Georg Friedrich Haas: Seine Vergangenheit als "Nazibub"
Dieses Buch wird seinem Titel mehr als gerecht. In „Durch vergiftete Zeiten“, den Memoiren des Komponisten Georg Friedrich Haas, sind Sätze versammelt, die einen stocken lassen. „Eigentlich hätte ich abgetrieben werden sollen“, schreibt Haas. „Mutti hatte Tuberkulose.“ Er erinnert sich an einen Schulausflug, bei dem er von Mitschülern geknebelt wurde. „Dann legte sich einer von ihnen auf mich und schob mir einen Fichtenzapfen in den Anus.“ Ein Vierteljahrhundert darauf überfällt Haas die Erkenntnis: „Das waren keine Fichtenzapfen. Das waren erigierte Penisse. Ich war vergewaltigt worden.“ Dann der Satz: „Keinen Zweifel gibt es an der Tatsache, dass ich von meinen Eltern emotional missbraucht worden bin.“
„Durch vergiftete Zeiten“ ist kein Erinnerungstableau ohne Wenn und Aber. Das Buch öffnet nie die Schublade mit den Standardsätzen für Kindheits- und Adoleszenz-Aufzeichnungen. Haas heftet sich auf die Spuren der braunen Verstrickungen seiner Familie. Das geht zuallererst ihn selbst an – und ihm selbst nahe. Zugleich berichtet das Buch über das Fortwirken des Nationalsozialismus nach 1945 in den Familien, Dörfern, Städten des Landes. Insofern betrifft „Durch vergiftete Zeiten“ uns alle.
Haas beschreibt eingefrorene Augenblicke. Wie jenen aus dem Jahr 1959. Eine Volksschulklasse, in der die Kinder über eine Zeit erzählten, als „gefährliche Monster“ das Land beherrscht hätten, „Nazis“ mit Namen. „Genau verstand ich nicht, was diese Nazis den Menschen angetan hatten, aber ich war tief beeindruckt – umso mehr, als ich zu Hause niemals von diesen Monstern gehört hatte“, schreibt Haas. Später die Einsicht: „Diese Monster waren meine Eltern und Großeltern.“
Haas wirft in „Durch vergiftete Zeiten“ seine eigene Not aufs Blatt. „Meine Eltern haben mich zum Nazibuben erzogen. Der Schmerz und die Scham darüber, das Ausmaß an Gewalt und Missbrauch, dem ich ausgesetzt war, und die Erinnerung daran vergiften mein Leben bis heute.“
Georg Friedrich Haas: Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben.
Hrsg. v. Daniel Ender und Oliver Rathkolb. Böhlau. 294 S., EUR 42,–
Haas, geboren 1953 in Graz und im vorarlbergischen Montafon aufgewachsen, lebt seit 2013 in New York und lehrt Komposition an der Columbia University. Er hat einen weiten Weg zurückgelegt, vom Vorarlberger Bergdorf in die US-Metropole. In der Filmdokumentation „The Artist & The Pervert“ (2018) spricht Haas offen darüber, dass er in Amerika erstmals die lange unterdrückten sadomasochistischen Neigungen mit seiner vierten Ehefrau, der Autorin und Aktivistin Mollena Williams-Haas, ausleben konnte. Keine pikanten Erotica sind in dem Film zu sehen, sondern zwei Menschen, die ihren manchmal kniffeligen Alltag pflegen.
Kürzlich war Haas auf Wien-Visite. Er bescherte dem Kunsthistorischen Museum beim Neue-Musik-Festival „Wien Modern“ mit der Klanginstallation „Ceremony II“ einen großartigen Abend: 75 Musikerinnen und Musiker verwandelten die Gemäldegalerie in ein begehbares, wundersam verschlungenes Farbtonlabyrinth, untermalt vom Holzbodenknarren und
-knarzen der durch die Gänge wandelnden Besucher. Haas kann in seiner Kunst beides: schön schwer und federleicht sein.
So kompromisslos wie konsequent ist er in seinem Schreiben und Komponieren. „Für meine Texte wie auch für meine Musik gilt: Es muss so klar und so wahr und so gut wie möglich sein“, sagt er beim Treffen an einem diesigen Novembertag in der Wiener Innenstadt. Mollena begleitet Haas überallhin, er ist ohne sie nicht denkbar. „Erst durch die Begegnung mit Mollena lernte ich, dass Verstecken und Verdrängen das Dümmste ist, was man machen kann, dass man sich so nur selbst beschädigt.“
Ich habe das Gift gegessen und getrunken.
Über das Unglück, in eine Nazifamilie geboren worden zu sein, sprach Haas bereits vor Jahren in vereinzelten Interviews und Reden. Schmerzlich genau erzählt er seine Geschichte in „Durch vergiftete Zeiten“, mitten ins braune Herz seiner Großeltern und Eltern zielend, die nach 1945 die Ideologie des Nationalsozialismus unverbrüchlich hochhielten. Haas reiht Kurzkapitel an Kurzkapitel, erzählt mit Emphase und Empathie, Wut und Warmherzigkeit, Zorn und Verständnis.
„Das Gift der Vergangenheit war in mir verborgen“, sagt Haas. „Meine Geschichte trug ich mit mir herum. Das Buch schrieb ich im Kopf tausend Mal, bevor ich es tatsächlich niederschrieb. Diese unendlich vielen virtuellen Dialoge mit meinem Großvater im Kopf, die eigentlich immer Monologe waren – wenn ich diese Kopf-Gespräche zusammenzähle, komme ich auf eine Rededauer von sechs Monaten! In diesem Buch ist das Gewicht von Jahrzehnten.“ In „Durch vergiftete Zeiten“ ist zu lesen: „Ich habe das Gift eingeatmet, es gegessen und getrunken, es ist in meine Haut gedrungen. Diese Wunden zu heilen, ist eine lebenslange Aufgabe.“
Um die Scham und Trauer zu verstehen, die „Durch vergiftete Zeiten“ durchziehen, muss man Haas durch die Jahrzehnte folgen, die er auch damit verbracht hat, sich von seiner Nazivergangenheit loszureißen. Großvater Fritz Haas, ein bekannter Architekt und bis 1942 Rektor der Technischen Universität in Wien, war überzeugter Nationalsozialist. Von ihm stammen Pläne für die Umgestaltung des Grazer Schlossberges in Blut-und-Boden-Architektur, er verantwortete Kraftwerksbauten und die Bunkerkraftstation des Tauernkraftwerks Kaprun, errichtet von Zwangsarbeitern. Fritz Haas lieferte eine jüdische Familie an die Gestapo aus und denunzierte einen seiner Nachbarn, der später im Konzentrationslager ermordet wurde. Fritz war der „Übervater“ der Familie.
Über seinen Vater Friedrich erzählt Haas im Buch: „Er war mit seinem Geschütz auf dem letzten Wagen eines Eisenbahnzuges durch Frankreich unterwegs, als er von Partisanen beschossen wurde. Er sah sie in einem Kirschbaum sitzen und ergänzte, dies sei sehr unvorsichtig, geradezu selbstmörderisch gewesen. Er schoss mit der Fliegerabwehrrakete auf sie und sah sie herunterfallen. Auf meine Frage, ob er auch ihre Gewehre gesehen habe, schwieg er.“
Friedrich konnte sich vom Hitler-Wahn ebenfalls sein Leben lang nicht lösen. „Mein Vater war kein Keller-Nazi, sondern ein Balkon-Nazi“, sagt Haas. „Er war stolz darauf, seiner nationalsozialistischen ‚Gesinnung‘ immer treu geblieben zu sein, und gab das öffentlich kund.“ Die Großeltern und Eltern versuchten nach 1945 gar nicht erst, Distanz zum Nationalsozialismus vorzutäuschen. Einmal Nazi, immer noch Nazi. Das Braune mit der bürgerlichen Fassade. „Ich bin Zeuge“, schreibt Haas. „Zeuge des fortgesetzten Nationalsozialismus im Privaten – nur oberflächlich kaschiert in der Öffentlichkeit. Wer die heutige Geschichte Österreichs verstehen will, sollte über das Wirken dieser Halbgeheim-Nazis Bescheid wissen.“
Geschichte verläuft dennoch selten linear, in reinem Schwarz-Weiß. Haas’ Großmutter, die Ehefrau des Architekten, ist ein solcher Fall. Uneinsichtig bis zum Ende ihres Lebens. Eine NS-Fanatikerin bis zum Schluss. „Das schmerzt“, schreibt Hass. „Dafür schäme ich mich. Aber trotz allem: Ich liebe sie noch heute. Ich verdanke ihr unendlich viel. Und vor allem: Sie war die Einzige unter meinen Eltern und Großeltern, die mir das Gefühl gab, geliebt zu werden.“ Die Großmutter ermunterte den Enkel, den von den Nazis verfemten Schönberg am Klavier zu üben. Sie bestand darauf, dass sie dereinst nicht vor Gott, sondern vor eine Göttin treten werde.
Ex-Cathedra-Verkündigungen findet man in „Durch vergiftete Zeiten“ nicht. Dafür ist Haas im finsteren Spiegelkabinett seiner Familiengeschichte zu sehr verfangen. „Die Vergangenheit liegt hinter mir“, schreibt Haas. Der letzte Satz dieser Anklage lautet: „Ich habe noch viel zu tun.“ Das Buch muss sich für Haas wie ein Sieg anfühlen. Wie die Befreiung aus dem Säurebad der Scham.
„Ich gehe davon aus, dass ich meine Toten wiedersehen werde, nicht in Fleisch und Blut, dafür in anderer Form“, sagt Haas im letzten Novemberlicht. Begegnete ihm dann sein Großvater Fritz, würde er ihm sagen: „Verschwinde, du Schwein!“ Mit seinem Vater wäre er in Frieden. „Im Buch ist keine Spur von Hass gegen ihn. Mein Vater und ich waren beide Nazis im selben Alter, mit dem Unterschied, dass er im Sumpf stecken blieb und ich mich herausgezogen habe.“