Interview

Geiger: "Irgendeine Verrücktheit braucht der Mensch, um sich in diesem Hundeleben aufrecht zu halten"

Der Vorarlberger Arno Geiger zählt zu den besten Autoren seiner Generation. In seinem neuen Buch enthüllt er ein lang gehütetes Geheimnis. Ein Gespräch über ausgesuchten Abfall und Geigers Genialität im Alltag.

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Arno Geiger, 54, ist immer für eine Überraschung gut. 2005 gewann der Vorarlberger Autor mit dem Roman "Es geht uns gut" den erstmals verliehenen Deutschen Buchpreis, 2011 landete er mit dem Buch "Der alte König in seinem Exil", in dem er von der Alzheimer-Krankheit seines Vaters berichtete, einen Bestseller. Geiger ist ein Autor vieler Stimmen und Formen, der in zwingender Ernsthaftigkeit und ungekünstelter Sprache von den Dingen des Alltags erzählt. In "Das glückliche Geheimnis",seinem jüngsten, fesselnd autobiografischen Buch, enthüllt er, wie er jahrzehntelang Wiens Altpapiercontainer nach alten Briefen und Büchern durchstöberte-und viel über das Leben, Leiden und Lieben lernte.

Herr Geiger, wollen wir über Abfall reden?
Geiger
Gern. Abfall ist eine niedrige, drastisch unterschätzte Wirklichkeit.
Erlauben Sie mir die TV-Talkmaster-Frage: Welche Gefühle löst Abfall bei Ihnen aus?
Geiger
Ich verdanke dem Abfall viel, er enthält einen großen Reichtum. Und natürlich handelt es sich bei Abfall um einen etwas abseitigen Pfad. Aber abseits der üblichen Pfade erlebt man andere Dinge, gewinnt man andere Perspektiven. Das hat mir geholfen, auch als Schriftsteller. Aus dem Abfall habe ich viel über das Leben gelernt.
Wir sprechen nicht zufällig über Abfall. In Ihrem neuen Buch "Das glückliche Geheimnis" berichten Sie von Ihrer Passion, Wiens Altpapiercontainer nach weggeworfenen Briefen und Büchern zu durchstöbern.
Geiger
Man darf nicht vergessen, wie jung ich war, als ich damit anfing. Damals war ich drei-,vierundzwanzig, aus einer kleinen Ortschaft in Vorarlberg stammend, es fiel mir gar nicht so leicht, gewissen Konventionen die Gefolgschaft aufzukündigen. Aber Stadtluft macht frei. Das Durchstöbern der Papiertonnen war wohl nur in der Anonymität der Großstadt möglich.
"Im Müll wohnt die Wahrheit",schreiben Sie in "Das glückliche Geheimnis".
Geiger
Im Vergleich mit Social Media begegnet uns im Abfall das Leben in deutlich weniger geschönter Form, eine ziemlich lebensnahe, bunte Mischung. Im Müll landen Alltagsdinge: nicht Geschliffenes und Sensationelles, sondern Beiläufiges und Zweitrangiges. Der Abfall zeigt uns so, wie wir sind, nicht so, wie wir gerne wären. In den sozialen Medien wird die Aneinanderreihung von Höhepunkten als Normalität ausgegeben. Dagegen fällt das tatsächliche Leben massiv ab.
Durchstöbern Sie zuweilen den großen Abfalleimer namens Internet nach "Arno Geiger"?
Geiger
Vor etwa 15 Jahren habe ich beschlossen, mich selbst nicht mehr zu googeln, und daran habe ich mich gehalten. Man versäumt nichts. Die wichtigen Dinge sprechen sich dann schon zu mir durch.

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Hanser. 240 S., EUR 25,70
 

Der Abfall ist in "Das glückliche Geheimnis" vor allem Anlass, um über Ihr Leben und Schreiben nachzudenken.
Geiger
Alles, was man über eine längere Zeit hinweg macht, verändert die Person, verändert den Blick auf die Welt. Die weggeworfenen Briefe und Bücher haben meinen Blick auf die Welt geprägt. Wie gesagt, immens hilfreich, wie soll ich sagen, Einblicke in das zu bekommen, was Menschen unter Leben verstehen, indem sie es privat aufschreiben. Je mehr ich über das Leben weiß, desto besser finde ich mich darin zurecht, desto mehr habe ich darüber zu sagen. Als Schriftsteller hat das natürlich eine besondere Relevanz. Durch die entsorgten Briefe aus vielen Jahrzehnten habe ich für mich einen Weg gefunden, mir Erfahrungsräume zu öffnen, die mir sonst eher verschlossen geblieben wären. Ich habe viel über das Menschsein gelernt, was meinen Büchern hoffentlich anzumerken ist. Was treibt Menschen an? Wie gehen sie mit Krisen um? Warum sind die einen glücklich, die anderen nicht? Essenzielle Fragen, im Alltag wie in der Literatur.
Was schätzen Sie, was Menschen erwidern, denen man erzählt hat, dass man ein Interview mit Ihnen machen wird?
Geiger
Das sagt je zur Hälfte etwas über A und über B. Die einen werden "großartig" rufen, die anderen werden mit einem Gähnen sagen: "langweilig".
Des Rätsels Lösung: Sie sind in den Augen vieler nett, interessant und neugierig. Stimmen diese Zuschreibungen?
Geiger
Nichts dagegen. Aber sie sind nicht erschöpfend, weil ich auch ein Hitzkopf sein kann-und ein Sturkopf. Im Buch heißt es, ich sei wie eine Katze am Strick, wenn man mich zu etwas zwingen will. Wenn ich das Gefühl habe, man drängt mich in eine Ecke, kann es ungemütlich werden. Jeder Schreibende hat gewisse Stärken. Bei mir ist es sicher so, dass ich nicht das ganz große Ego besitze, das mir so sehr im Weg steht, dass ich mich nicht auf andere einlassen könnte. Im Zwischenmenschlichen bestimmt kein Nachteil.
Der Literaturkritiker Denis Scheck bezeichnete Sie als "Empathiemonster". Monströs erscheinen Sie mir nicht gerade.
Geiger
Meine Frau hat das auch gleich relativiert. Empathisch zu sein, ist vielleicht unter Schreibenden etwas Besonderes, weil viele nicht sonderlich sozial veranlagt sind. Tendenziell hocken sie meistens zu Hause und wollen ihre Ruhe.
Der Geniegedanke dürfte etlichen auch nicht ganz fremd sein. Empfinden Sie sich als Genie?
Geiger
Kein Interesse. Mir geht es allein darum, gute Bücher zu schreiben. Das ist anstrengend genug. Selbstverständlich setze ich mich nicht hin, um etwas Mittelmäßiges zustande zu bringen. Einen gewissen Größenwahn bringen wir alle mit. Wir glauben, dass wir dem vielen, das schon geschrieben ist, Relevantes hinzufügen können. Das ist Größenwahn.
Entdecken Sie an sich zuweilen genialische Züge in Ihrem Alltag?
Geiger
Ich rieche wahnsinnig gut-und kann Gerüche exakt benennen: Dieser Pilz riecht nach Heringslauge! Jener mehr nach Karbol, also Tinte. In der Kunst ist Genie weniger eine Dimension der Qualität als eine der Zeit. Das Genie erledigt in einem Fünftel der Zeit all das, wofür andere eine Ewigkeit brauchen. Ich bewundere Menschen, die nicht unbedingt mit Talent gesegnet sind und trotzdem durch Beharrlichkeit und Methodik Großartiges zustande bringen. Mozart und John Lennon hatten es im kleinen Finger. Was nicht heißt, dass andere nicht ebenso großartige Lieder geschrieben haben, ohne Genies gewesen zu sein.
In Ihrem Buch erzählen Sie auch die Geschichte, wie der kleine Arno aus Wolfurt die Welt entdeckt...
Geiger
...um seinen Platz darin zu finden. Nur wenn ich die Welt in ihrer Komplexität halbwegs einzuschätzen weiß, kann ich mich zu ihr in Beziehung setzen-und entscheiden, wohin ich gehöre. Jede Autobiografie hat am Ende mit Pindars "Werde, der du bist" zu tun. Es ist gar nicht so einfach, der zu werden, der man bestimmt ist, zu werden. Viele scheitern daran.
War der junge Arno Geiger ein viel komplizierterer Mensch als jener, der mir gegenübersitzt?
Geiger
Unbedingt! Ich wollte mir selbst nicht eingestehen, dass ich nun einmal der bin, der ich bin. Ich hatte hochfliegende Vorstellungen davon, wer ich sein könnte, wenn ich mich sehr bemühe. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass gewisse Dinge außerhalb meiner Reichweite liegen und dass es vielleicht klüger ist, sich auf das Vorhandene zu konzentrieren-das ja vielleicht übersehene Möglichkeiten birgt.
War da früher auch mehr Ekel-Arno als heute?
Geiger
Ich war viel ungeduldiger mit meinem Umfeld. Auch hier hat mich der Abfall viel gelehrt. Durch die Lektüre der weggeworfenen Briefe habe ich festgestellt, dass die meisten Menschen ein bisschen merkwürdig sind. Dadurch bin ich mir selbst vertrauter geworden. Natürlich war der Abfall nicht meine einzige Erfahrungswelt. Da gab und gibt es Familie, Partnerschaft, Beruf. Na, jedenfalls, es spräche gegen mich, wenn ich anderen gegenüber nach wie vor so fordernd wäre wie früher.
Man könnte Ihrem Buch vorwerfen, dass Sie vor allem sich selbst umkreisen-und Pandemie und Krieg völlig aussparen.
Geiger
Ich habe mit meinen Streifzügen aufgehört, bevor die Pandemie kam. Warum soll ich das nachreichen? Literatur setzt sich im besten Fall mit den Bedingungen menschlicher Existenz auseinander. Entweder das gelingt auf Basis dessen, was mir in meinem Leben zugestoßen ist-oder es gelingt eben nicht. Ich benötige dazu keine aufgesetzte Tagesaktualität.
Wären Sie insofern der falsche Adressat für eine Einschätzung zum Krieg in der Ukraine?
Geiger
Keineswegs. Natürlich kann man mich fragen, nur hat dieser Krieg in "Das glückliche Geheimnis" keinen Platz. Ich bin Teil dieser Welt, die ich mit anderen teile. Und ich bin zornig und empört über den unfassbaren Zynismus seitens der Russischen Föderation-über diese unfassliche Verdorbenheit!
Rilke schrieb seinen berühmten Brief an einen jungen Dichter. Ist Ihr Buch auch eine Art Fibel für angehende Schreibende? 
Geiger
Ich bin ein gutes Anschauungsbeispiel dafür, dass Umwege die Ortskenntnis erhöhen. Die Frage lautet: Wieviel bin ich bereit zu geben, um meinen Traum zu verwirklichen? Die einen sind bereit, sehr viel zu riskieren, andere zucken früh zurück. Dass es in meinem Fall gut ausgegangen ist, beweist nicht viel. Ich kann niemandem etwas raten, aber ich glaube, dass Künstlerinnen und Künstler sich vorbehaltlos zur Verfügung stellen sollten. Ich erzähle offen, ohne Selbstverliebtheit-und andere können sich zu dem, was ich erzähle, selbst in Beziehung setzen.
Darf man sich Ihr jüngeres Selbst als Mann von der traurigen Gestalt vorstellen?
Geiger
Na ja. Teils, teils. Ich wurde als junger Autor nach Berlin eingeladen. Ich hatte gleichsam über Nacht das Gefühl: Jetzt bin ich Schriftsteller! Jetzt beginnt mein Bohème-Leben! Ich musste allerdings bald feststellen, dass ich diesem nicht gewachsen war. Das Leben als Bohème ist nicht mein Metier.
Ihr Metier scheint mehr der produktive Wahnsinn zu sein, wie Sie in "Das glückliche Geheimnis" bekennen.
Geiger
Irgendeine Verrücktheit braucht der Mensch, um sich in diesem Hundeleben aufrecht zu halten. Das ist mein glücklicher Wahnsinn. Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand derart auf Abwege gerät und sich mit Abfall beschäftigt, einer gesellschaftlich verpönten Materie. Für mich war's ein glücklicher Wahnsinn. Ich trauere meinen Runden nach. Wenn Schönes zu Ende geht, darf man schon ein wenig traurig sein.
Stichwort Traurigkeit: Irgendwann werden wir alle zu Abfall.
Geiger
"Müll" ist wortgeschichtlich verwandt mit Mulch und Mühle, also dem, was zu Staub zermahlen wird. Das entspricht der gängigen Lebenspraxis, dass jeder von uns sterben wird. Dinge bedeuten uns viel, gemessen an dem, was wir in sie investiert haben, an Energie, Kraft, Emotionalität. Beim Erben fällt das weg. Dadurch werden die Dinge zu Plunder. In Wien sagt man: Was man hat, das hat einen. Die Dinge, die uns umgeben, färben auf uns ab. Ein vollgefülltes Leben kann niemals ein erfülltes Leben sein. Das Weggeworfene hat mir das Wegwerfen beigebracht.
Würde es Sie kränken, wenn man Ihr Buch als Ratgeber zum Wegwerfen läse?
Geiger
Das wäre durchaus ein Kompliment. Warum lesen wir? Wir lesen, um unseren Blick auf die Welt zu verfeinern und zu erweitern. Literatur, der das nicht gelingt, ist schlechte Literatur.
Sie hätten es sich leicht machen und Heldengeschichten erzählen können.
Geiger
Dann wäre es ein schlechtes Buch geworden! Es ginge dann nur darum, möglichst gut dazustehen: Seht her, ich habe auch täglich Rosenblüten auf meinem Bett! Und jeden Tag einen spektakulären Sonnenuntergang! Na, bravo! Literatur muss konsequent auch von der Rückseite her erzählen, neben den Schönheiten, die das Leben birgt, gleichberechtigt von den Härten des Daseins berichten. Wenn Literatur das macht, wird sie immer gefragt sein.
Dieses Jahr werden Sie 55. Eine Zahl, die Sie erschreckt?
Geiger
Ich bin lange genug 54, ich wüsste nicht, warum mich 55 auf dem linken Fuß erwischen sollte.
Keine Spur von Midlife-Crisis?
Geiger
Der junge Arno wohnt in mir wie in einer Matrjoschka. Er ist nicht verloren, er hat Anteil an mir, was das Leben insgesamt reicher macht.
Welcher Fund in Ihrem Nachlass wäre Ihnen peinlich?
Geiger
Knut Hamsun hat gesagt, ein großer Künstler sei ein Mensch, der sich selbst nicht peinlich ist. Dem sollte man nachstreben. Wir sind uns viel zu oft selber peinlich, das führt längerfristig, wenn man's übertreibt, zur totalen Verkrampfung.
Die Briefe und Fotos aus dem Abfall, schreiben Sie in "Das glückliche Geheimnis", flüsterten einem auch immerfort zu: Du musst dein Leben ändern! Gilt das noch?
Geiger
Die Beschäftigung mit Abfall war eine Schule des Lebens und in letzter Konsequenz natürlich auch eine Schule des Schreibens. Was mich der Abfall gelehrt hat, geht nicht verloren, weil ich mit meinen Runden inzwischen aufgehört habe. Insgesamt: Nur Idioten ändern sich nicht. Wenn jemand, der ein Buch liest, unverändert zurückbleibt, hat sich die Lektüre nicht gelohnt. Wer Bücher liest, möchte sein Leben ändern.

Tipp: Am 17. Jänner um 20 Uhr liest Arno Geiger im Wiener Akademietheater aus "Das glückliche Geheimnis" und stellt sich den Fragen von Ö1-Journalistin Kristina Pfoser.
 

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.