Gerhard Roth: Sätze und Staub
Der Gockel kräht sein Kikeriki. Die Hühner blinzeln aus zuckenden Augenlidern in die Welt. Man könnte glauben, Gerhard Roth spazierte jeden Augenblick über die Wiese zum Nussbaum, leise vor sich hin pfeifend, als wäre er nie weg gewesen. Zumindest glauben das die Hühner vom Nachbargrundstück, die der Schriftsteller unter dem Nussbaum, seinem Sommerarbeitsplatz, gern fütterte.
Roth ist Anfang Februar 79-jährig an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben. Das Federvieh blickt betreten um sich, wie nur Hühner schauen können, weil es keine Brotkrumen mehr gibt.
Ein früher Mainachmittag im Dorf Sankt Ulrich im Greith in der Gemeinde Sankt Martin, südliche Steiermark. Senta Roth sitzt auf der verblassten Holzbank im Baumschatten mit Blick auf eine sanft hügelige Landschaft und dahingewürfelte Häuser. Es dürfte wenige Menschen geben, die Gerhard Roths Geschichte besser kennen als sie.
Senta Roth sieht man ihre 74 Jahre nicht an. Sie ist eine lebendige Erzählerin, die sich auch an die Zeit vor fast 50 Jahren gut erinnert. Senta und Gerhard Roth, der damals noch ein Schriftsteller nach Feierabend war, lernten einander 1975 im Grazer Rechenzentrum kennen, wo Roth zu Beginn der Computerzeit als Angestellter arbeitete. Ab 1978 bewohnte Gerhard Roth in der Gemeinde Obergreith ein Haus ohne Wasser, das Klo ein Metallkübel. "Senta und Gerhard Roth im Dichterhaus Koppitsch", vermerkt eine Postkarte mit Schwarzweißfoto aus jener Zeit. Roth adelte die Keusche zur Dichterkammer.
Er wanderte von Gehöft zu Gehöft, schrieb Notizbücher voll und machte unzählige Fotos, näherte sich dem Land und den Leuten. Faszinierende Bücher entstanden, wie "Landläufiger Tod" (1984) um Franz Lindner, den scheinbar stummen Sohn eines Bienenzüchters. Gegen Ende des Romans, in dem Tiere, Blätter und Steine sprechen können, gibt Lindner ein einziges Wort von sich: "Nein!"
"Gerhard hat seinem Schreiben alles geopfert", erinnert sich Senta Roth. "Er war darin so kompromisslos wie konsequent. Wir unternahmen viele Reisen. Urlaub machten wir nie."
In "Die Imker", Roths soeben postum veröffentlichtem Roman, in dem der ergraute Franz Lindner als Patient einer Einrichtung für psychisch beeinträchtigte Künstlerinnen und Künstler die Katastrophe einer nahezu vollständigen Menschheitsauslöschung überlebt, notiert der Autor: "Wer nicht lesen kann, stirbt."
Über das Schreiben lässt er Lindner sagen: "Ich bin süchtig danach. Ich habe Entzugserscheinungen, wenn ich es nicht kann oder darf, weil die Umstände es verhindern. Ich verliere meine ohnehin fiktive Persönlichkeit, ich werde ein plattgedrückter, überfahrener Frosch und trockne aus, bevor ich zu Erde oder von den anderen Tieren gefressen werde."Die umfassende Skizze über die Tierwelt in Roths Büchern steht noch aus. Nicht nur Hennen und Hähne tummeln sich darin, auch Heuschrecken und Hornissen, Blindschleichen und Blattfußkrebse, Kühe und Krokodile.
Und immer wieder die Bienen des Imkersohns Franz Lindner.
"Die Imker" ist ein gutes Beispiel dafür, wie Roth die Welt sah. Mit dem Ungefähren hat er sich nie zufriedengegeben, er ging den Dingen und Umständen auf den Grund. Schreiben als das Ausloten ungleicher Schnittmengen, in den mehrbändigen Zyklen "Die Archive des Schweigens" und "Orkus" in die Tat umgesetzt: Geisteskrankheit und Normalität, Insektenkosmos und Weltall, Land und Stadt, der Mehrfachmörder Franz Fuchs und der Fußballtrainer Ivan Osim in Porträts. Vieles in Roths Romanen, Reportagen und Essays korrespondiert schließlich mit Österreichs Geschichte. Wenn es draußen im Land politische Erschütterungen gab, kam das Beben irgendwann auch in den Büchern des Autors an. Der Brand in der Wiener Hofburg. Das Skandalöse, Operettenhafte, Gespenstische der Innenpolitik. Das Verdrängen und Verschweigen der Nazi-Zeit.
"Die Imker" ist die Selbstbefragung eines Außenseiters, bevor die Welt endgültig zu Staub und Scherben zerfällt (zumindest in Lindners Augen).Roth verzichtet auf grelles Untergangsflair, was dem Buch einen unheimlichen Grundton verpasst. Endlich die Apokalypse ohne Rums und Peng. Letztlich ein großes Buch über den Wahn der sogenannten Normalität.
Vor 100 Jahren hätte man Gerhard Roth wohl "Polyhistor" genannt, den kauzigen Universalgelehrten vom Sankt-Ulrich-Hügel. Brille, Vollbart, Professorenblick, brummiges Naturell. Der Postbeamte, der ihm lange die Buchpakete zugestellt hatte, rief nach der Todesnachricht Senta Roth unter Tränen an.
Umfangreich war am Ende Roths Krankenakte, dieses nervtötende Einerlei von Diagnose und Blutwerten, Krankenhaus und Therapie. Etwa der Trümmerbruch des linken Schienbeins mit dem klaffenden Loch in der Haut. "Es war ein wunderschöner Sonnenaufgang im Dezember", erinnert sich Senta Roth. "Gerhard ging im Morgenmantel und in Sandalen hinaus, um ein Foto davon zu machen. Er kam zu Fall und zog sich eine fürchterliche Fraktur zu." Das Foto machte er dennoch. Es ist auf der Rückseite mit "Nach Sturz und Beinbruch, 13. Dezember 2011" beschriftet. Später folgten viele Wochen, die er aufgrund von Lungenembolien und Infektionen in Krankenhausbetten verbringen musste, halb liegend, dennoch immer weiterschreibend. Dann kam der Krebs dazu.
Umzingelt von Hahn und Henne, wischt Senta Roth im Garten über ihr Handy. Auf dem Display erscheint das Foto einer Frau, die mit beiden Händen in eine mintgrüne Kartonkiste greift und daraus Stöße von Notizbüchern in unterschiedlichen Farben und Formen schaufelt.
Womit wir bei Daniela Bartens, 59, wären. Anruf am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Universität Graz. Bartens betreute ab 2001 den Vorlass von Gerhard Roth, seit Februar sortiert und ordnet sie Berge an neuem Material. "Wo anfangen?", lacht Bartens.
"Gerhard war im besten Sinne ein Besessener. Er wollte alles, was er in der Welt wahrnahm, retten. Das Archiv, das ein zentraler Teil seines Werks war und ist, diente ihm dazu als eine Art Arche Noah." Roth, ein überaus genauer Denker, Sammler und Schreiber, hat über die Jahrzehnte eine ziemlich einzigartige Fülle an Welt, wunderbares, wild wucherndes Wissen zusammengetragen. In dem geduckten Haus neben dem Nussbaum stehen Regalreihen voller Bücher. Ein Wissenskabinett von unschätzbarem Wert, eine Papierschatzkammer.
Im Nabl-Institut lagern aktuell 165 Archivboxen mit handschriftlichen Materialien, dazu Hunderte Notizbücher, Tausende Bände aus seiner Wiener Bibliothek, der Briefverkehr mit 2895 Korrespondenzpartnern, weit über 40.000 Fotos. Über 20 Jahre hat Bartens eng mit Roth zusammengearbeitet. "Sein Tod ist noch immer unfassbar. Er fehlt uns allen."Bartens ist derzeit mit der Sichtung von Nachlieferungen aus dem Nachlass beschäftigt, aller Voraussicht nach noch auf Jahre hinaus. "Werkfassungen, Recherchematerialien, Briefe, was immer er seinem Archiv einverleiben wollte, liegen zur weiteren Bearbeitung in meinem Büro. Dazu Eintrittskarten in die Sturm-Graz-Arena, Petitionen für einen syrischen Künstler, Aussendungen des Mauthausen-Komitees." Nur der Autor selbst ist nicht mehr da. "Im Grunde genommen sind Gerhards Bücher das Archiv",sagt Bartens. Das Archiv selbst sei immer die Leiter gewesen, die Roth beiseitegestellt habe, sobald der jeweils neue Band erschienen sei. "Die Imker", so verabschiedet sich Daniela Bartens am Telefon in Graz, sei die Arche Noah.
Darin ist zu lesen: "Bücher zeigen das wahre Gesicht der Wirklichkeit, indem sie diese mit dem ersten Satz zerstören und eine neue errichten. Du befindest dich auf deinem Stuhl, in deinem Bett und bist zugleich geflohen oder abgehauen, verreist in eine neue Dimension, in der du augenblicklich-und für alle unsichtbar-beteiligst bist."
Beim Nussbaum in Sankt Ulrich soll bald ein Erinnerungsort an Gerhard Roth entstehen, seine Asche beigesetzt werden. Es ist ein hübscher Zufall, dass sich hier, wie in der ganzen Umgebung, tief unter der Erdoberfläche noch Schächte und Höhlen des einstigen Kohleabbaus finden, längst stillgelegt und zumeist zugeschüttet. Mit dem Aushöhlen und Umpflügen, Durchstöbern und Umgraben wusste Roth selbst viel anzufangen.
Roth starb am 8. Februar im Grazer Landeskrankenhaus. Vor dem einwöchigen Spitalaufenthalt hatte er noch Fotos in Mappen geordnet. "Fototagebuch Juli, August 2021-Insekten, Hühner, Enten",verkündet das handschriftliche Etikett auf der Mappe mit den Nahaufnahmen des Federviehs, allesamt unterm Nussbaum hinterm Haus mit der Kamera festgehalten. Insgesamt habe Gerhard an diesem Tag 701 Prints eingeordnet, erinnert sich Senta Roth. An dem Buch, an dem er schrieb, wollte er so bald wie möglich weiterarbeiten. Senta Roth hat noch den Satz im Ohr: "So, das schreibe ich fertig, sobald ich nach Hause komme."Zwei der geplanten drei Teile hat Roth vollendet. "Jenseitsreise" steht als Titel auf dem Manuskript.
Gerhard Roth: Die Imker. Mit Illustrationen von Erwin Wurm. S. Fischer, 549 S.,EUR 32,90