Friederike Mayröcker, 1924–2021
Das heillose Durcheinander des Lebens hat Friederike Mayröcker in ein wundersames poetisches Durcheinander gegossen. Strenge Symmetrien, Ecken und Kanten waren der Autorin fremd, ihr Schauen auf die Welt war, mit Virginia Woolf gesagt, nie „wie mit einem scharfen Stahl gestochen“: Ihrer Satz-, Wort-, Assonanz-, Orthografie- und Zitierkunst ordnete Mayröcker alles unter. Mond, Hirschkäfer, Morgenfrühe, Traumgespinste, Einsamkeit, Gärten, Bienen, Kirschen, Knöchelchen, Schnäbel, Mirakel, Jacques Derrida, Ernst Jandl – ihr 2000 verstorbener Lebens- und Literaturgefährte –, Eindrücke, Einfälle, Erinnerungen, Erlebnisse, böses und blaues Blut, das Schweigen und das Schreiben selbst: Alles war Mayröcker willkommenes Ausgangsmaterial für ihre Dichtung.
Ihre Sätze und Wortspielereien lassen nie frösteln, unter ihrem Blick weitet sich die Welt. Ihre Werke leben vom Zauber des Unerwarteten und Unbeabsichtigten, von kühnen Motivschnittmengen, historischen Resonanzen und dem Kitzel, nie wirklich an ein Ende zu gelangen. Mayröcker fiel früh in die Literatur. 1956 erschien „Larifari“, ihr erstes Buch mit Prosaminiaturen. 1969 ließ sie sich, bis dahin als Englischlehrerin tätig, vom verhassten Schuldienst beurlauben, um sich ausschließlich dem Schreiben widmen zu können. Ihre Wohnung in der Wiener Zentagasse verwandelte sich über die Jahrzehnte in die legendäre „Zettelhöhle“.
Mayröckers Notieren und Skizzieren durfte ebenso ein Geschenk des Zufalls oder der Geistesgegenwart wie Ergebnis dauernder Recherche und Lektüre sein. „Wie kann in einem Text so viel Leben sein? Wie schafft es die Autorin, aus der äußeren Ereignislosigkeit eines Lebens so viel zu machen?“, staunte kürzlich der Grazer Philologe Klaus Kastberger, einer der Mitherausgeber der Mayröcker-Gesamtausgabe. Die rund 3000 Seiten in fünf Bänden erschienen 2001; seitdem schrieb sie ohne Unterlass weiter, insgesamt mehr als 100 Bücher, bis zu „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“, ihrem kürzlich erschienenen, letzten Werk zu Lebzeiten.
Man könne, urteilte einst der Schriftsteller T. S. Eliot, einen Dichter nie allein für sich beurteilen, man müsse ihn, der Gegenüberstellung und des Vergleichs halber, zusammen mit seinen Vorgängern betrachten. Mayröcker hat das Gegenteil bewiesen und gemacht. Allein dafür hätte ihr der Literaturnobelpreis gebührt: für radikale Wortkunst und gedankliche Eigenständigkeit. Sie war ihr eigener Poesieplanet. So schnell werden nun keine Buchrätseltitel wie „Notizen auf einem Kamel“, „Und ich schüttelte einen Liebling“ oder „Sägespäne für mein Herzbluten“ mehr erscheinen.
„es geht um NICHTS und es geht um ALLES“, notierte sie in gewohnt eigensinniger Orthografie, an der jedes Rechtschreibprogramm scheitert, in „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“: „ach um ein lg. Leben es geht um den Knall den Knall der Verliebtheiten, Vergeblichkeiten, Phantasien Tagträume“.
Fantasie habe sie übrigens keine, bemerkte die Dichterin 2010 in einem Interview mit profil: „Darum bin ich auf die Wirklichkeit angewiesen.“ Die Wirklichkeit wiederum war auf sie angewiesen. Am Freitag vergangener Woche ist Friederike Mayröcker 96-jährig in Wien gestorben.