Der Maler und Künstler Gottfried Helnwein in seinem Atelier in der Wiener Innenstadt

Gottfried Helnwein: "Putin? Und was war mit den Amerikanern!"

Der Künstler Gottfried Helnwein erinnert sich an seinen Freund Manfred Deix, an legendäre Ausschweifungen und brillante Provokationen - und beklagt im Gespräch den "Terror" der politischen Korrektheit und die "Propagandamaschine" der USA.

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Mindestens so bekannt wie seine international gefeierten fotorealistischen Monumentalwerke ist das Bild, das der Maler Gottfried Helnwein, 73, von sich selbst entworfen hat: In kühles Schwarz gehüllt, mit Rockstar-Sonnenbrille und obligatem Kopftuch, so steht Helnwein, auf Kurzbesuch in seinem Wiener Innenstadtatelier, auch profil Rede und Antwort. Helnwein, der zwischen Irland, Los Angeles und Wien pendelt, war mit dem 2016 verstorbenen Zeichner Manfred Deix, der mit seinen Cartoons neben dem "Spiegel" auch profil veredelte (oder besser: verschärfte),von Studienzeiten an lebenslang befreundet. Anlass für das Interview ist der Kinofilm "Rotzbub", inszeniert von dem Bayern Marcus H. Rosenmüller und dem spanischen Trickfilmprofi Santiago López Jover, ein Animationsstück in Deix-Anmutung als Deix-Hommage. Mit Deix beginnt das Gespräch, das sich aber, wie alles dieser Tage, bald auch um die Schrecknisse in der Ukraine dreht.

profil: Herr Helnwein, wie erinnern Sie sich an Manfred Deix?
Helnwein: Manfred war der am wenigsten angepasste Mensch, den ich je getroffen habe. Er war ein genialer Anarchist, immer im Rundumschlag, vollkommen unkontrollierbar, unerziehbar und unbelehrbar. Es wirkt für mich wie ein Wunder, dass er bei seinem wilden Leben, seinen Alkoholexzessen und diesem Zigarettenkonsum ein so großartiges satirisches und poetisches Lebenswerk hinterlassen konnte.

profil: Waren Sie Teil der Deix'schen Ausschweifungen?
Helnwein: Meist bis in den Morgen. Wollte ich den Rückzug aus dem Wirtshaus antreten, schimpfte Manfred: "Du Verräter! Du altes Weib!" Er zog tage-, nächtelang weiter. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat. Ich wäre längst tot gewesen.

profil: Deix war berüchtigt dafür, die Abgabezeiten für seine Cartoons zu überziehen.
Helnwein: Seine Kreativität war von seinen körperlichen Zuständen vollkommen entkoppelt. Er konnte nach mehreren schlaflosen Nächten und Unmengen von Alkohol noch im Morgengrauen, lange nach dem letzten Abgabetermin, blitzschnell einen seiner genialen Cartoons zu Papier bringen. Die Redakteure des profil hat er damit regelmäßig an den Rand des Irrsinns getrieben.

profil: Wie entstanden seine Zeichnungen?
Helnwein: Er war unfassbar schnell. Manfred war ein Phänomen. Ich kenne viele gute Zeichner. Aber er war anders. Er wusste selbst nicht, wie ihm bei der Arbeit geschah. Seine Hand glitt über das Papier - und plötzlich war etwas da, über das er selbst am meisten gestaunt und gelacht hat.

profil: Deix starb 2016. Wie sehr fehlt er?
Helnwein: Mit seinem Tod ging eine Ära zu Ende. Wir waren die Kinder der Generation, die für den Weltkrieg und den Holocaust verantwortlich war. Das Klima nach dem Krieg war unglaublich repressiv. Als wir versuchten, uns etwas längere Haare wachsen zu lassen, wurde uns nachgerufen: "Gammler, Hippies! Es g'heat's vergast!" oder: "Da Hitler g'herat wieda her!" Ich erinnere mich an ein Schild an der Tür eines Wirtshauses, auf dem stand: "Für Hunde, Gammler und ähnliches Gesindel Eintritt verboten". Manfred wuchs ja praktisch im Wirtshaus seines Vaters in Niederösterreich auf, und er erinnerte sich an Stammtischsprüche wie: "Der Jude ist die Distel auf dem Felde." Die Jugendrevolte der 68er, dieser machtvolle Generationswechsel, war eine historische Notwendigkeit. Der Bruch zwischen unserer Elterngeneration und uns war so groß wie kaum je in der Geschichte. Danach erlebten wir einen regelrechten Freiheitsrausch. Wir wollten alle Regeln brechen und das ganze Spießertum hinwegfegen, wir hatten die naive Vorstellung, dass uns niemand mehr etwas zu befehlen hatte, dass uns nichts mehr aufhalten konnte.

profil: Deix und Sie rührten unentwegt an Tabus.
Helnwein: Wir wollten alle Tabus brechen, und die Grenzen dessen, was zulässig war, ständig verschieben. Einmal präsentierte Manfred der amerikanischen "Penthouse"-Redaktion seine Mappe. Die Leute dort waren sprachlos von der Qualität seiner Arbeit, aber sie grinsten und sagten: "Sie glauben doch nicht, dass so etwas hier in Amerika jemals veröffentlicht werden kann." In Österreich herrschte doch eine erstaunliche Toleranz gegenüber künstlerischen und visuellen Äußerungen. Im Gegensatz zum puritanischen Erbe Amerikas hatten wir noch etwas von dem Geist der barocken Bilderflut der Gegenreformation. Der Wiener Aktionismus ist ein prominentes Beispiel. In der Kunst herrschte damals die Sehnsucht nach Anarchie, nach der Vernichtung alles Bürgerlichen.

profil: Wie muss man sich das vorstellen?
Helnwein: Wolfgang Bauer erfand zum Beispiel eines Tages im Wirtshaus spontan ein Spiel namens "Free-Schach". Die Maler Franz Ringel und Eduard Angeli sowie der Choreograf Hans Kresnik saßen am Tisch. Der erste Zug ging so: Bauer warf ein Bierglas an die Wand, und jeder folgende musste dann ärger sein als der vorherige. Ringel nahm also sein Feuerzeug und zündete den Vorhang an, kurz darauf brannte das ganze Lokal lichterloh. Ringel rief: "Schachmatt", und alle brunzten sich an vor Lachen.

profil: Wie schwierig war es, an Tabus zu rütteln?
Helnwein: Es war ganz leicht. Es war ein Rausch, aus innerer Notwendigkeit. Dazu gehörte auch die Selbstzerstörung durch Saufen, Rauchen und Drogen.

profil: Was würde Deix heute zeichnen?
Helnwein: Der Manfred ist viel zu früh gegangen. Es gibt so viel kostbares Material, das jetzt leider ungenutzt bleibt: Ich denke nur an den Wiener, der dafür bestraft wurde, weil er bei einer Polizeikontrolle einen lauten Schas ließ. Oder das berüchtigte "Beidl-Gate" mit den 1000 Zumpferln, die auf dem Handy eines Politikers gefunden wurden. Für Manfred wäre das alles wie Weihnachten gewesen!

profil: Die politische Revolution von 1968, deren Ziel auch der Pazifismus war, ist mit dem Krieg in der Ukraine unwiderruflich gescheitert.
Helnwein: Ach, die ist viel früher gescheitert. Ich denke nur an den Traum der linken Elite vom "Marsch durch die Institutionen": Da marschierten Schily, Fischer und Mahler ganz links unten hinein und kamen ganz rechts oben wieder heraus. Bei diesem Marsch haben die Institutionen eindeutig gewonnen. Fischer arbeitete dann für die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright, die von einer Reporterin gefragt wurde, ob die brutalen Sanktionen gegen den Irak, die 500.000 Kindern das Leben gekostet haben, den Preis wert waren. Sie antwortete: "Ja, sie waren es wert." Horst Mahler war der konsequenteste in seinem Rechtsruck: Er wurde gleich Vorstandsmitglied der rechtsextremen NPD.

profil: Wie ist es um die von den Achtundsechzigern erkämpften Freiheiten bestellt?
Helnwein: Wir verlieren täglich mehr von jener Freiheit, von der wir einmal annahmen, sie sei irreversibel. Das amerikanische Imperium überzieht die ganze Welt mit einer raffinierten Propaganda, die Orwells und Huxleys dystopische Visionen verblassen lassen: Diese neue Political Correctness, die Woke- und Cancel-Culture nehmen uns die Luft zum Atmen, zerstören jedes Recht auf freie Meinungsäußerung. Sie ist die raffinierteste Form der Zensur, die es jemals gegeben hat, weil sie im Mantel des Gutmenschentums daherkommt. Es ist der Terror der Pseudo-Opfer. Das Internet ist in den Händen einer kleinen Bande von Supermilliardären in Silicon Valley, die für den militärisch-industriellen Komplex arbeiten. Millionen Menschen, Künstler, Wissenschafter, Politiker werden willkürlich zensuriert oder permanent aus den sozialen Medien verbannt. Wir erleben eine digitale Lynch-Kultur, die alle rechtsstaatlichen Regeln aushebelt. Im Internet können Aktivisten Ankläger, Richter und Exekutor in Personalunion sein und Existenzen beliebig vernichten.

profil: Amerika ist also an allem schuld?
Helnwein: Man muss zwischen den Menschen und der politischen Elite unterscheiden. Aber die Gier der Führer des angloamerikanischen Imperiums kennt keine Grenzen. Amerika lässt immer zuerst seine Propagandawalze rollen, um ein Land zu verteufeln, bevor man es niederbombt. Als 1999 Serbien dran war und wir Tag und Nacht zu hören bekamen, wie schlecht die Serben seien, hat es Peter Handke gewagt, seine Liebe zu diesem Land, den Menschen und seiner Kultur kundzutun, worauf ihm alles um die Ohren flog. Wenn wir das Recht auf Meinungsäußerung verlieren, verlieren wir alles. Es gibt keine Demokratie ohne freie Rede. Man muss ständig auf der Hut sein: Verstößt ein Wort, das vor zwei Wochen noch erlaubt war, nicht inzwischen gegen die neuesten Regeln der politischen Korrektheit? Kunst braucht totale Freiheit und auch das Recht, gegen bürgerliche und politische Konventionen zu verstoßen.

profil: Kunst geht zu weit, wenn sie ins Propagandistische kippt: Können wir uns darauf einigen?
Helnwein: Ästhetik wird missbraucht, wenn sich autokratische Systeme ihrer bedienen: Die Nazis haben dies in ihren theatralischen Inszenierungen und Choreografien sehr geschickt gemacht. Leni Riefenstahl und Arno Breker ließen sich instrumentalisieren, Hugo Boss entwarf die SS-Uniformen. Hier war die Kunst eben nicht frei, sondern unterwarf sich einem politischen Diktat, einer politischen "Korrektheit". Ich kenne aber kein Beispiel, wo ein Künstler durch die zu freie Ausübung seiner Kunst irgendjemandem geschadet hätte. Freiheit in der Kunst kann nie zu weit gehen. Der Traum vom Sieg der Linken über den Kapitalismus ist auf jeden Fall ausgeträumt. Die Wahrheit ist: Der Neo-Kapitalismus hat den endgültigen Sieg davongetragen. Die Welt wird von einer kleinen Clique von Monopolisten und Superkapitalisten reguliert. Zwei Staaten, die noch nicht völlig unter dieser Herrschaft des US-Imperiums stehen, sind Russland und China. Russland ist gerade dabei, sich selbst zu demontieren, weil Putin in eine Falle gegangen ist.

profil: In welche Falle?
Helnwein: In die Kriegsfalle. Er wollte den lange anhaltenden Konflikt mit der Ukraine und die Bedrohung durch das immer weitere Vordringen der NATO militärisch lösen. Das war ein schwerer Fehler. Jeder Krieg ist ein Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung gibt. Die tägliche Berichterstattung erweckt aber den Eindruck, als hätte die Welt im Frieden gelebt, bis Putin, das größte Monster aller Zeiten, aufgetaucht sei. So hat die westliche Welt die extremsten Sanktionen über Russland verhängt, die es je gegeben hat. Menschen, die zufällig in Russland geboren sind, werden diskriminiert und boykottiert. Sportler dürfen nicht mehr an Paralympics und anderen Sportveranstaltungen teilnehmen, russische Balletttänzer, weltberühmte Dirigenten und Opernsängerinnen werden fristlos gefeuert. Vor allem die Empörung der Amerikaner mutet seltsam an, denn seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Amerika im permanenten Kriegszustand. In diesen Kriegen starben nach verschiedenen Schätzungen bisher 30 bis 50 Millionen Menschen. Zig Millionen wurden verletzt und verstümmelt, ganze Nationen wurden in die Steinzeit und ins Chaos zurückgebombt. Der Friedenspreisträger Barack Obama ließ Zehntausende Bomben in sieben Ländern abwerfen. Er überbombte damit sogar Bush. Laut offiziellen Statistiken werfen die USA jeden Tag im Schnitt 46 Bomben ab. Obamas Drohnen haben mehr Menschen getötet als die Inquisition in Hunderten von Jahren. Laut CIA-Dokumenten waren mindestens 89 Prozent der Getöteten unschuldige Zivilisten, viele davon Kinder. Haben Sie je gehört, dass irgendjemand deshalb Sanktionen gegen Amerika verlangt hat? Wurde amerikanischen Künstlern oder Sportlern deswegen Auftrittsverbot erteilt?

profil: Putin führt den ersten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit 1939.
Helnwein: Und was war, als die Amerikaner 1999 Belgrad bombardiert haben? Ich war in Belgrad, als meine Ausstellung im Museum of Contemporary Art eröffnet wurde, und habe die Ruinen der zerbombten Gebäude gesehen. Orwell hat gesagt: Die mächtigste Form der Lüge sei die Auslassung, und es sei die Pflicht der Historiker sicherzustellen, dass sich diese Lügen nicht in die Geschichtsbücher einschleichen. Wenn ein Außerirdischer auf die Erde käme und sich erkundigte, wer dieser Hitler gewesen sei, könnte man wahrheitsgemäß antworten: Er wurde in Österreich geboren, malte eine Zeit lang kleine Aquarelle, liebte Hunde und die Oper, vor allem Richard Wagner, war Vegetarier, wurde in Deutschland zum Reichskanzler gewählt, baute Autobahnen und heiratete kurz vor seinem Tod Eva, seine lebenslange Geliebte. Jedes Wort davon ist wahr, und trotzdem wäre es eine gigantische Täuschung und Lüge. So funktioniert Propaganda am effektivsten.

profil: Gut, die Argumentation ist alt. Schon Joachim Fest hat in seiner Biografie geschrieben, dass Hitler, wäre er 1938 gestorben, als großer Politiker in die Geschichte eingegangen wäre. Natürlich muss man immer das gesamte Bild sehen.
Helnwein: Genau. Aber das ist nicht so leicht. Wie kann ich falsche von richtigen Informationen unterscheiden? Wie kann man das Geflecht von Manipulation, Propaganda und Lügen durchstoßen? Tatsache ist, dass das angloamerikanische Imperium die größte und raffinierteste Propagandamaschine aller Zeiten errichtet hat. Einer der wichtigsten Gründungsväter dieses Instruments war Edward Bernays, ein Neffe Sigmund Freuds und ein Experte für Massenpsychologie. Er formulierte sein Ziel in seinem Hauptwerk "Propaganda" deutlich: "die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen".Er arbeitete für Regierung, Militär und Großkonzerne. Er schrieb: "Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist. Wenn wir den Mechanismus des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern."Dagegen war Goebbels, der übrigens ein großer Bewunderer Bernays' war, ein Neandertaler.

profil: Wenn in den USA alles gesteuert ist: Wie sehen Sie dann die russische Autokratie?
Helnwein: Russland ist ganz sicher genauso korrupt wie China, die USA, Saudi-Arabien und alle anderen Länder. Die Illusion, es gäbe eine Herrschaft ohne Korruption, habe ich längst verloren. Mit dem Ende der Sowjetunion ist in Russland ein Machtvakuum entstanden-ein gefährlicher Moment. Damals rissen sich einige junge Leute, die späteren Oligarchen, die Reste der Sowjetwirtschaft unter den Nagel. Damit konnten sie das Kapital auf wenige Leute verteilen, wovon einige mit USA und CIA eng verbunden waren. Amerika greift stets dort zu, wo ein Land Schwäche zeigt. Die USA agieren völlig kolonialistisch: in Guatemala, in Vietnam, Chile, Kuba und so weiter. Unter Jelzin, einem schweren Alkoholiker, war die CIA in Russland omnipräsent. Putin hat versucht, mit diktatorischen Mitteln die Souveränität Russlands zu retten. Er wollte nicht, dass Russland zum Vasallenstaat Amerikas wird, wandte dabei nichtrechtsstaatliche Mittel an, er kam ja aus dem KGB. Damit schaffte er es, Russland relativ unabhängig zu halten.

profil: Sie haben Verständnis dafür, dass Putin den Marschbefehl auf die Ukraine unterschrieben hat?
Helnwein: Überhaupt nicht. Ich bin gegen jede Art von Krieg. Wer immer mit Waffen gegen andere vorgeht, begeht ein Verbrechen. Aber man muss Verhältnismäßigkeiten und Zusammenhänge feststellen dürfen. Die Empörung des amerikanischen Imperiums wirkt eigenartig, wenn man bedenkt, dass es selbst die Welt seit Jahrzehnten mit Kriegen überzieht.

profil: Joe Biden ...
Helnwein: ist leider schwer dement und weiß meist gar nicht, wo er ist und worum es geht. Kürzlich hielt er eine Rede zum Krieg in der Ukraine und sagte: Mit seinen Panzern werde Putin "die Herzen der Iraner nicht gewinnen". Er hatte wieder etwas durcheinandergebracht. Es ist offensichtlich, dass er eine Marionette ist, es ist wie immer der sogenannte Military Industrial Complex, der die Entscheidungen trifft.

profil: Wird Putin aus den falschen Gründen gehasst?
Helnwein: Er hat ein Verbrechen begangen. Jeder Krieg ist kriminell. Aber es gibt größere Zusammenhänge, die man nicht außer acht lassen sollte. Ich verteidige Putin nicht, beschönige nichts. Aber man sollte bei aller Kritik nicht das größte Ungeheuer, den militärisch-industriellen Komplex der USA, übersehen, der seine Hände im Spiel hat. Fast jeder Krieg seit 1945 ist auf Amerikas Einfluss zurückzuführen.

profil: Das klingt nach Verschwörungstheorie.
Helnwein: Der Begriff "Verschwörungstheorie" dient als Waffe gegen jeden, der es wagt, das offizielle Narrativ infrage zu stellen. Die "New York Times" hat Robert Kennedy Jr. erst kürzlich beschuldigt, Verschwörungstheoretiker zu sein, weil er behauptet, Sirhan Sirhan könne seinen Vater nicht erschossen haben. Tatsächlich steht gerichtsmedizinisch fest, dass die tödlichen Schüsse von hinten aus ganz kurzer Distanz in Kennedys Hinterkopf abgegeben worden waren. Sirhan Sirhan aber stand vor Kennedy, kam nicht näher als zwei Meter an ihn heran. CIA-Direktor William Colby hat einmal gesagt: Die CIA "besitzt" jeden, der irgendeine Bedeutung in den Medien hat.

profil: Wieso leben Sie dann noch immer in den USA?
Helnwein: Es gibt ja auch das andere Amerika, das Land, wo Entenhausen liegt, in dem meine Kinder leben und viele meiner Freunde. In Los Angeles habe ich die beste Zeit meines Lebens verbracht, und es ist schmerzlich, zusehen zu müssen, wie das einst freieste Land der Welt angeschlagen ist und langsam in die Knie geht. Bei diesem Zusammenbruch wird Amerika aber auch Europa und den Rest der sogenannten abendländischen Kultur mitnehmen. Los Angeles ist der geeignete Ort, um diesen Prozess direkt aus der ersten Reihe in Echtzeit zu verfolgen. Ich war immer besessen von dem Drang, zu wissen, was wirklich los ist. Schon früh in meiner Kindheit hatte ich ständig das Gefühl, angelogen zu werden. Ich spürte, dass mir etwas verschwiegen wurde. Niemand hat je den Holocaust erwähnt, auch nicht in der Schule. Der einzige schwachsinnige Satz, den ich da gehört habe, war: "Österreich war das erste Opfer Hitlers." Irgendwann wurde mir klar, dass alle offiziellen Versionen der sogenannten Wirklichkeit in der Regel Märchen sind, dass ich mich auf eigene Faust auf die Suche nach Wahrheit machen musste.

profil: Sie verstehen sich als politischer Künstler?
Helnwein: Ich beanspruche dieses Etikett nicht, aber es lässt sich nicht vermeiden, dass meine Arbeiten auch aus einem historischen und politischen Kontext bestehen. Als ich ungefähr 14 war, fand der Prozess gegen den NS-Massenmörder Franz Murer statt, der unzählige Juden ermordet hat und berüchtigt für seinen Sadismus und die Verhöhnung der Opfer war. Der Prozess war eine einzige Schmierenkomödie, wo man sich über die jüdischen Zeugen lustig machte, bis sie weinend zusammenbrachen. Als der "Schlächter von Vilnius", wie er genannt wurde, freigesprochen wurde, was von vielen Österreicher bejubelt wurde, zerbrach etwas in mir; ich verlor mein Grundvertrauen in die Gesellschaft. Damals begann ich geradezu obsessiv zu recherchieren und mich mit dem Holocaust und der Geschichte der Gewalt auseinanderzusetzen. Das ist das Kernthema meiner Arbeit geblieben: die Gewalt, vor allem gegen Wehrlose.

profil: Haben Sie nicht auch Zensur erfahren?
Helnwein: Natürlich. Bei meiner ersten Teilnahme an einer Gruppenausstellung im Wiener Künstlerhaus wurden meine Bilder mit der Aufschrift "Entartete Kunst" überklebt, eine Schau in der Galerie im Pressehaus wurde wegen Protesten der Belegschaft nach drei Tagen abgebrochen, in einer Galerie in Mödling wurden Bilder von der Polizei beschlagnahmt, und meine Installation "Neunter November Nacht" in Köln wurde von Unbekannten mit Messern schwer beschädigt. Mich interessierten diese Reaktionen sehr.

profil: Weil Sie damit etwas erfahren haben?
Helnwein: Ja, ich wusste jedes Mal, dass ich meinen Finger auf eine wunde Stelle gelegt hatte. Ein Redakteur der "Presse" stellte mich einmal zur Rede, weil ihm die Bilder meiner verwundeten Kinder nicht aus dem Kopf gingen und den Schlaf raubten, wie er sagte. Er habe sich gefragt, ob ich ein Sadist sei oder ein Wahnsinniger. Ich stellte ihm die Gegenfrage, ob er im Krieg Soldat gewesen ist. Er sagte: "Ja, wie alle."Ich fragte ihn, ob er Leute sterben gesehen hatte, ob er selbst getötet habe. Er meinte nur: "Möglich." Ob er mit den Bildern von damals schlafen könne? "Ja",sagte er. "Das war eben der Krieg." Ich sagte: "Es ist doch interessant, dass der reale Tod und das Töten Sie nicht belasten, aber dass Ihnen meine Aquarelle, die nichts sind als Fiktion, nur aus Papier und ein paar Milligramm Farbpigmenten bestehen, den Schlaf rauben." Damals wurde mir klar, dass es nicht meine Bilder waren, die die Leute aufregten, sondern ihre eigenen, ganz hinten in ihren Köpfen. Kunst hat offensichtlich die Fähigkeit, unbewusste Bereiche zu berühren und das Grauen in den Köpfen der Menschen freizusetzen.

profil: So dachte auch Manfred Deix.
Helnwein: Ja. Wir publizierten im profil einmal eine Art Doppel-Cartoon, meiner bezog sich auf den NS-Arzt Heinrich Gross, der in einem Interview freimütig zugegeben hatte, 800 Kinder getötet zu haben. Ganz human, wie er sagte, indem er ihnen Gift ins Essen gemischt hatte. Es gab keine Reaktion, keinen empörten Leserbrief. Zur gleichen Zeit trat im Fernsehen erstmals ein Mann ohne Krawatte auf, es hagelte Briefe und Anrufe entsetzter Zuschauer, die das Ende des Abendlandes nahe wähnten. Ich dachte, vielleicht haben die Leute einfach keine Vorstellungskraft, und malte eine Art offenen Brief an Gross: ein totes Kind mit dem Kopf im Teller. Deix malte parallel dazu Friedrich Peter, der jahrelang in einer SS-Einheit gedient hatte, die zahllose Menschen liquidierte. Auf unsere Arbeiten gab es dann doch heftige Reaktionen, und ganz langsam begann sich auch die Justiz mit dem Fall Gross zu beschäftigen. Ein Bild kann in Bereiche des Unbewussten eindringen, die durch verbale Kommunikation nicht erreicht werden können.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.