Große Raffael-Ausstellung in Wiener Albertina
Es ist, als könnte man einem der bedeutendsten Künstler der Weltgeschichte über die Schultern schauen: Wenn Achim Gnann, Kunsthistoriker in der Wiener Albertina, in seinem Büro vom Renaissancemeister Raffael erzählt, schildert er dessen Arbeitsvorgänge so anschaulich, dass man den Maler förmlich vor sich sieht. Wie klopfte er mithilfe von durchlöcherten Kartons und Kohlesäckchen Umrisse auf Bildträger? Warum verwendete er mal diesen Stift, mal jenen? Und wie entstand aus seinen Zeichnungen schließlich ein Gemälde? Mit Fragen wie diesen befasste sich Gnann, Experte für italienische Kunst des 15. bis 19. Jahrhunderts, in den vergangenen Jahren intensiv.
Ikonen der westlichen Kunst
Seit 2015 bereitete er jene Schau vor, die ab 29. September in der Albertina zu sehen sein wird. Sie soll zeigen, welche Arbeiten aus der Hand Raffaels dazu dienten, seine Malereien vorzubereiten: Mit rund 130 Zeichnungen und 20 Gemälden - darunter Leihgaben aus dem Pariser Louvre, den Florentiner Uffizien, dem Vatikanischen Museum und dem Ashmolean Museum in Oxford - wartet man auf, um den Besucher gewissermaßen an die Seite des Genies zu setzen. "In der Ausstellung sollen verschiedene Entwicklungsschritte in Raffaels Arbeit gezeigt werden“, so Gnann. Im Fall einiger Gemälde muss man sich freilich mit Reproduktionen oder Projektionen helfen - nicht nur bei den Fresken, sondern auch bei manchen Werken wie der "Madonna im Grünen“ aus dem nahen Kunsthistorischen Museum, die aus konservatorischen Gründen nicht reisen dürfen.
Raffael (1483-1520), neben Leonardo da Vinci und Michelangelo einer der drei einflussreichsten Künstler der italienischen Renaissance, schuf Ikonen der westlichen Kunst. Neben der "Schule von Athen“ in den Stanzen, den Privatgemächern des Papstes, und der "Galatea“ in der römischen Villa della Farnesina sind zahlreiche seiner Madonnenbildnisse tief im kollektiven Kunst-Gedächtnis verankert. Das populärste ist wohl die um 1512 entstandene "Sixtinische Madonna“, heute in der Dresdner Gemäldegalerie beheimatet. Die beiden Engelchen, die am unteren Bildrand der Komposition lümmeln und gelangweilt ihre Augen gen Himmel drehen, machten sich regelrecht selbstständig und zieren heute T-Shirts, Postkarten, Kaffeetassen, Süßigkeiten und Regenschirme. Doch auch jenseits kommerzieller Verwertbarkeit wurde die berühmte Madonna mit dem Jesuskind, die da von der heiligen Barbara und Papst Sixtus II. angebetet wird, früh zu den großen Hits der Malerei. Bereits Johann Joachim Winckelmann, Mitbegründer der Archäologie, entdeckte in ihm wie auch in der antiken Laokoon-Gruppe die vielzitierte "edle Einfalt und stille Größe“, das von ihm propagierte Schönheitsideal. Dostojewski sah in der "Sixtina“ die "höchste Offenbarung menschlichen Geistes“ und meinte, dass er das Kunstwerk gerne betrachte, um "am Menschen nicht zu verzweifeln“.
Diese Wirkung hält bis heute an. Auch Kurator Gnann sagt: "Wenn man Raffaels Arbeiten länger ansieht, stimmt einen das glücklich und hoffnungsvoll.“ Die Figuren agierten "mit vollster Emotion, mit Liebe, mit Seele. Raffaels positive Sicht auf die Welt drückt sich in seinen harmonischen Kompositionen aus. Es geht um eine Verheißung. Tragische Aspekte fallen bei ihm kaum ins Gewicht. Brutalität, Hass, Schreckliches - das kommt in diesem Werk so gut wie nie vor. Und wenn, dann sind sie in einer harmonischen Gesamtkomposition eingebettet.“ Doch was war neu in Raffaels Schaffen? In der Kunst bis dahin erschienen alle Gestalten zumeist so, als wären sie in den Bildraum, in dessen Architektur eingespannt. Bei Raffael änderte sich das: "Die Figuren agieren selbstbestimmt und frei.“ Ein weiteres künstlerisches Verdienst: "Die ‚Schule von Athen‘ ist einzigartig. Es zeigt mit seiner Versammlung der bedeutendsten antiken Philosophen das selbstständige, freie Denken des Menschen, der über Leben und Sein reflektiert.“ Der renommierte deutsche Raffael-Forscher Jürg Meyer zur Capellen notiert darüber hinaus in einer Monografie zu Raffael: "Auf den ersten Blick erscheinen seine malerischen Werke oft einfach, bei näherer Betrachtung aber offenbaren viele von ihnen einen komplexen Gehalt.“
Geboren in der Kleinstadt Urbino, ging Raffaello Sanzio schon als Elfjähriger in die Lehre bei Pietro Vannucci, genannt Perugino, und wurde später in Florenz von etablierten Familien mit guten Aufträgen eingedeckt; besonders seine Madonnenbilder erfreuten sich großer Beliebtheit. 1509 erhielt er von Papst Julius II. in Rom den Job seines Lebens, nämlich die Stanzen mit Wandgemälden auszuschmücken; Julius II. engagierte ihn später auch als Dombaumeister. Zudem beauftragte ihn der schwerreiche Banker und Mäzen Agostino Chigi mit Fresken für seine Villa della Farnesina. Am Höhepunkt seines Schaffens, mit nur 37 Jahren, starb Raffael an einer nicht näher bekannten Krankheit.
"Keine Linie, kein Strich zum Selbstzweck"
Zeit seines Lebens war Raffael bestens im Geschäft. Daher baute er früh eine Werkstatt auf, deren Mitarbeiter er mithilfe von Zeichnungen instruierte. Und zwar im zackigen Tempo: Zielloses Experimentieren und Herumspinnen hat sich der Vielbeschäftigte offensichtlich versagt. Experte Gnann: "Raffael machte keine Linie, keinen Strich zum Selbstzweck. Nichts entstand aus einer Laune heraus, alles war auf eine Aufgabe hingetrimmt. Keine Zeichnung stand für sich selbst. Es gab Künstler wie Leonardo da Vinci, die auch einmal dahinskizzieren. Bei Raffael war das nicht so.“ Dabei gehe dieser streng, Schritt für Schritt, vor, "von Skizzen über einzelne Studien zum Gesamtentwurf und zum Modello, schließlich zum Karton.“ Je nachdem, was er gerade betonen wollte, setzte er unterschiedliche Materialien ein: "Wenn er Linien klar hervorheben wollte, zeichnete er mit der Feder. Wenn die malerischen Aspekte herausgearbeitet werden sollten, nahm er Rötelstift oder Kreide.“ Die so vorbereiteten Kompositionen führte er mit tatkräftiger Unterstützung der Werkstatt aus, oft arbeitete diese auch gänzlich im Alleingang.
Diese Zusammenarbeit stellt die Wissenschaft seit Langem vor Rätsel. Denn die Forschungsgemeinde ist sich oft keineswegs einig darüber, was Raffael zuzuschreiben und was doch eine Schüler- oder Werkstattarbeit ist; besonders zwei seiner Mitarbeiter, Giulio Romano und Giovanni Francesco Penni, werden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt. Im Katalog zur aktuellen Schau zeigt sich dies besonders gut: Denn bei einer Reihe von Zeichnungen in der Ausstellung gehen die Meinungen über den Urheber auseinander. "Seit dem 19. Jahrhundert hat die Kunstgeschichte begonnen, Raffael viele Arbeiten ‚wegzunehmen‘. Erst in den 1950er-Jahren haben Forscher wie John Shearman oder Konrad Oberhuber festgestellt, dass gewisse Werke doch von Raffael selbst stammen“, erzählt Gnann.
Dabei konnten selbst die bedeutendsten Wissenschaftler irren: Eine "Apostelgruppe“ aus der Albertina hielt Franz Wickhoff, eine Koryphäe seiner Zeit, 1892 für eine Zeichnung von Raffaels Schüler Penni - Gnann schreibt sie heute dem Meister selbst zu, wie zuvor schon der frühere Albertina-Chef Konrad Oberhuber. Und eine Studie mit zwei Akten, die Raffael an Dürer geschickt hatte und ebenfalls im Besitz der Albertina ist, hielt Erwin Panofsky, einer der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, für eine Schülerarbeit.
Man könnte meinen, dass für derartige Erkenntnisse der naturwissenschaftliche Fortschritt eine eklatante Rolle spielte. Doch weit gefehlt: Eine chemische Untersuchung kann belegen, aus welcher Zeit, vielleicht noch aus welcher Gegend das Material eines Werks stammt - Informationen über deren Urheber sind darin nicht enthalten. Durchleuchtungen eines Gemäldes machen Unterzeichnungen sichtbar, die eine gewisse Aussagekraft haben. Entscheidend ist letztlich dennoch die akribische stilistische Analyse. Dafür wurden noch keine Gerätschaften erfunden; sie erfordert schlichtweg exzellente Fachkenntnis - und ein unglaublich gutes Auge. Gnann: "Man muss prüfen, ob ein Werk charakteristische Merkmale eines Künstlers aufweist und sich mit gesicherten und datierbaren Arbeiten von diesem vergleichen lässt.“ Dabei solle man sich aber nicht an Einzelheiten orientieren, "sondern eher an Fragen wie: Wie ist die plastische Ausarbeitung? Wie wird der Raum, wie werden die Figuren aufgefasst? Details können schnell in die Irre führen. Schließlich können diese von Schülern leicht nachgeahmt worden sein.“
Kontroversielle Zuschreibung
Raffaels "Porträt eines Knaben“ aus dem Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid, das in der Ausstellung gezeigt wird, ist bis heute umstritten: Wurde es von Raffael, seinem Schüler Giulio Romano, von beiden oder doch von der Werkstatt gemalt? Die Ansichten darüber gehen auseinander; Gnann meint, einen Raffael darin zu erkennen. Er vergleicht das Ölgemälde mit einem Frauenbildnis Romanos und arbeitet im Katalog die Unterschiede zwischen den beiden Werken heraus: "Bei Giulios junger Frau sind die Gesichtsmerkmale jedoch schärfer gezeichnet und wirken wie eingeschnitten, während sie bei dem Bildnis des Knaben unlöslicher Teil des Gesamtgefüges sind und sich organisch herausentwickeln.“ Freilich erwähnt er in seinem Beitrag, dass es andere Meinungen gibt: wissenschaftliche Redlichkeit ist das Um und Auf. Auch im profil-Gespräch sagt er: "Es gibt Fälle, in denen die Frage der Zuschreibung kontroversiell ist. Da ist es wichtig, dass man seriös bleibt und etwaige Zweifel auch artikuliert.“ Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder gestand bei einer Presseführung in seinem Haus jüngst zu, dass sich manche wissenschaftliche Erkenntnisse zwar zum jeweiligen Zeitpunkt ihrer Präsentation in Ausstellungen als gesichert darstellten - und dennoch später widerlegt wurden. Für die Gegenwart sei das ebenso wenig auszuschließen, so Schröder sinngemäß.
Die Frage, ob ein Werk von Raffael selbst (unsagbar teuer), Giulio Romano (noch immer kostspielig), Penni (schon günstiger) oder einem namenlosen Werkstattmitarbeiter (für die schmalere Brieftasche) stammt, kann zu erbitterten Debatten führen. Vor wenigen Jahren erlebte die deutsche Öffentlichkeit eine solche. 2011 erwarb das Frankfurter Städel Museum, damals von Max Hollein geleitet, das "Bildnis Papst Julius II.“, das von Raffael und seiner Werkstatt gemalt worden sein soll - eine ganz neue Erkenntnis. Lange hatte das Porträt nämlich als Kopie gegolten; 2007 war es im Wiener Dorotheum als Werk eines Nachahmers auf 8000 bis 12.000 Euro geschätzt worden und sollte versteigert werden. Erfolglos: Es blieb liegen. Erst im Nachverkauf der Auktion erwarb es der Kunsthändler Hans Ellermann. Zu welchem Preis genau, ist unbekannt, ebenso wie die Summe, die das Städel ihm wenige Jahre später dafür bezahlte. Ellermann dürfte jedenfalls hervorragenden Gewinn gemacht haben.
In den Medien kamen nach der spektakulären Meldung zum Erwerb durch das Städel einige Experten zu Wort, die an Raffaels Autorschaft zweifelten - laut "Süddeutscher Zeitung“ glaubte etwa Arnold Nesselrath, Fachmann aus den Vatikanischen Museen, nicht an Raffaels Beteiligung an dem Werk. In einer früheren Publikation hatte es auch der Spezialist Meyer zur Capellen als Kopie deklariert. Derselbe Experte nahm das Gemälde später einmal mehr in Augenschein, mit nicht gerade euphorischem Ergebnis. Im Katalog "Raffael und das Bildnis Papst Julius II.“, den das Städel anlässlich einer Ausstellung des Werks 2013 publizierte, erklärte er, dass das Gesicht aus der Hand Raffaels stammen dürfte. Oder zumindest die Unterzeichnung davon. Allerdings bleibt er reserviert: "Die Tatsache, dass im vorliegenden Bildnis des Papstes Julius II. einerseits eine unmittelbare Beteiligung von Raffael festzustellen ist, andererseits aber die Anlage der Komposition und zumeist auch der Ausführung einem uns unbekannten Mitarbeiter überlassen wurde, erlaubt den Schluss, dass es sich hier um eine Replik handelt.“ Dem Gemälde gingen nämlich zwei andere Ausführungen des Papst-Bildnisses durch Raffael voran. Das Resümee des Forschers: "Insgesamt wird man aber die malerische Durchführung im Wesentlichen nicht Raffael geben können.“ Es spricht für die Seriosität des Museums, eine solche - nicht unkritische - Stimme in die eigene Publikation aufzunehmen. Dass das Bild freiich dennoch von "Raffael und Werkstatt“ stammt, zweifelt Meyer zur Capellen keineswegs an. Das ist tatsächlich der Fall, obwohl Raffaels Hand restlos überzeugend nur noch bei der (äußerst kursorischen, wie Abbildungen zeigen) Unterzeichnung des päpstlichen Gesichts identifiziert werden kann.
Die Frage des Schöpfers ist mit jener des monetären Wertes eng verknüpft. Nicht nur Gemälde, auch Zeichnungen können im Fall eines Meisters wie Raffael enorme Summen in Bewegung setzen: Der "Kopf eines jungen Apostels“, die Vorstudie für eine "Transfiguration“, wurde 2012 bei Sotheby’s London auf 12 bis 18 Millionen Euro geschätzt und schließlich um fast 36 Millionen (inklusive Aufgeld) verkauft. Eine Skizze von zwei Propheten mit Engeln in vergleichbarer Größe, bei der unter dem Künstlernamen die vage Formulierung "Raffael zugeschrieben“ angegeben wurde, schätzte Christie’s New York 2002 auf lediglich rund 60.000 bis 110.000 Euro. Und ein Porträt des Lorenzo de Medici erzielte bei einer Auktion 2007 umgerechnet 27,4 Millionen Euro. Sein Vorbesitzer, der Kunsthändler Ira Spanierman, hatte es 1968 für ein paar Hundert Dollar in London erworben: Es war damals nämlich bloß einem Schüler zugeschrieben worden. Konrad Oberhuber war es, der das Gemälde Raffael 1971 "zurückgab“, wie es im Forscherjargon heißt. Schlichtweg aufgrund von stilistischen Kriterien. Ein gutes Auge ist eben Gold wert.