Kino

Halbzeit in Cannes – mit verstörenden Meisterwerken von Jonathan Glazer und Martin Scorsese

Der Alptraum des Holocaust und ein Massaker an Amerikas Indigenen: Jonathan Glazer und Martin Scorsese fügen dem Programm der 76. Filmfestspiele in Cannes zwei Meisterwerke hinzu.

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Es gehört zu den abwegigsten Unterfangen überhaupt, mit den Mitteln des Spielfilms in der offenen Wunde des Holocaust zu stochern. Wie wäre dem Voyeurismus aus dem Weg zu gehen, der das Kino doch unweigerlich definiert? Wie die äußerste Obszönität vermeiden, die darin liegt, aus privilegierter Position und für „die Kunst“ die Vernichtungslager nachzubauen, Menschen in KZ-Kleidung zu stecken und in Richtung „Auszehrung“ zu schminken? Wie zu diesem Thema etwas produzieren, das nicht nur Bestand hat und von Belang ist, sondern dem Grauen, das sich ereignet hat, auch nur entfernt entsprechen, ihm gerecht werden kann?

Der Londoner Filmemacher Jonathan Glazer, 58, hat mit „The Zone of Interest“ nun tatsächlich eine Form gefunden, den industriellen Massenmord in Auschwitz ins Visier zu nehmen, die in ihrer fast kristallinen Konsistenz, ihrer verstörenden Transparenz auch von atemraubender erzählerischer Folgerichtigkeit zu sein scheint – Glazer berichtet so direkt wie möglich und so indirekt wie nötig. Der Film, der wie das Bruchstück eines fremden Raumschiffs in jenem Ozean aus Ästhetisiertem, Bemühtem und Belanglosem trieb, der das Wettbewerbsprogramm der laufenden 76. Filmfestspiele in Cannes ergibt, geht in keine der Fallen, die im Shoah Business der Marken Steven Spielberg („Schindlers Liste“),  Roberto Benigni („Das Leben ist schön“) oder László Nemes („Son of Saul“) so geläufig sind. Glazer verweigert jedes reenactment des Lageralltags, verzichtet auf Leichenberge und individuelle Opfererzählungen, gönnt sich nicht einmal die Eitelkeit „starker“ Bilder und „empathischer“ Zuspitzung.

Sein Film kreist um die historische Figur des Rudolf Höß, des NS-Kommandanten in Auschwitz-Birkenau, der mit Frau und Kinderschar ein direkt an das Vernichtungslager grenzendes Eigenheim mit Blumengarten und Swimmingpool bezog – und dort Familienidylle spielen wollte, während er den Todesbetrieb in Auschwitz aufrecht hielt oder mit Technikern die Optimierung des Massenmordes debattierte (man spricht hier in Bezug auf die Gaskammern nur von zu beseitigenden „Stücken“ und „Ladungen“).

Dem beängstigend detaillierten, dennoch vieldeutigen Sound-Design (gestaltet von „Nope“-Tonmeister Johnnie Burn), in dem sich die Schüsse, das ferne Gebrüll und die verzweifelten Schreie der Opfer in eine Art industriellen Maschinenlärm fügen, kommt in diesem Konzept entscheidende Bedeutung zu: Das Schleifen, Rasseln und Klagen dringt wie ein kaum je unterbrochener akustischer Strom in die Schreckensbilder des höllischen Höß’schen Familienlebens.

Glazer, der seit seinem formidablen Debüt, der Soziopathen-Satire „Sexy Beast“ (2000), nur drei weitere Filme vorgelegt hat, zeigt in „The Zone of Interest“, wie weit er sich vom Kino-Mainstream zu distanzieren bereit ist: Mit experimentellen und dokumentarischen Einschüben durchbricht er das Illusionäre des historischen „Nachspielens“, und in wiederkehrenden fiebertraumhaften Szenen, die mit Wärmebildkamera hergestellt wurden, visualisiert er das Unbewusste der vom Leben an und jenseits der Lagermauer psychisch versehrten Höß-Kinder wie Seelenröntgenaufnahmen. Und auch der alarmierende Soundtrack der britischen Musikgröße Mica Levi, die bereits 2004 den Score zu Glazers futuristischem Horrorfilm „Under the Skin“ komponierte, tendiert ins Abstrakte, Nicht-Illustrative.  

Sandra Hüller und Christian Friedel stellen das Ehepaar Höß mit schaudernswerter, an Seelenlosigkeit grenzender Banalität dar. „The Zone of Interest“ erforscht ein Trauma und erregt Übelkeit, am Ende ganz buchstäblich, im Körper eines „pflichtgemäß“ empfindungslos Handelnden, der offenbar kein Bewusstsein mehr davon hat, was er tut. Nach diesem Film lässt sich nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, seine Lektionen sind nicht abzuschütteln.

An ein anderes historisches Projekt, in dem ein Genozid (nämlich jener an Amerikas Ureinwohnern) bearbeitet wird, hat sich auch, in gänzlich anderer Manier, die New Yorker Regie-Legende Martin Scorsese gewagt. „Killers of the Flower Moon“, in Cannes außer Konkurrenz präsentiert, weil der Regisseur keine Lust mehr hat, sich an dem alten Spiel des Vergleichens unvergleichlicher Arbeiten zu beteiligen, ist ein Epos: ein fast dreieinhalbstündiger Western nach wahren Begebenheiten, produziert für den Streaming-Service Apple TV+, besetzt mit den Scorsese-Superstars Robert De Niro und Leonardo DiCaprio. Die Geschichte der Morde, die von weißen Kolonialisten aus Profitgier an den durch ihre Ölquellen reich gewordenen native Americans des Osage-Stamms in Oklahoma während der frühen 1920er-Jahre begangen wurden, erzählt Scorsese als Täterdrama neu, gewohnt energetisch, in jähen Gewaltschüben und präziser Atmosphärenzeichnung. Die Blues- und Slide-Gitarren in der Musik Robbie Robertsons verdunkeln das Trauerspiel der Osage-Familien noch, während der raue Witz in den überhöhten Darstellungen des sich heuchlerisch als Wohltäter gerierenden Figur, die De Niro spielt, und seines naiv-loyalen Neffen (DiCaprio) provokante Kontrapunkte bieten.

Das Herz des Films aber ist die indigene US-Schauspielerin Lily Gladstone, bekannt aus Kelly Reichardts Filmen („Certain Women“): Sie bringt Ruhe und Empathie in die so sehr von Amoral und Brutalität geprägte Story. In „Killers of the Flower Moon“ werden Klassizismus und eine sehr gegenwärtige Kinoästhetik sinnträchtig (und kurzweilig) gemischt, bis zur genial erdachten und umgesetzten Schlusssequenz. Scorsese, 80, ist übrigens alles andere als ein Dauergast in Cannes. Der letzte Film, den er hier zur Uraufführung brachte, die schwarze Komödie „After Hours“, liegt sagenhafte 37 Jahre zurück. Es war höchste Zeit für ein Comeback an der Croisette.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.