Für sechs Oscars nominiert: Das Dirigentinnen - Drama "Tár" wagt sich an heikle Themen
Ungläubig sieht Lydia Tár ihrer Existenz beim Entgleisen zu. Ihr Weltruhm, den sie für unantastbar gehalten hatte, wird befleckt, und ihre Familie bricht jäh auseinander. Sie fasst die Konsequenzen ihres Tuns ins Auge. Um eine von der australischen Charakterdarstellerin Cate Blanchett zugleich charismatisch und gespenstisch dargestellte Stardirigentin und Komponistin dreht sich diese Erzählung. Tàr ist so neurotisch wie autoritär, Orchester und Studierende behandelt sie mit einer Schroffheit, die von ihren Bewunderern als Entschlossenheit und Beharrlichkeit gelesen wird.
In einem abweisend grauen Berlin lebt sie mit der Violinistin ihres Orchesters (Nina Hoss) und der gemeinsamen kleinen Tochter zusammen; einzig die Beziehung zu diesem Kind ist in Társ Leben nicht an Gegenleistungen gekoppelt. Der Suizid einer jungen Musikerin setzt eine Kette an Ermittlungen, institutionellen Debatten, Machtverschiebungen und Absagen in Gang, an deren Ende-siehe oben-der Verlust von Stabilität und Anerkennung droht.
Die Intensität dieses Musikerinnendramas, das schlicht "Tár" heißt, ist außerordentlich. Der klangliche Monumentalismus großer Orchester übersetzt sich hier auch in die filmische Form, allerdings nicht in opernhaft überhöhter Manier, sondern auf erstaunlich kühle, modernistische Weise. Denn der US-Regisseur Todd Field, 59, nebenberuflich auch Schauspieler und Musiker, weiß um den Brutalismus seiner Sujets. So lässt er eine ambivalente Charakterstudie entstehen zwischen Sichtbeton, Karrierismus, Doppelleben und Shitstorm. Den visuellen Thrills sind die akustischen ebenbürtig: Die paranoide, übersensitive Protagonistin hört immer häufiger Verstörendes, von gellenden Frauenschreien während des Joggens am Waldrand bis zu kaum rückführbaren nächtlichen Geräuschen in ihrem Apartment.
Todd Field ist ein skrupulöser Arbeiter, der sich die Vorbereitungszeit, die er zur gedanklichen Durcharbeitung eines Projekts braucht, im Übermaß zur Verfügung stellt-gegen alle wirtschaftliche Logik: Obwohl er seit über 30 Jahren Filme macht (er debütierte nach einer Reihe von Kurzfilmen 2001 mit "In the Bedroom"),ist "Tár" erst seine dritte Kinoproduktion-zugleich eine Art Regie-Comeback: Sein zweiter Film, das Kate-Winslet-Drama "Little Children", liegt 17 Jahre zurück. Diese Woche erreicht "Tár",bereits vielfach ausgezeichnet, Österreichs Kinos.
Man sieht dem Film an, wie sehr die stilistischen Steilvorlagen des Regisseurs Michael Haneke als Inspirationen gedient haben. Von der ersten Szene an, die ein fast schon dreistes Haneke-Zitat liefert, beherzigt Field dessen rigorose Lektionen: klare Bildsprache, scharfkantiger Schnitt, ominöse Zeichen, offene Erzählung. Den Kontakt zur österreichischen Editorin Monika Willi, die seit mehr als zwei Jahrzehnten zu Hanekes engsten Komplizinnen gehört, stellte Field schon deshalb her. Sie hat für ihre Montage-Arbeit an "Tár" nun ihre erste Oscar-Nominierung erhalten, steht damit im Zenit ihrer internationalen Karriere. Sie wird am 12. März im Dolby Theatre in Los Angeles sitzen und in mutmaßlich angespannter Stimmung das Öffnen des Briefumschlags erwarten, in dem sich die Entscheidung in der Kategorie Schnitt finden wird. Tatsächlich ist die Montage, die den Charakteren auch ins Wort fällt und Gegenläufiges oft hart gegeneinander setzt, sehr dabei behilflich, den speziellen Tonfall dieses Films zu halten, der zwischen Melodram, Kulturstudie und dem tiefschwarzen Humor einer vorsätzlich zugespitzten morality tale liegt.
Für fünf weitere Oscars wurde "Tár" nominiert, alle in zentralen Kategorien: Als bester Film steht das Werk ebenso zur Wahl (und seine Chancen sind, wenn man Insidern vertrauen will, gar nicht schlecht) wie in den Bereichen Regie, Drehbuch, Kamera-und selbstredend darf auch Cate Blanchett, die diese Inszenierung so souverän beherrscht, als beste Hauptdarstellerin mit einem Oscar rechnen. Lediglich im Bereich Musik ist diesbezüglich ein Versäumnis zu melden: Die isländische Filmkomponistin Hildur Guðnadóttir ("Chernobyl", "Joker") hat den Soundtrack komponiert. Wieso gerade sie von der Oscar-Academy übergangen wurde, ist unklar. Jedenfalls ist "Tár" eine Arbeit, die man unbedingt auf großer Leinwand erleben sollte; auch dies macht sie in Kinokrisenzeiten zu einem der Filme des Jahres.
Und Field fasst unerschrocken Aktualitäten an: "Tár" ist ein Film über Narzissmus, Cancel Culture und missbrauchte Macht, eine Studie der ideologischen Abgründe zwischen den Generationen und der dünnen Luft in den Hochgebirgen der kulturellen Elite. Die Eskalation, die in "Tár" orchestriert wird, ist eine Folge systematisch (und von allen Seiten) aufgebauten Drucks. Die Identitätspolitik schwappt naturgemäß auch hier hinein: Lydia Társ starke Meinungen und polemische Bemerkungen (etwa ihre Skepsis gegen den Formalismus in der Gegenwartsmusik) prägen nicht nur ihre Orchesterarbeit, sondern insbesondere ihre Lehrtätigkeit. Sie wird, weil sie polarisiert, auch provoziert: Ein Student, dem sie das Dirigieren nahebringen soll, teilt ihr mit gespielter Scheu mit, dass er Stücke von Johann Sebastian Bach rundheraus ablehne, weil dessen "frauenfeindliches" Privatleben unvereinbar sei mit der Bewunderung, die man dem alten Meister entgegenbringe. Und die Tabu-Schublade der "weißen männlichen Cis-Komponisten" möchten manche Musikstudierende am liebsten für immer unter Verschluss halten.
Dieser Film beleidigt mich - als Frau, als Dirigentin, als Lesbe.
Auch solch ideologisch umkämpfter Motive wegen ist "Tár" ein alles andere als unumstrittener Film. Die Frage, warum es "ausgerechnet" eine Frau sein müsse, die hier skrupellos ihren Eigeninteressen folgt und dabei über Leichen geht, ist von manchen Seiten in erstaunlicher Lautstärke gegen den Autor und Regisseur Todd Field vorgebracht worden; schließlich werden Autoritätsverhältnisse statistisch viel eher von Männern missbraucht. Das eher schwache Argument, man müsse doch in einer Zeit, in der Frauen erstmals auf dem Weg zur Chancengleichheit auch in der Klassikbranche seien, nicht unbedingt von einer charakterlich derart angeschlagenen Künstlerin erzählen, blendet allerdings aus, dass gerade die unerwartete Volte einer weiblichen Antiheldin das Thema neu und anders zu beleuchten versteht.
Man versteht dennoch, dass die US-Dirigentin Marin Alsop, 66, aktuell als Chefdirigentin des ORF-Radio-Symphonieorchesters in die Querelen um den Fortbestand ihres Klangkörpers verstrickt, sich von "Tár" beleidigt gefühlt hat. Denn ihre Biografie diente offensichtlich als Inspiration zur Konstruktion der Titelfigur dieses Films: Auf Alsops steilen Aufstieg in die vormals rein männlichen Machtsphären ihrer Branche bezieht sich "Tár" ebenso wie auf die offen lesbisch lebende Identität der US-Künstlerin. Die moralische Verderbtheit der Figur, die Blanchett spielt, ist Alsop keinesfalls zu unterstellen, wohl auch deshalb gab sie an, sich von Fields Werk vor den Kopf gestoßen gefühlt zu haben - "als Frau, als Dirigentin und als Lesbe".
Es gehe nicht um Geschlecht in "Tár", sondern um Macht, hat Cate Blanchett dagegen gesetzt-und Macht sei geschlechtslos. Es führt kein Weg daran vorbei: Jede und jeder wird selbst Antworten finden müssen auf die vielen heiklen Fragen, die dieser filmische Gegenwarts-Check so vehement, so bild-und klanggewaltig stellt.