Goldene Palme für den französischen Body-Horrorfilm „Titane“
Man glaubt es kaum, aber in der 74-jährigen Geschichte des Filmfests an der Croisette hat es volle 74 Jahre lang gedauert, ehe es möglich war, eine Frau zur alleinigen Hauptpreisträgerin zu küren. 1946, bei den allerersten Festspielen in Cannes, wurde die Dänin Bodil Ipsen geehrt, als Ko-Regisseurin der Resistance-Hymne „Rote Wiesen“, das jedoch nur einer von elf ex aequo mit dem Grand Prix (die Palme d’or wurde erst ab 1955 vergeben) ausgezeichneten Filme war. Dann kam, aus weiblicher Sicht, fast ein halbes Jahrhundert lang nichts, bis 1993 die Neuseeländerin Jane Campion mit dem Melodram „Das Piano“ gewann – allerdings auch sie nur ex aequo (mit Chen Kaiges „Lebewohl, meine Konkubine“).
Seither sind wieder fast drei Jahrzehnte verstrichen. Doch gestern Abend hatte die Ignoranz ein Ende: Die Französin Julia Ducournau, 37, wurde für ihr nervenaufreibendes Spektakel „Titane“, eine wahnwitzige Kreuzung aus Body-Horror, Queerness-Studie und Familientrauerspiel, mit der Goldenen Palme des Festivals ausgezeichnet. In dieser bizarren Fabel von der jungen Serienkillerin (drastisch dargestellt von Kinoneuling Agathe Rousselle), die auf der Flucht ihre geschlechtliche Identität ändert, über ihr libidinöses Verhältnis zu Autos aber in eine Schwangerschaft gerät, die etwas anders verläuft als üblicherweise. Kleine Andeutung: Metall unter der Bauchdecke – und Motoröl statt Fruchtwasser. Ein gestählter Feuerwehrkommandant (Vincent Lindon) nimmt sie gegen alle Vernunft als Ersatz für seinen vermissten Sohn bei sich auf und lässt sie bei seinen Männern mitarbeiten.
Die Jury um Spike Lee (USA), die unter anderem mit den Regisseurinnen Jessica Hausner (Österreich) und Mati Diop (Frankreich/Senegal) und dem Filmemacher Kleber Mendonça Filho (Brasilien) besetzt war, hat sich also (nicht nur diesbezüglich) als kompetent erwiesen – und eben nicht Konsensentscheidungen getroffen, sondern die vergleichsweise radikalsten Filme des Wettbewerbs als preiswürdig ausgewählt. Die beste Regie erkannte man in Leos Carax’ dunkel schimmernder Musical-Groteske „Annette“, das beste Drehbuch in Ryusuke Hamaguchis und Oe Takamasas Adaption einer Kurzgeschichte des Japaners Haruki Murakami, die Hamaguchi zu einem dreistündigen Künstlerdrama namens „Drive My Car“ verarbeitete. Der Spezialpreis der Jury ging an zwei – einander allerdings nicht ebenbürtige – Filme: an Apichatpong Weerasethakuls gloriose Welt- und Kino-Meditation „Memoria“ sowie an Nadav Lapids übernervöse Nahost-Allegorie „Aheds Knie“. Ihren Grand Prix splittete die Jury ebenfalls auf: Der Finne Juho Kuosmanen erhielt ihn für seine raubeinig-empathische Reise-Romanze „Abteil 6“, der Iraner Asghar Farhadi für seinen Schuldnerkrimi „Ein Held“.
Zur besten Schauspielerin machte man die Norwegerin Renate Reinsve, die in Joachim Triers Tragikomödie „The Worst Person in the World“ eine beziehungstechnisch Ruhelose porträtiert, als besten Akteur den jungen Texaner Caleb Landry Jones, für seine Darstellung eines Massenmörders in Justin Kurzels „Nitram“.
Und auch aus österreichischer Sicht lief es in Cannes 2021 hervorragend: Das von der britischen Regisseurin Andrea Arnold geleitete Gremium der Nebenschiene „Un certain regard“ vergab ihren Prix du Jury an Sebastian Meises ebenso präzise wie warmherzig gefertigtes Gefängnisdrama „Große Freiheit“, in dem Franz Rogowski und Georg Friedrich zwei Häftlinge spielen, die – trotz enormer Wesensdifferenzen – über die Jahre eine innige Liebe zueinander entwickeln.