Hans Platzgumers Lockdown-Logbuch: Sperrzonenleben
In seinem früheren Leben war Hans Platzgumer, 51, eine internationale Rockgröße (H.P. Zinker, Die Goldenen Zitronen) und ein gefragter Produzent (Tocotronic, André Heller). Inzwischen mischt der Tiroler mit Romanen („Am Rand“, „Drei Sekunden Jetzt“) und Essays munter die Literatur auf. In seinem Roman „Der Elefantenfuß“, der zeitgleich zur Katastrophe von Fukushima in die Buchhandlung gelangte, thematisiert Platzgumer detailliert das Reaktorunglück von Tschernobyl anno 1986.
März/April 2020
Die Kirchglocken bimmeln plötzlich wie verrückt. Ich schaue auf den Kalender, ob denn schon Ostersonntag sei? Die Zeit verfliegt momentan ja wie verrückt, weil die Tage einförmig geworden sind, eine Abfolge kleiner Routinehandlungen, es macht keinen Unterschied mehr, ob Wochentag oder Wochenende ist. Doch Ostern ist erst in einer Woche. Unsere Pfarrgemeinde kompensiert die ausfallenden Gottesdienste durch exzessives Glockenläuten. Der Pfarrer sitzt wohl allein im Gotteshaus vor einer Kamera, die Gläubigen sitzen daheim vor dem Stream und lauschen seiner Predigt. Es dauerte nicht lang, dass das „Angebot für Gläubige“ ausgebaut wurde. Am siebten Tag des Lockdowns wird dem Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn in der abendlichen Hauptnachrichtensendung großzügig Fernsehzeit gegönnt, um darüber zu referieren, dass dieses Virus keine Strafe Gottes, aber womöglich ein Zeichen Gottes sei.
Auch Papst Franziskus legt einen Sondersegen „Urbi et orbi“ im strömenden Regen auf dem menschenleeren Petersplatz ein, vor dem Haupttor der Peterskirche wird das wundertätige „Pestkreuz“ aufgestellt. Der slowakische Generalvikar Brodek wiederum besteigt ein Flugzeug und fliegt ein mittelalterliches Tuch, das mit Jesu Christi Blut getränkt sein soll, über das ganze Land. Die Bischofskonferenz ruft die Gläubigen auf, der Kraft dieser Reliquie zu vertrauen und für den Erfolg der Aktion zu beten. Die Kirchen wittern die Chance, ihre Gemeinden, die sich in den letzten Jahren, nicht bloß wegen der ständigen Missbrauchsskandale, zusehends ausgedünnt haben, wieder zusammenzubringen. Doch nicht nur in dieser Neuhinwendung zu Gott wird die Dimension der Coronakrise spürbar.
Der französische Staatspräsident Macron hat bereits verkündet, dass sich Frankreich im Krieg befinde. Und Krieg bedeutet nicht nur Einschränkung persönlicher Freiheiten, sondern augenblicklich auch Mobilisierung, Moralisierung und Manipulation der Massen. Durch die Medien geht ein Schwenk. Nachrichtensendungen werden dramaturgisch auf ihre Wirkung abgestimmt, sie dienen nicht länger bloß nüchtern-neutraler Berichterstattung. „Wir halten durch, wir halten zusammen, wir machen das gut, aber wir müssen es noch besser machen“, lautet das Motto. Venceremos! In Krisenzeiten sind Informations- auch Motivationsendungen. Der bayrische Nachrichtensender B5-Aktuell ist bereits am dritten Tag der dortigen Ausgangsbeschränkungen zu einer Guten-Laune-Welle mutiert. Wo kritische Wirtschaftsnachrichten gesendet wurden, laufen nun Telefonsendungen mit Hörern über Tipps und Tricks im eigenen Garten, dazwischen fröhliche Musik, und in Sachen Corona wird nicht die Zahl der Neuinfektionen, sondern jene der Genesungen berichtet. 422 Infizierte haben die Krankheit mit heutigem Tag überstanden. Dass sich 27.289 angesteckt haben, muss man im Internet selber recherchieren. So manchen Bürger treibt die Suche nach Fakten in den unwegsamen Informationsdschungel des World Wide Web.
Jenseits der Screens erinnert allmählich auch die direkte Umwelt, die man, um etwa einkaufen zu gehen, immer noch betreten darf, an apokalyptische, aus Hollywoodfilmen bekannte Szenarien. Mehrmals täglich kreist über meinem Haus ein Hubschrauber. Womöglich überwacht er die naheliegende, geschlossene Grenze, aber er zieht seine Kreise auch über anderen Straßen. Das Rattern seiner Rotoren erinnert: Wir stehen unter Beobachtung, wir alle, unbescholtene Bürger eines vor Kurzem noch freien demokratischen Staates.
Ich frage mich, ob es ohne Alkohol in so manch kleiner Wohnung, in der es nun Familien Tag und Nacht miteinander aushalten müssen, zu weniger oder zu mehr häuslicher Gewalt kommen würde?
Den Supermarkt betrete ich inzwischen durch eine Desinfektionsschleuse. Drinnen sind einige Regale leer, auch die Gänge dazwischen wirken wie ausgestorben. Vor der Fleischtheke steht schwarz gekleidetes, misstrauisches Sicherheitspersonal. Ich weiß nicht genau, worauf es instruiert ist zu achten. Dass es nicht zu Ausschreitungen, um das letzte Kaiserschnitzel kommt? Dass die Leute den Sicherheitsabstand zueinander einhalten, der von Tag zu Tag größer wird? Inzwischen sind 1,5 Meter vorgeschrieben, aber die Menschen gehen sich nach Möglichkeit viel weiter aus dem Weg. Als ich vor dem Eierregal stehe, biegt neben mir eine junge Frau ums Eck, die sogleich einen derartigen Schock bekommt, mich zu erblicken, dass sie ruckartig zurückweicht und in einem Eck der Tierfutterabteilung Schutz sucht. Erst als ich meine Freilandeier genommen habe und weitergezogen bin, wagt sie, sich dem Eierregal zu nähern. In Frankreich hat der Wachdienst auch zu überprüfen, ob Kunden die Einkaufsbeschränkungen befolgen, maximal drei Stück desselben Produkts dürfen gekauft werden.
In Österreich könnte ich noch meinen ganzen Einkaufswagen mit Trockenmilch, Toastbrot oder Inzersdorfer Dosen vollstopfen. Doch ich kaufe nur ein paar Eier, Milch, Butter und Bier – denn das ist eine meiner Ängste, dass von einem Tag auf den anderen der Alkoholverkauf verboten wird. Ich frage mich, ob es ohne Alkohol in so manch kleiner Wohnung, in der es nun Familien Tag und Nacht miteinander aushalten müssen, zu weniger oder zu mehr häuslicher Gewalt kommen würde? Frauen, die mit unausgelasteten, gewaltbereiten und aus Langeweile saufenden Männern sowie aus Langeweile quengelnden Kindern eingesperrt sind, zählen neben den Alleinerziehenden zu den am schlimmsten von der Ausgangssperre Betroffenen.
Es ist ein denkwürdiger Einschnitt in die Freiheiten der Bürger eines demokratischen Landes, er lotet die Grenzen des Machbaren aus. Den Menschen ist die Bewegungsfreiheit genommen, das Versammlungsrecht ist ausgesetzt, der Datenschutz wird hinterfragt, und ebenso ist die Rede- und Meinungsfreiheit von einer Selbstzensur ergriffen. Nicht einmal die Aufmüpfigsten wagen derzeit kritische Denkansätze, die den Zusammenhalt und die Durchhaltemoral in Frage stellen könnten. Ich kann mich nicht erinnern, wann unsere Meinungen zuletzt derart konform waren. Wir alle unterstützen das Vorgehen der Regierung. Weder von rechts noch links kommt Widerspruch, auch von mir nicht. Im Stillen aber frage ich mich manchmal, ob ich wirklich derselben Meinung oder inzwischen einfach manipuliert bin? Vielleicht ist der „fahrlässige“ Umgang mit dem Virus wie in Schweden letztendlich klüger? Hätte Österreich einen anderen Weg eingeschlagen, würde ich ihn ebenso mitgehen? Letzte Woche monierte ich noch, dass wir Menschen es in der Klimakrise nicht vermögen, an einem Strang zu ziehen, heute wird mir bei unserer Gleichschaltung mulmig zumute. So viel Einklang bin ich in einer demokratischen Welt nicht gewöhnt.
**
Das ganze Lockdown-Logbuch findet sich unter platzgumer.net/Logbuch/