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Film über die Wiener Arbeiterkammer: Krisenkorridore

Dynamische Sozialbürokratie: Constantin Wulff dokumentiert in dem Film "Für die Vielen" erstaunlich anregend die Wiener Arbeiterkammer.

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Österreichs dokumentarisches Kino kennt viele Seiten, Strategien und Stile: Der bildgewaltigen Poetisierung etwa in Nikolaus Geyrhalters Filmweltreisen steht das kühlere Direct Cinema, an dem beispielsweise Constantin Wulff arbeitet, gegenüber: "Für die Vielen", seine an US-Altmeister Fred Wisemans berühmten Institutionenporträts geschulte Nahaufnahme der täglichen Abläufe an der Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, geriet während des Drehs 2020 in die Malaise der Pandemie - und damit ungeplant zur Langzeitbeobachtung.

Was wurde aus Arbeiterschaft und Sozialstaat unter dem Druck einer sich radikal wandelnden, ins Körperlose treibenden Welt? Dieser größeren Frage folgt Wulff nicht nur in seiner akribischen Aufzeichnung vieler Gespräche zwischen besorgten Arbeitnehmern und sachkundigem Beratungspersonal, sondern auch in seinen - von Kommentaren und Interviews erfreulicherweise freigehaltenen - Beobachtungen auf Organisationsebene in der Chefetage der über 100 Jahre alten Arbeiterkammer. Das mag spröde klingen, aber man erlebt die Dinge, wenn man diesen Film sieht, ganz anders: nämlich erstaunlich plastisch, sehr lebendig, oft sogar mitreißend. "Für die Vielen" ist nah an den vielen Menschen, die in diesem Film kommen, nachfragen und gehen: Ein Sozialpanorama entsteht, ohne Zwang zu spektakulären Bildern oder fiktionalisierender Dramaturgie. Mit Ausbruch der Covid-Krise ändert der Film seinen Tonfall radikal; die Besprechungszimmer, die Büroräume und vormals überfüllten Korridore der Institution liegen plötzlich verlassen da - das Leben stellt sich erst zögernd wieder ein.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.