Fünf Oscars für die Unverschämtheit: Amerikas Indie-Kino triumphiert
Mit dem Schlachtruf „Lang lebe der unabhängige Film!“ endete um kurz vor fünf Uhr früh hiesiger Zeit im Dolby Theatre am Hollywood Boulevard die Oscar-Gala 2025. Der amerikanische Regisseur und Autor Sean Baker, der den Abend mit einem Low-Budget-Film über eine schlagkräftige Sexarbeiterin überstrahlte, stellte diese Ansage in ausgerechnet jenen Raum, der traditionell von der US-Filmindustrie dominiert wird. Bakers „Anora“, vor gut neun Monaten schon mit der Goldenen Palme des Festivals in Cannes ausgezeichnet, hatte gerade auch die Königskategorie „Best Picture“ gewonnen. Der 13-fach nominierte Favorit des Abends, das Kino-Musical „Emilia Pérez“, erwies sich am Ende, nicht ganz unerwartet, mit lediglich zwei Oscars (für den besten Filmsong und Nebendarstellerin Zoë Saldaña) als deutlich unterlegen gegen einen Film, der fünf seiner sechs Nominierungen zu Gold machte.
Neben dem Oscar für den besten Film würdigte man „Anora“ auch für Schnitt und Regieleistung, für die beste Hauptdarstellerin („Better Things“-Serienstar Mikey Madison) und das beste Originaldrehbuch. Sowohl Baker als auch Madison zollten in ihren Dankesreden all den Menschen, die Sexarbeit verrichten, höchsten Respekt.
Tatsächlich ist „Anora“ ein zupackendes Werk, in vielen Passagen hochkomisch, jedenfalls einer der lustvollsten, unberechenbarsten, auch turbulentesten Filme des vergangenen Jahres: Eine junge Stripperin (Madison) lässt sich darin von dem nichtsnutzigen Sohn eines Oligarchen zu einer Spontanheirat überreden, was dessen Eltern dazu veranlasst, drei schwere armenisch-russische Jungs zu dem Anwesen zu entsenden, das von dem jungen Paar bespielt wird. Eine Reihe heftiger Komplikationen und Fluchtbewegungen nimmt ihren Lauf: Das Gezerre um die junge Frau, das nicht ohne Sachbeschädigung und Geschrei abgeht, führt quer durch Las Vegas und Brooklyns Brighton Beach. Bakers Talent zur ungeschminkten (und im besten Sinne auch unverschämten) Milieuschilderung ist evident.
Opportunisten und Speichellecker
Wie politisch kann, darf, soll das Kino sein, das die meisten Menschen als bloßen Eskapismus verkennen? Dies war eine der dringlichen Fragen, die Hollywoods diesjährige Oscar-Nacht zu einem denkbar heiklen Zeitpunkt zu beantworten hatte. Im Weißen Haus sitzen seit ein paar Wochen die Barbaren, umringt von Opportunisten und Speichelleckern, während Hollywood, halb abgebrannt in jedem Sinn – physisch, moralisch, ökonomisch –, ums Überleben ringt. Wie sollte man da feiern? Viele der teuren Post-Oscar-Partys waren abgesagt worden und die frei werdenden Budgets an Organisationen gespendet, die Maßnahmen gegen die Brandkatastrophe und ihre Folgen setzen.
So begann der Abend melancholisch, mit einem starken Pathos, das der angeschlagenen Stadt Los Angeles galt: Die „Wicked“-Stars Ariana Grande und Cynthia Erivo sangen ein Medley aus ihrem Zauberfilm, aber irgendwo hinter dem Regenbogen waren keine Antworten auf die gegenwärtigen Fragen zu finden.
Heitere Zeitverschwendung
Moderator Conan O’Brien enterte mit zunächst noch unverbindlichem, aber durchaus zündendem Witz die Bühne, verschwendete absichtsvoll Sendezeit mit einer unterirdischen Musical-Nummer namens „I Won’t Waste Time“. Später wurde er konkreter, moderierte kurzfristig in mehreren Fremdsprachen und brachte mit sachlicher Attitüde eine nicht zu unterschätzende Aktualitätspointe ein: Der Erfolg von „Anora“, sagte O’Brien kühl, gehe wohl auf die große Sehnsucht vieler Amerikaner zurück, „zu sehen, wie sich endlich jemand einem mächtigen Russen entgegenstellt“. Die Oscar-Show sei übrigens ohne jede Künstliche Intelligenz hergestellt, erklärte er noch, allerdings mit Kinderarbeit („Hey, they’re still people!“).
Anti-Hollywood
Immerhin drei Goldstatuetten gingen an einen zweiten, gänzlich un-hollywoodianischen Film: Brady Corbets episch-exzentrisches 70mm-Melodram „The Brutalist“ wurde nicht nur für seinen Hauptdarsteller Adrien Brody, sondern auch für das Zutun zweier Briten, für die Kameraarbeit (Lol Crawley) und den Soundtrack (Daniel Blumberg) geehrt.
Und sonst? Der Schauspieler Kieran Culkin gewann, obwohl er in Jesse Eisenbergs „A Real Pain“ Co-Star ist, einen wohlverdienten Nebendarsteller-Oscar. Die exzellente Posthumanismus-Fabel „Flow“ gewann – als erster lettischer Film überhaupt – den Oscar für den besten animierten Spielfilm; Regisseur Gints Zilbalodis dankte der 3D-Computergrafik-Software Blender, mit der er seinen Film hergestellt hatte. Je zwei Oscars sprach die Academy den Filmen „Wicked“ (für Kostüme – der Designer Paul Tazewell wurde der erste schwarze Preisträger in dieser Kategorie – und Ausstattung) und „Dune: Part Two“ (für die beste Tongestaltung und die besten Visual Effects) zu.
Das iranische Regie-Duo Shirin Sohani and Hossein Molayemi, dessen 20-minütige Arbeit „In the Shadow of the Cypress“ als bester kurzer Trickfilm ausgezeichnet wurde, sprach (angesichts der drakonischen Repressionspolitik im Iran: mutig) auch das „Leiden unseres Volks“ an. Als Präsentatorin rief die unerschrockene Schauspielerin Daryl Hannah „Slava Ukraine!“ („Ruhm der Ukraine“) in den Saal, gefolgt von tosendem Applaus; und das palästinensisch-israelische Team, das den Dokumentarfilm „No Other Land“ ins Leben gerufen hatte, sorgte für starke politische Ansagen, nannte Israels Vorgehen in Gaza eine „ethnische Säuberung“ und kritisierte die Blockade der amerikanischen Außenpolitik in dieser Causa.
Das nach dem Eklat um die islamophoben und rassistischen Tweets der Trans-Schauspielerin Karla Sofía Gascón offenbar dramatisch gesunkene Interesse der Academy an Jacques Audiards Musical „Emilia Pérez“ zeigte sich zuletzt auch in der Wahl des besten internationalen Films: In dieser Kategorie gewann Walter Salles’ höchst sehenswertes brasilianisches Militärdiktatur-Drama „I’m Still Here“, das ab Mitte März in österreichischen Kinos zu besichtigen sein wird. Lang lebe der unabhängige Film!