TOPSHOT - Rockets are seen in the night sky fired towards Israel from Beit Lahia in the northern Gaza Strip on May 14, 2021. - Israel bombarded Gaza with artillery and air strikes on Friday, May 14, in response to a new barrage of rocket fire from the Hamas-run enclave, but stopped short of a ground offensive in the conflict that has now claimed more than 100 Palestinian lives As the violence intensified, Israel said it was carrying out an attack "in the Gaza Strip" although it later clarified there were no boots on the ground. (Photo by ANAS BABA / AFP)
Kulturtipp

46 Seiten ohne jede Menschlichkeit

7. Oktober 2023. Wolfgang Paterno empfiehlt die bislang umfassendste Chronik des Hamas-Terrorangriffs auf Israel.

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Ron Leshem, 47, lebt seit zehn Jahren in Boston, US-Bundesstaat Massachusetts. Geboren und aufgewachsen ist er aber in Israel, in dem Land leben noch immer viele seiner Verwandten – auch im Kibbuz Be’eri, am 7. Oktober 2023 einer der Schauplätze von Zerstörung, Folter, Mord, Entführung. An jenem Samstagmorgen wurde Israel von einem orchestrierten Überraschungsangriff getroffen, aus der Luft, vom Meer und an Land; Hunderte schwer bewaffnete Kämpfer der Hamas-Brigaden, ganz in Schwarz gekleidet, „Allahu Akbar“ brüllend, überfielen das Land.

Leshem arbeitete einst für Israels militärischen Geheimdienst, danach viele Jahre als Journalist; er entwickelte die HBO-Serie „Euphoria“ mit und war Teil des Drehbuchteams der Familiensaga „No Man’s Land“. Ein Cousin Leshems wurde am 7. Oktober als Geisel entführt und später umgebracht – für den Autor einer der vielen Gründe, „Feuer – Israel und der 7. Oktober“ (Rowohlt Berlin) zu schreiben, das bislang wichtigste Buch zum Hamas-Terror gegen Israel. „Feuer“ ist, einerseits, die Chronik eines Tages. 46 von 311 Seiten umfasst die Darstellung der Morde und Gräueltaten an Babys, Kleinkindern, Jugendlichen, Müttern, Vätern und alten Menschen im Minutentakt. „An jenem Schabbat war der Staat eingestürzt wie ein Turm aus Sand. Es gab keine Polizei, keine politische Führung mehr. Nur Menschen, allein auf sich gestellt, einen ganzen Tag lang.“ 46 Seiten ohne jede Mitmenschlichkeit. Andererseits bringt Leshem in „Feuer“ einiges zusammen – den Hamas-Terror und Israels angeschlagene Demokratie, jenen jahrelangen Kampf zwischen liberalen-demokratischen und religiös-messianischen Kräften; die mentale Zerrüttung sowie zunehmende Radikalisierung einer durch Gewalt traumatisierten Region, wobei sich das Desaster im Nahen Osten zusätzlich durch Fake-Narrative, die bis heute in den sozialen Netzwerken kursieren, verschärft.

Leshem schreibt: „Die Welt ist bereits tief in eine Epoche eingetreten, in der die Wahrheit stirbt, eine Welt, in der jeder meint, sich selbst aussuchen zu können, an welche Fakten er glaubt und welche Wahrheit er leugnet.“ Der Journalismus, notiert er, kämpfe um seine Existenz. Vieles, was in Israel vor dem dunklen Fond von Vernichtung und Verfolgung passiere, könne uns einiges über die Zukunft lehren: „Die Welt tat sich nie schwerer damit, komplexe Geschichten zu bewältigen, für die es keine eindeutige Antwort, keine glatte Lösung gibt.“ Allein die Gewaltprediger gehen davon aus, Antworten zu kennen: „Ziel des Terrors ist immer, unseren Glauben an die menschliche Natur zu vernichten.“

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.