit 15 Jahren spielen hier nur die aktuell spannendsten homegrown acts.“
Die trotz mancher Unkenrufe zweifelsohne am progressivsten programmierte der vielen Gratis-Open-Air-Veranstaltungen der Stadt Wien hat ohnehin eine weitergehende Perspektive: „Es geht ja beim Popfest um Szenepflege, aber vor allem auch um Newcomer-Herzeigen. Wir wissen, was jedes Jahr in Österreich an Neuem nachrückt. Sprich: Die großen Festivals holen sich Bibiza und Bilderbuch, das Popfest kümmert sich um die Stars von morgen.“
Eine sinnstiftende, vorausschauende Verzahnung von kommerziellen und freien Angeboten im Sinne der Entwicklung der heimischen Musikszene: So darf das Drehbuch für den richtigen Film in Sachen Festival dann gerne anfangen.