Gecko auf Viagra: John Irvings missglückter neuer Roman
Juan Diego Guerrero ist 54 Jahre alt, und sein Leben macht Pause. Er arbeitet als mäßig erfolgreicher Schriftsteller und Universitätslehrer in Iowa, mittlerer Westen der USA. Die besten Jahre sind lange vorbei. Seine abenteuerliche Kindheit verbrachte er auf dem Gelände der städtischen Abfalldeponie im mexikanischen Oaxaca - der Begriff "Müllkippenkind“ kommt in John Irvings neuem Roman "Straße der Wunder“, in dem Guerrero die Hauptrolle spielt, gefühlte 500 Mal vor. Der junge Juan Diego ist ein Wunderknabe, umweht von einer "schicksalshaften Aura“. Er rettet, gehandicapt durch einen verkrüppelten Fuß, Bücher aus den Feuern der Deponie und bringt sich selbst das Lesen bei. Der erwachsene Guerrero imaginiert sich eine in vielen Farben leuchtende Gegenwart als Bestsellerautor, der von seinen weiblichen Fans bis ins Bett hinein verfolgt wird. Juan Diego, Supersexheld.
Im Grunde steckt in "Straße der Wunder“ der ganze Irving. Der 14. Roman des Autors entrollt erneut die großen Themen: Außenseitertum und Einsamkeit, Sex und Tod, aufgehoben in einer von Groteskem und Skurrilem ausgeschmückten Welt, in der die zwischenmenschlichen Beziehungen kompliziert und unergründlich sind.
"Straße der Wahrheit“ liegen jedoch ambitioniertere Absichten zugrunde. Das Schriftstellerleben Juan Diegos selbst soll zu einem Roman werden - sein Leben und Schreiben, seine Träume und Fantasien sollen unscharf ineinander verschmelzen. Das Dasein und Arbeiten eines Gegenwartsautors, so die uneingestandene Kernaussage des Buchs, pendelt zwischen "Wirklichkeit“ und Fiktion, Realitäten und Ideen, die sich in seinen Romanen verklausuliert wiederfinden. Seinen Guerrero porträtiert Irving, 74, als freibeuterischen Fabulierer, als einen Schriftsteller mit "blühender Fantasie“. Der Traum ein Leben. Als Roman scheitert "Straße der Wunder“.
Sonderbares zum Kilopreis
Guerreros Lebensgeschichte nämlich versenkt Irving in einem mit Schicksalsschlägen und Zufällen toxisch angereicherten Prosa-Strudel. Wunder folgt auf Wunder, Zeichen auf Zeichen. Sonderbares gibt es zum Kilopreis, das Geraune über Wundersames gehört zum Grundton der Erzählung: Geckos, groß wie Hauskatzen, verbergen sich hinter Wandbildern; US-Flaggen zieren tätowierte Soldatenhintern; in einem Hotelaquarium zieht eine diabolische Moräne namens Morales ihre Runden; die Blicke einer gigantischen Marienstatue, der sphinxhaft die Nase abhanden kommt und die zuweilen Tränen vergießt, können töten; schließlich treiben Sukkubi, weibliche böse Geister, die angeblich Sex mit schlafenden Männern haben, ihr Unwesen. Und es dauert nicht lange, bis der frühreife Juan Diego die Avenida de los Misterios in Mexikos Hauptstadt entlang schreitet, die Straße der Rätsel und Mysterien.
Die Schatten und Geister, die als Nebenfiguren durch den Roman irrlichtern, scheinen nur lose an die stoffliche Welt gebunden. Juan Diego, seinen Schriftsteller, der in "Straße der Wunder“ so gut wie nie schreibt, setzt Irving einer trivialen Form des Dialektischen aus: Wirft Guerrero Viagra ein, wird er förmlich von Adrenalin überschwemmt - so lebendige wie verstörende Tagträume sind die Folge; die ständigen Flugreisen, die er unternimmt, verbringt er halbkomatös, auf die Schultern seiner Sitznachbarn sabbernd. Vom Wegdämmern und Tiefschlafen ist hier viel die Rede. Juan erwacht endlosschleifenartig immer in dem Augenblick, in dem das Fluggerät auf seinen Interkontinentalreisen - von den USA über das litauische Vilnius und Hongkong bis auf die westlichste Insel der Philippinen - auf der Landebahn aufsetzt. "Mit ihm reiste eine Art universelle Fremdartigkeit“, heißt es über Juan Diegos Schlummerexerzitien. Was immer das heißen mag. Gönnt sich Juan dagegen eine Portion Betablocker, stellt sich eine gewisse Lethargie ein. Betablocker infiltrieren die Träume, bringen den Schlafrhythmus durcheinander und wirken auf das Traumleben unvorhersehbar.
Jeder Ansatz zu einer schlüssigen Psychologisierung seines Helden opfert Irving dem einförmigen, schlichtweg langweiligen Ping-Pong von medikamentösem Auf und Ab. Die epischen Erzählbögen, die der Autor aus dem freien Spiel von Hochgestimmtheit und Niedergeschlagenheit zu konstruieren sucht, brechen bald in sich zusammen. Selbst mit gutem Willen ist es schwer, die Frage zu beantworten, weshalb Irving seinem lebensträumenden Poeten die Medikamentenration in unendlicher Monotonie an wechselnden Hotelwaschbecken und mithilfe eines Tablettenteilers zuführt. Irving bringt immerhin den Waschtisch als einen zentralen neuen Handlungsort in die Literatur ein.
Mausetote Metaphern
Es grenzt an Ranküne, mit welch abenteuerlich reduziertem Vokabular Irving die epische 800-Seiten-Distanz von "Straße der Wunder“ bestreitet. Ein Priester, der eine Liaison mit einem Transvestiten eingeht, firmiert beharrlich als "Mann aus Iowa“. Juan Diego ist das "Müllkippenkind“. Guerrero trifft später auf einen seiner Ex-Studenten; in enervierender Wiederholung tritt er als "ehemaliger Dozent“ auf. Ein Missionar trägt Hawaiihemden. "Papageienmann“, so nennt ihn Irving ohne Unterlass. Unfreiwillig komisch wirkt, wie Irving daneben mausetote Metaphern wiederzubeleben sucht. Sind Schwierigkeiten zu überwinden, greift er prinzipiell auf die abgegriffene Formel von den fehlenden Hoden zurück: Juan Diego hat "nicht die Eier für Hochseilartistik“. Selbst die Künstlerin unter der Zirkuskuppel moniert, sie habe für den "nächsten Lebensabschnitt nicht die Eier“. Das Rauschen des Meeres signalisiert Gefühl, und das Leben ist nach Irving ohnehin ein langer Akt über ein in die Höhe gespanntes Drahtseil.
"Straße der Wunder“ gibt beharrlich vor, das Hochamt der Fantasie feiern zu wollen, als wäre der Magische Realismus erst gestern erfunden worden; in Endlosrille operiert der Roman mit der Beschwörung: die Fantasie an die Macht! Auf der Ebene des eigentlichen Erzählens - Plot, Figurenentwicklung, Sprache, Szenen - versackt das Buch dagegen in narrativer Monotonie, strapaziert Klischees. "Straße der Wunder“ will ein großes Illusionsstück sein, in dem die Literatur dem Leben nützt - und nicht umgekehrt. "Das echte Leben ist zu schluderig, um als Modell für gute Fiktion zu taugen“, deklamiert Juan Diego hochherzig: "Gute Romanfiguren sind ausgereifter als die meisten Menschen, die wir in unserem Leben je kennenlernen. Figuren in Romanen sind nachvollziehbarer, stimmiger, vorhersehbarer. Romane, sofern sie etwas taugen, sind nicht chaotisch, das wirkliche Leben dagegen schon. In einem guten Roman kommt alles für die Erzählung Wichtige von etwas oder von woher.“
"Hörte er Gespenster?“, fragt sich Juan Diego gegen Ende, nach Hunderten Seiten langatmigen Wundergeschichtenerzählens. "Manches Unerklärliche geschieht wirklich“, staunt er. Auf zum Waschbecken. Tablettenteiler. Adieu Tristesse. Welcome Viagra.
John Irving: Straße der Wunder. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes, 777 S., EUR 26,80