Hans Platzgumer

Hans Platzgumers Lockdown-Logbuch: Sperrzonenleben (III)

Der Tiroler Schriftsteller, Musiker und Produzent Hans Platzgumer schreibt seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen an einem Lockdown-Logbuch. profil veröffentlicht Auszüge.

Drucken

Schriftgröße

In seinem früheren Leben war Hans Platzgumer, 51, eine internationale Rockgröße (H.P. Zinker, Die Goldenen Zitronen) und ein gefragter Produzent (Tocotronic, André Heller). Inzwischen mischt der Tiroler mit Romanen („Am Rand“, „Drei Sekunden Jetzt“) und Essays („Willkommen in meiner Wirklichkeit“) munter die Literatur auf. In seinem Roman „Der Elefantenfuß“, der zeitgleich zur Katastrophe von Fukushima in die Buchhandlung gelangte, thematisiert Platzgumer detailliert das Reaktorunglück von Tschernobyl anno 1986.

***

April 2020

Die Exerzitien, die uns verschrieben worden sind, dauern seit vier Wochen an. Die Rüsttage der christlichen Kirchen, die 30-tägigen Ignatianischen Exerzitien etwa, umfassen eine ähnliche Zeitspanne und werden zu ähnlichem Datum, in der Fastenzeit, durchgeführt. Das Ziel dieser Isolationsübungen ist eine möglichst tiefe Begegnung mit sich selbst, wodurch nicht nur die Gegenwart Gottes erahnbar, sondern auch die Neuorientierung des irdischen Lebens ermöglicht werden soll. Auf Staatskosten sitzt derzeit die österreichische Bevölkerung ihre Einkehrtage aus. Einige alte Routinen haben wir abgeworfen, einige neue sind hinzugekommen. Zu meinen Routinen zählt nach wie vor das tägliche Schreiben, aber die Themensetzung, der mindframe, änderte sich. Die zwingende Situation erfordert zwingendes Schreiben, und die Schreibkonzentration wird mit dem Fehlen äußerer Ablenkungen schärfer. Zu scharf sogar, ich schaffe es kaum, aus meiner andauernden Meditation über Sinn und Unsinn der aktuellen Geschehnisse, auszubrechen. Sie setzt sich in allem fort, was ich tue, es ist wie ein Fluch. Wenn der Sinn von Exerzitien die uneingeschränkte Beschäftigung mit dem Wesentlichen ist, so erfüllt der Lockdown diesen Zweck für mich erschreckend gut.

***

Als ich ein Kind war, bezog mein Onkel, ein Jesuitenpater, jährlich einen Monat lang das abgelegene Berghaus meiner Eltern in Tirol. Er besaß kein Auto, wir brachten ihm alles, was er für diesen Monat benötigte, hinauf auf den Berg. Wir halfen ihm, die Lebensmittel zu verstauen, auch ausreichend Wein hatte er selbstverständlich mitgenommen. Dann verabschiedeten wir uns, fuhren zurück in die Stadt und ließen den Onkel allein in der Einöde zurück. Ich fragte mich, was er wohl dort oben einen Monat lang machen würde? Sogar ein Jesuit musste doch hin und wieder etwas anderes tun als beten. „Schaltet er nicht einmal das Radio an?“, fragte ich. „Doch“, sagte mein Vater. „Und einmal am Tag geht er spazieren. Ansonsten aber bleibt er im Haus.“ Ähnlich stellte ich mir das Leben im Kloster vor, nur dass man dort wenigstens nicht allein war. Das Wort „Lockdown“ gab es damals noch nicht in meinem Vokabular. Heute praktizieren wir alle Exerzitien. Einige von uns sind allein wie mein Onkel, sie haben mit Einsamkeit zu kämpfen. Andere sind mit ihren Angehörigen zusammen, oft mit zu vielen auf zu engem Raum, sie haben mit dem Gegenteil von Einsamkeit zu kämpfen.

***

Einer meiner Freunde verbringt jährlich eine Woche der Schweigemeditation auf einer hochalpinen Schweizer Berghütte. Heuer hat ihm das Virus den Plan vereitelt. Er wird womöglich nicht allzu traurig darüber sein, denn was er von diesen abgeschiedenen Tagen berichtet, klingt nach zwanghafter, existenzialistischer Mühsal. Stunden über Stunden sitzt er vor einer weißen Wand oder im Kreis mit wildfremden Menschen herum, denen nicht erlaubt ist, miteinander zu reden. Sie müssen keinen Mund-Nasen- Schutz tragen, und auch der Mindestabstand von einem Meter wird nicht polizeilich überwacht, dennoch ist ihr Social Distancing bereits am zweiten Seminartag derart fortgeschritten, dass ihr Kontakt vollkommen abbricht. Bei der Ankunft begrüßten sich die Teilnehmer noch, am Ende des Seminars werden sie sich voneinander verabschieden – in den Tagen dazwischen aber herrscht eisernes Schweigen, selbst beim gemeinsamen Essen. Mein Freund erzählt von Aggressionen, die in ihm wegen Kleinigkeiten hochkamen. Inmitten der schweigenden Berghütte wurde das Schnaufen, das Schmatzen, das Rascheln des Nachbarn unerträglich. Der Geruch, die flüchtigen Blicke der anderen waren kaum auszuhalten. Der schlurfende Gang des einen. Das Gähnen des anderen. Der dort drüben konnte scheinbar überhaupt nicht still sitzen. Eine Tortur. Wer drohte durchzudrehen, durfte beim Seminarleiter um eine halbstündliche Unterredung im Büro ansuchen.

Im Vergleich dazu ist unsere Ausgangssperre ein luxuriöses Unterfangen – auch wenn es sich für den einen oder anderen wie Knast anfühlt. Statt auf Pritschen schlafen wir im eigenen Bett, statt Latrinen benutzen wir das eigene Klo. Wir haben gut Klopapier gehortet, auch genügend Lebensmittel und Wein. Manche werden sich wie mein Onkel an täglichen Gebeten versuchen, andere (wie auch ich) im Meditieren, manche werden das Radio immerzu aufgedreht haben, wieder andere die Gnade des Spaziergangs bis übers Limit auszukosten wissen. Jeder aber beginnt, im Rahmen seiner Möglichkeiten nachzudenken. Dies führt den einen vielleicht zum Schluss, dass gedrosseltes Netflix Scheiße ist, und den anderen, dass die Hälfte der Dinge, die ihm vorher unverzichtbar erschienen, Scheiße waren. Für jeden von uns gibt es ein Vorher und ein Nachher. Und dazwischen, jetzt, die Krise.