"Gar alles": Martin Walsers neuer Roman
Justus Mall wortjongliert in seinen Episteln so lange, bis er sich sämtliche Lügen wahrgelogen hat. "Ich bin nicht ich", so hebt Walsers neues Buch an, das sich zwar "Roman" nennt, sich aber zu einem solchen nicht fügen will. "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte" ist zwar abschnittsweise brillant flackernde Prosa und sprudelnde Aphorismenquelle, bleibt am Ende jedoch die Camouflage eines Romans.
Walser, 91, befindet sich hier auf heikler Mission: Allem Anschein nach versteht Deutschlands Chefromancier sein jüngstes Buch als eine Art Replik auf die von seinem briefschreibenden Protagonisten als hysterisch wahrgenommene öffentlichen Debatte über sexuelle Übergriffe und #MeToo. Im scharfen Ton des Hämischen rechnet Walser mit mutmaßlich übertriebener Pädagogik und überzogener Political Correctness ab. Mall fordert von seiner imaginierten Geliebten, über die "vom braven Anstand und braver Routine diktierte Verurteilungssucht" erhaben zu sein. Eine Zeitung titelt "Grapscher der Altherren-Riege", weil Malls Zeigefinger sekundenlang den Oberschenkel einer namenlosen Frau antippt. Die poetische Feinwaage zwischen Roman und Zeitessay, Erzählung und J'accuse gerät in "Gar alles" nicht nur ein Mal aus dem Lot. Über die Zeitgeistabgründe helfen jedoch Malls fortgesetztes Innenwelttoben und seine Feier der Ziel-und Zwecklosigkeit mehr als hinweg: "Meine ganze Existenz, ein einziges wishy-washy."
Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte. Rowohlt, 107 S., EUR 18,50