46 Seiten ohne jede Menschlichkeit
Ron Leshem, 47, lebt seit zehn Jahren in Boston, US-Bundesstaat Massachusetts. Geboren und aufgewachsen ist er aber in Israel, in dem Land leben noch immer viele seiner Verwandten – auch im Kibbuz Be’eri, am 7. Oktober 2023 einer der Schauplätze von Zerstörung, Folter, Mord, Entführung. An jenem Samstagmorgen wurde Israel von einem orchestrierten Überraschungsangriff getroffen, aus der Luft, vom Meer und an Land; Hunderte schwer bewaffnete Kämpfer der Hamas-Brigaden, ganz in Schwarz gekleidet, „Allahu Akbar“ brüllend, überfielen das Land.
Leshem arbeitete einst für Israels militärischen Geheimdienst, danach viele Jahre als Journalist; er entwickelte die HBO-Serie „Euphoria“ mit und war Teil des Drehbuchteams der Familiensaga „No Man’s Land“. Ein Cousin Leshems wurde am 7. Oktober als Geisel entführt und später umgebracht – für den Autor einer der vielen Gründe, „Feuer – Israel und der 7. Oktober“ (Rowohlt Berlin) zu schreiben, das bislang wichtigste Buch zum Hamas-Terror gegen Israel. „Feuer“ ist, einerseits, die Chronik eines Tages. 46 von 311 Seiten umfasst die Darstellung der Morde und Gräueltaten an Babys, Kleinkindern, Jugendlichen, Müttern, Vätern und alten Menschen im Minutentakt. „An jenem Schabbat war der Staat eingestürzt wie ein Turm aus Sand. Es gab keine Polizei, keine politische Führung mehr. Nur Menschen, allein auf sich gestellt, einen ganzen Tag lang.“ 46 Seiten ohne jede Mitmenschlichkeit. Andererseits bringt Leshem in „Feuer“ einiges zusammen – den Hamas-Terror und Israels angeschlagene Demokratie, jenen jahrelangen Kampf zwischen liberalen-demokratischen und religiös-messianischen Kräften; die mentale Zerrüttung sowie zunehmende Radikalisierung einer durch Gewalt traumatisierten Region, wobei sich das Desaster im Nahen Osten zusätzlich durch Fake-Narrative, die bis heute in den sozialen Netzwerken kursieren, verschärft.
Leshem schreibt: „Die Welt ist bereits tief in eine Epoche eingetreten, in der die Wahrheit stirbt, eine Welt, in der jeder meint, sich selbst aussuchen zu können, an welche Fakten er glaubt und welche Wahrheit er leugnet.“ Der Journalismus, notiert er, kämpfe um seine Existenz. Vieles, was in Israel vor dem dunklen Fond von Vernichtung und Verfolgung passiere, könne uns einiges über die Zukunft lehren: „Die Welt tat sich nie schwerer damit, komplexe Geschichten zu bewältigen, für die es keine eindeutige Antwort, keine glatte Lösung gibt.“ Allein die Gewaltprediger gehen davon aus, Antworten zu kennen: „Ziel des Terrors ist immer, unseren Glauben an die menschliche Natur zu vernichten.“