Kulturtipp

Schreiben als Wahnwitz

Friederike Mayröcker war ein Solitär der österreichischen Lyrik. Es ist ein Privileg, in ihre Welt zu blicken: Stefan Grissemann hat die laufende Mayröcker-Ausstellung im Wiener Literaturmuseum besucht – und war beeindruckt.

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Die Malerei des Briten Francis Bacon nannte sie „wahnwitzig“, so hätte sie gerne selbst gemalt: Denn „mein Schreiben ist ja auch ein Wahnwitz“, sagte die Wiener Lyrikerin Friederike Mayröcker in einem „Standard“-Interview 2016. Die Doppelbedeutung dieses Satzes, der nicht nur den Drahtseilakt der Poesie an sich, sondern auch die existenziellen Risiken zu benennen scheint, die in der täglichen Auseinandersetzung, ein ganzes Leben lang, mit einer niemals mehrheitsfähigen Kunst liegen, akzentuiert den Mut und die Selbstreflexion dieser Schriftstellerin.    
Literatur schrieb sie schon mit 15, das war 1939: Nichts kann die jahrzehntelange Arbeitswut Mayröckers besser versinnbildlichen als die sechs Stapel jener rund 120 Bücher, die sie, die meisten davon im Suhrkamp Verlag, zwischen 1956 und 2020 veröffentlichte. Sie sind in der von Bernhard Fetz und Katharina Manojlovic liebevoll kuratierten, noch bis Mitte Februar 2025 zu begutachtenden Mayröcker-Schau im dritten Stock des Literaturmuseums der Nationalbibliothek in der Wiener Johannesgasse zu sehen, in einer Ausstellung, die auf äußerst passende (und grundsympathische) Weise auf engem Raum überfüllt erscheint. Denn bekanntlich lebte die Dichterin ihre „poetische Existenz“, wie sie das formulierte, bis zuletzt in ihrer Schreibklause in der Wiener Zentagasse selbst inmitten von Arbeitsmaterialien, Briefen. literarischen Zwischenergebnissen und einer Unzahl an Devotionalien, inmitten sich auftürmender Zettel, Bücher, Fotos, Kisten und Säcken.

Zugegeben, ein wenig geordneter geht es in dieser Darbietung, die den schönen  Titel „ich denke in langsamen blitzen“ trägt, schon zu als in Mayröckers legendär überwucherter Wohnung, in die man mittels Virtual-Reality-Rundpanorama übrigens auch als Ausstellungsgast eingeladen wird. Aber die vielfältigen Bezüge und Ausdehnungen der Mayröcker’schen Sprachkunst in die Musik, die Geschichte und die bildende Kunst hinein werden hier spürbar; Manuskripte, Zeichnungen, Fotos, Videodokumente und Schallplatten aus ihrer Sammlung, den Kofferplattenspieler, die Schreibmaschinen, die sie benutzte und sogar ihre Fellmütze kann man bewundern.

Eine Übersetzerin war Mayröcker, nicht nur im konventionellen Sinn (sie übertrug fallweise vom Englischen ins Deutsche), sondern im ureigentlichen Wesen jenes Begriffs: Sie verwandelte und fasste die Bilder, auch die imaginären, vor ihrem inneren Auge erstehenden, augenblicklich in Worte, in Silbenverkettungen, An- und Bedeutungen, Tropen und Metaphern. 
Im Juni 2021 starb Mayröcker, die stets schwarz gekleidete, düster umwölkte  Jahrhundertdichterin, im 97. Lebensjahr. 200 wurde sie, anders als sie das ersehnt hatte, leider nicht. Ihren Partner, den kongenialen Ernst Jandl, mit dem sie seit 1954 liiert war, überlebte Mayröcker um 21 Jahre. Ihre langsamen Blitze könnten, sollten, müssten bis ans Ende der Zeit strahlen.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.