GRISCHKA VOSS: "In allem, was ich tue, gebe ich mich immer vollkommen preis. Nur wer offen ist, kann berühren."

Grischka Voss: "Angesichts des Todes ist eigentlich alles scheißegal"

Grischka Voss beschreibt in ihrem Buch das Aufwachsen in einer neurotischen Theaterfamilie, den Verlust ihrer Eltern und wie es sich anfühlte, immer ein "Außenseiter" zu sein.

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2014, das war die totale Katastrophe, der Untergang in Episoden, ein "Bodenerlebnis" reihte sich an das nächste. Immer wieder sagte sie sich damals: "So, das ist es jetzt. Tiefer geht's jetzt wohl nicht mehr." Und dann ging es doch noch einen Dreh weiter hinunter.

Im schlimmsten Jahr ihres Lebens begleitete Grischka Voss ihren 72-jährigen Vater Gert Voss beim Sterben. Danach versuchte sie verzweifelt, ihre Mutter ins Leben zurückzuhieven, woran sie völlig scheiterte -Ursula Voss sollte ihren Mann um nur vier Monate überleben. "Meine Mutter kam nicht mehr aus ihren Depressionen heraus. Meine Eltern waren wie eins, und ohne ihn wollte sie einfach nicht weiterleben. Was mich manchmal richtig wütend gemacht hat: Schließlich waren ihr Enkel und ihre Tochter ja auch noch da."

Knapp vor ihrem Tod hatte Ursula Voss noch mit den exorbitanten Regressforderungen der Versicherung zu kämpfen, da Gert Voss die Dreharbeiten zu der ORF-Serie "Altes Geld" aufgrund seines Gesundheitszustands hatte abbrechen müssen: "Meiner Mutter blieb damals eigentlich überhaupt keine Zeit, um meinen Vater zu trauern. In einem Selbstzerfleischungsstrudel durchforstete sie Tag und Nacht seine Krankheitsgeschichte, um zu sehen, wo der Fehler bei seiner Behandlung gelegen ist. Sie war nämlich der Meinung, dass der eigentliche Arzt sie war. Ursprünglich wollte sie ja Ärztin werden."

Nach einer Pause sagt sie "Völlig irre, oder?", und setzt einen rauen Lacher hinterher, der signalisiert, dass sie von klein auf an familiären Irrsinn gewohnt war, der sie oft nervte, aber auch Teil ihres Lebenselixiers ist. Um das Ausmaß der Katastrophen abzurunden: Nach dem qualvollen Sterben der Mutter zerbrach die fast 20 Jahre währende Beziehung mit dem Vater ihres Sohnes Emil, mit dem sie -häufig am Existenzminimum schrammend - das bernhard ensemble gegründet und das dazugehörige OFF-Theater in Wien-Neubau aus dem Boden gestemmt hatte. Auch das war alles mit der Trennung weg. Und dann "ist noch meine Katze gestorben". Den Tod der Katze in eine Reihe mit diesen Tragödien zu stellen, mag seltsam anmuten. Aber es entspricht Grischka Voss' Art, die Welt zu sehen: Extratrocken, frei von Sentimentalitäten, ohne einen Funken Selbstmitleid und getragen von einem Faible, noch in den größten Katastrophen das Komische, Absurde und Groteske aufzuspüren.

ARM, ABER GLÜCKLICH: Gert und Ursula Voss mit Grischka in einem von ihm gestalteten Album.

Ihr Buch, das die 48-Jährige innerhalb weniger Monate im Frühjahr dieses Jahres schrieb, betitelte sie mit dem Lebensmotto ihres Vaters: "Wer nicht kämpft, hat schon verloren". Das letzte Kapitel über das Sterben ihrer Eltern hackte sie an einem einzigen Wochenende in die Tastatur: "Ich habe in diesen zwei Tagen kaum gegessen und getrunken. Es war reinigend und auch sehr befreiend, diesen ganzen Schmerz noch einmal durchleben zu können. Ich bin durch die Hölle gegangen, aber hatte überhaupt keine Zeit gehabt, das auch nur irgendwie zu verarbeiten. Ich musste ja funktionieren -für meinen Sohn. Hätte ich Emil nicht gehabt, wäre ich wahrscheinlich total abgestürzt."

So wie sie im Gespräch erzählt - direkt, ungeschönt, voll schwarzem Humor und schonungslos mit sich selbst -, so schreibt sie auch. Nahezu ohne Grenzen und ohne Tabus, in einem Rhythmus, der eine Sogwirkung entfaltet, wird man beim Lesen in eine Kindheit und Jugend katapultiert, die von Aufbruchstimmung, Liebe, aber auch Ängsten und Kämpfen geprägt war. Selbst in jener Szene, in der Mutter und Tochter sich im Spitalszimmer vom Toten verabschiedeten, ehe die Bestattung den Leichnam abholte, findet Grischka Voss im Schmerz einen Funken Woody Allen: Meine Mutter streichelte und berührte ihn in einem fort. Immer wieder stand sie auf, beugte sich über ihn und sprach zu ihm, küsste ihn auf die Stirn, die Augenlider, den Mund. Sie holte ihr iPad und begann, ihn zu fotografieren. Mit Tränen in den Augen bat sie mich, sie mit meinem Vater zu fotografieren. Es kam mir merkwürdig und unpassend vor, aber ich wagte nicht, ihr diesen Wunsch zu versagen. Ich empfand es als falsch, einen Toten zu fotografieren, fast so, als würde man ihn damit stören. Ich machte ein paar Fotos und gab ihr das iPad zurück. Sie lächelte traurig und sagte, sie wolle auch mich mit meinem Vater fotografieren. Das kam mir noch unrichtiger vor, aber ich wollte meine Mutter nicht noch trauriger machen. Also antwortete ich völlig absurd: "Gut, aber ich möchte auf dem Foto nicht lächeln." Was für ein grotesker Dialog, dachte ich, wie in einem Woody-Allen-Film!

Möglicherweise wird es Menschen geben, die mit ihrer freien Art, solche Intimitäten preiszugeben, nicht umgehen können: "Doch der Mensch, von dem ich hier erzähle, war für mich nicht der unantastbare Theatergott, sondern mein Papi. Und in allem, was ich tue, egal, ob es sich um mein Leben oder meine Theaterarbeit handelt, gebe ich mich immer vollkommen preis. Denn nur wer offen ist, kann auch berühren. Deswegen bin ich da auf eine perverse Art hemmungslos."

Ihre Reise durch das eigene Leben beginnt mit einer Enttäuschung, die sie ihren Eltern schon bei der Geburt bereiten musste. Beim Räumen des Dachbodens entdeckte Grischka einen Ordner mit Briefen des Vaters an seine Mutter Marion, dort stand zu lesen: Liebstes Muggelchen! Vergiss nie, dass wir deinen Rat immer brauchen und die Heimat, die du uns gibst. Der Mümmelmann bekommt die wunderbarste Großmutter der Welt! Er soll Kai Oliver heißen oder Marc Oliver, wenn er ganz dunkle Haare haben sollte."

FAMILIENALBUM: Grischka mit ihrem Vater bei der Premiere von "Ritter, Dene Voss" 1986.

Grischkas Kindheit ist geprägt vom Geist der 1970er-Jahre, hitzigen politischen Diskussionen, alternativer Pädagogik, den künstlerischen Existenzkämpfen des Vaters, der "zu kantig und markant war, um als jugendlicher Liebhaber durchzurutschen, und lange kämpfen musste, bis man sein Talent überhaupt erkannte". Als ein "Gauklerkind" war man außerdem sozial totes Gebiet und wurde nicht zu den Geburtstagsfesten der Mitschüler eingeladen: "Ich war immer der Außenseiter, auch wegen unserer vielen Umzüge. Besonders in Bochum war das markant. Da erfand ich mir dann meine Familie, um auch bei den Bürgerlichen Anerkennung zu finden: Ich behauptete, dass wir sehr reich waren, mein Vater Arzt war und erbettelte mir Plastiktüten in Benetton-und Fiorucci-Läden, um auch ein bisschen dazuzugehören." Das Geld war vor allem in den Anfangsjahren in Stuttgart, zu den Hoch-Zeiten der RAF (einmal wurde die Mutter als Terror-Verdächtige auf offener Straße von Beamten in Zivil beinahe verhaftet) chronisch knapp, sodass der delikatessenversessene Vater mit seiner Tochter manchmal "klaufen" gehen musste: Da meine Eltern fast kein Geld hatten, war es absolut üblich, dass das eine oder andere Lebensmittel einfach geklauft wurde, meine Lieblingswurst, die Gelbwurst, etwa. Ich war darauf trainiert, sie in Windeseile auf dem Weg zur Kasse hinunterzuschlingen. Meine Mutter hingegen steckte die geklauften Sachen einfach in ihre Handtasche, mein Vater ließ die Beute durch die stets löchrigen Taschen seiner Jacken oder seines braunen Plüschmantels ins Futter gleiten. Kurz vor Weihnachten hatte er hatte das Bedürfnis, ein paar Schweinereien zu klauen, wie eine kleine Entenleberpastete oder ein Döschen Billig-Kaviar. Plötzlich trat ein Mann an uns heran, sagte leise zu meinem Vater, er sei Ladendetektiv. Wir sollten ihm bitte folgen Wir trotteten bedrückt hinter dem Ladendetektiv her. Ich nahm die Hand meines Vaters, um ihm zu zeigen, dass ich bei ihm war. Wir nahmen in einem kleinen Büro an einem grauen Tisch Platz. Der Mann betrachtete uns beide. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass ein Kind anwesend war. Mit leiser Stimme erklärte er, er habe genau gesehen, dass mein Vater eine kleine Kaviardose eingesteckt hatte. Mein Vater blickte zu Boden und seufzte. Ich spürte, jetzt war der Moment, um mit dem Weinen anzufangen. Das tat ich auch, und es fiel mir nicht schwer, denn mir war wirklich zum Weinen zumute.

Mit dem Vater lebte Grischka ihren Spieltrieb aus: Gemeinsam spielten wir stundenlang Filme oder Fernsehserien nach. Unser Favorit war "Daktari". Mein Vater spielte den Tierarzt Dr. Marsh, den schielenden Löwen Clarence, die Schimpansin Judy ( ) , ich war Paula, die Tochter. Die Spiele waren immer hochdramatisch, und ich steigerte mich dermaßen hinein, dass ich furchtbar weinen musste. Ihren Sinn für Situationskomik kultivierte sie mit ihm; auch noch am äußersten Rand seines Lebens, so erzählt sie, hatten die beiden einander manchmal angesehen und gemeinsam losgelacht: "Mein Vater war irrsinnig lustig und ein ewiges Kind Ja, natürlich auch ein Narzisst, aber er war sich dessen bewusst. Er hat zeitlebens versucht, gegen seinen Narzissmus anzukämpfen." Der Mutter, "einerseits eine Löwin, die sich stets schützend vor die Familie warf und bis zum Umfallen arbeitete", war das Talent für eine solche Lebensenergie nicht gegeben. In den Bochumer Jahren verfiel sie in eine tiefe Depression. Tagelang lag sie lethargisch auf der Couch, redete kaum etwas und lutschte Haselnüsse aus riesigen Milka-Schokoladen, die sie säuberlich neben sich auf einem Taschentuch anhäufte. Eines Mittags, als Grischka aus der Schule kam, fand sie die Mutter schlafend vor; doch dann fiel ihr Blick auf die leeren Tablettenschachteln neben dem Bett, und sie bemerkte, dass sich ihre Arme und Beine "schwer anfühlten und wie Zementsäcke auf die Matratze zurückfielen". Der Notarzt kam gerade noch rechtzeitig, später wurde der Suizidversuch vor dem Kind tabuisiert: "Offiziell hieß es, dass meine Mutter an einer Stoffwechselerkrankung litt."

Mit den Eltern beim Opernball in Wien.

Ein Tabu, das Grischka Voss sich selbst auferlegte, waren die Vorkommnisse mit dem "Grabscher-Opa", wie sie insgeheim ihren Großvater mütterlicherseits nannte. Immer wieder empfand sie als Kind seine Berührungen nicht so, "wie es sein sollte". Erst als sie 19 oder 20 war, wagte sie, sich zur Wehr zu setzen: "Ich ertappte ihn, als er mich beobachtete, wie ich nackt schlief. Dann begann ich, ihn wüst zu beschimpfen und auf ihn loszutreten, dass er beinahe von der Treppe fiel. Er flüchtete daraufhin, und ich bekam von allen zu hören, wie ich dem armen Opi das nur antun konnte." Sie lacht. Nie, auch später nicht, konnte sie sich überwinden, den Eltern davon zu erzählen: "Ich hatte das Gefühl, dass ich das meiner Mutter einfach nicht antun konnte. Ich habe lange gezögert, das in meinem Buch anzudeuten, aber vielleicht kann ich den vielen, die Ähnliches erleben, so die Kraft geben, diese Übergriffe nicht stillschweigend in sich hineinzufressen."

Richtige Gespräche, "wo es ans Eingemachte ging", führte sie mit den Eltern eigentlich nie: "Da sind mein Sohn und ich ganz anders, wir reden über alles."

Ähnlich wie der Vater, der heimlich Schauspielunterricht genommen hatte und pro forma studierte, nahm sie auch den steinigen Weg: Sie arbeitete als Kulturjournalistin beim ORF, um sich ein Schauspielstudium in New York finanzieren zu können, ehe sie mit ihrem Lebensgefährten ihr eigenes Ensemble gründete. "Mein Vater wollte mich, glaube ich, vor dem Beruf schützen. Er sagte immer wieder: 'Dafür bist du zu sensibel.' Er wusste, mit wie viel Demütigungen, Enttäuschungen und Frustrationen er zu kämpfen hatte. Während der Direktion Hartmann hat er fast nichts zu spielen bekommen, was er als sehr demütigend empfand. Er hatte auch so furchtbare Angst, vergessen zu werden. Er war wie ein Rennpferd, er musste auf der Bühne stehen. Er spielte dann viel in Berlin, was mit der Fliegerei einem totalen Raubbau an seiner Gesundheit gleichkam. Nur: Er wollte Wien nicht mehr verlassen. Er hatte große Hoffnungen, dass er unter Karin Bergmann wieder voll eingesetzt werden würde."

Das Alter und den Tod hatten die Eltern immer erfolgreich verdrängt: "Es wurde auch keine Vorsorge getroffen. Mein Vater war bis zu seinem letzten Augenblick fassungslos, was da mit ihm geschah. Er schickte mir von seinem Bett aus viele fragende Blicke. Für Männer wie ihn ist der Verlust der körperlichen Kraft, die Hilflosigkeit, in einem Rollstuhl sitzen zu müssen, ausgeliefert zu sein, bereits das Ende. In der Nacht vor seinem Tod sagte er nur:'Wenn das so bleibt, dann möchte ich nicht mehr leben.'"

Das Buch ist für Grischka Voss der Auftakt für ein neues Leben: "Ich fange jetzt eigentlich wieder ganz von vorne an. Das klingt sicher sehr merkwürdig: Aber irgendwie hat mich der Verlust meiner Eltern auch befreit. Denn ich habe jetzt nichts mehr zu verlieren. Dieses Gefühl gibt einem auch Mut, macht einen fast unverwundbar. Denn hey, angesichts des Todes ist eigentlich alles scheißegal."

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort