Hans Platzgumers Lockdown-Logbuch: Sperrzonenleben (IV)
In seinem früheren Leben war Hans Platzgumer, 51, eine internationale Rockgröße (H.P. Zinker, Die Goldenen Zitronen) und ein gefragter Produzent (Tocotronic, André Heller). Inzwischen mischt der Tiroler mit Romanen („Am Rand“, „Drei Sekunden Jetzt“) und Essays („Willkommen in meiner Wirklichkeit“) munter die Literatur auf. In seinem Roman „Der Elefantenfuß“, der zeitgleich zur Katastrophe von Fukushima in die Buchhandlung gelangte, thematisiert Platzgumer detailliert das Reaktorunglück von Tschernobyl anno 1986.
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April 2020
Ist das jetzt noch Lockdown? Locken wir noch, oder shoppen wir schon? Wie schnell ein Monat vergeht. Nach dem erzwungenen Sabbatical für alle, brummt die Welt vor meinem Fenster wieder wie zuvor. Laut Gesundheitsminister ist „Phase 2“ erreicht. „Unter Einhaltung strenger Vorsichtsmaßnahmen“ dürfen die Menschen jetzt einkaufen gehen. Vor den Baumärkten bilden sich lange Schlangen maskierter Kunden. Sie warten stundenlang in der prallen Sonne, bis ihnen Zutritt gewährt wird, sie bekommen schlecht Luft unter ihren Mund-Nasen-Schutzmasken, sie sagen, das sei der schönste Moment seit Beginn der Ausgangssperre, vier Wochen haben sie darauf gewartet. Durch die Maskerade hat das Virus ein Gesicht bekommen – und die Menschen ihres verloren. Sie nehmen es hin. Nach erfolgreichem Shopping setzen sie sich in ihre Autos und fahren heim, denn seit der Ölpreis drastisch gesunken ist und von der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel abgeraten wird, wird jede Erledigung, wenn möglich, mit dem Auto gemacht. Phase 2 macht die vorhergehende Abschwächung des CO2-Ausstoßes wieder wett.
Ich ging schon in präcoronischen Zeiten so selten wie möglich shoppen. Unter den jetzigen Umständen fühlt es sich eher wie Waterboarding an, und ich reduziere es auf das Nötigste. Mein Verhalten widerspricht dem Plan einer Regierung, die die Wirtschaft wieder ankurbeln will. Doch wie sieht der österreichische Exit-Plan überhaupt aus? Falls es eine echte Strategie gibt, scheint diese von großer Experimentierfreudigkeit und Spontanität geprägt zu sein. Zunehmend willkürlich wirkt, was unternommen wird. Warum dürfen Geschäfte nur bis genau 400 Quadratmeter aufsperren, wenn ohnehin im Inneren eine durch die Verkaufsfläche bestimmte Höchstkundenanzahl und strenge Abstandsregeln gelten?
Wankelmütige Experten beflügeln übermutige Politiker. Der Innenminister träumt bereits davon, dass Polizeitrupps in Schutzbekleidung in Wohnungen eindringen, um positiv Getestete zu verhören. Staatsbürger, die das Pech hatten, sich mit einem Grippevirus anzustecken, werden also kriminalisiert. Ich habe noch nie einen Innenminister erlebt, der dermaßen vehement gegen das Image der Polizei als Freund und Helfer angekämpft hat. Und auf der Straße werden Organstrafmandate verteilt. 25 Euro, wenn ich einem Passanten zu nahe komme. Oder ist er mir zu nahe gekommen? Bekommt er oder ich den Strafzettel? Im Zweifelsfall wahrscheinlich beide.
Als ich vor einigen Jahrzehnten, in der Vor-Corona-Welt, in New York wohnte, sammelte ich fleißig Strafzettel. Ich besaß einen alten Chevrolet Station Wagon, mit dem ich ein mäßig florierendes Transport-Service betrieb. Ich brachte Musiker samt ihren Instrumenten von einem Ende der Stadt ins andere, holte sie vom Flughafen ab, brachte sie dorthin. Zwischen den eher spärlichen Fahrten, die ich machte, musste ich das Auto irgendwo abstellen. Einen legalen Parkplatz in NYC zu finden, wo ich es länger als ein paar Stunden hätte stehen lassen können, war unmöglich. Täglich wechselnd durfte man nur auf der einen oder anderen Straßenseite parken, hinzu kamen Dutzende sonstige Verordnungen – dass ich etwa nicht zu nah an einem Hydranten, einer Ausfahrt oder Kreuzung stehen durfte. Hätte ich all die Strafzettel beglichen, die ich mir aufhalste, mein Transportservice hätte ein gewaltiges Minus eingefahren. Also sammelte ich sie, statt zu bezahlen, in einer Schublade meines Schreibtischs. Die New Yorker Polizei hätte niemals wegen einer derartigen Lappalie meine Wohnung aufgesucht, es waren nicht nur Prä-Corona-, sondern auch Prä-Giuliani- und Prä-Nehammer-Zeiten, eine viel freiere Welt im Allgemeinen. Irgendwann brachte ich die Schublade gar nicht mehr zu, so viele Strafzettel hatten sich angehäuft. Ihr Wert überstieg bei Weitem den meines Chevrolets. Jeder, den ich in New York kannte, verfuhr auf diese Art mit den Bußgeldern. Man musste nur aufpassen, dass das Auto nicht abgeschleppt wurde. Dann hätte man es freikaufen müssen, all die Strafgelder begleichen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Viele Autos gingen dadurch für immer verloren. Meines hielt einige Jahre durch. Dann verreckte es mitten auf einer viel befahrenen Kreuzung in Uptown. Ich schob es mit letzter Kraft an die Seite, montierte die Nummerntafeln ab und überließ es seinem Schicksal. Ich hätte mir die Reparatur nicht leisten können. Diese Karre hatte mir schon viel zu viele Probleme bereitet, der Job als Transportfahrer hatte sich von Anfang an nicht gelohnt.
Heute lebe ich nicht mehr in New York City. Doch dort wie hier herrscht derzeit dieselbe Situation: Lockdown. Zu Beginn nannte man es hierzulande „Ausgangssperre“. Als eine Woche später der Freistaat Bayern ähnliche Maßnahmen einführte und „Ausgangsbeschränkungen“ nannte, ging auch Österreich zu dieser Bezeichnung über. Mit der Internationalisierung der Pandemie setzte sich „Lockdown“ durch. In Austria ist es nun eine Art Lockdown an lockerer Leine. Der Staat hat Leinenführigkeit bewiesen und wir, seine Bürger, die Hörigkeit. Schicksalsergeben scheinen wir nach wie vor bereit zu sein, alles hinzunehmen. Einige von uns tragen die Masken sogar, wenn sie allein im Auto oder auf dem Fahrrad sitzen, denn: Man weiß ja nie. Es ist unübersichtlich, was erlaubt, was verboten ist.
Jeder kennt das unangenehme Gefühl, auf der Autobahn ein Polizeifahrzeug hinter sich zu haben. Automatisch meint man, eine Geschwindigkeitsübertretung oder sonst etwas begangen zu haben. Gestern hatte ich genau dieses beklemmende Gefühl. Zufällig traf ich eine Bekannte auf der Straße, wir unterhielten uns eine Weile lang unter Wahrung der Abstandsvorschriften, riefen uns Wörter zur Sicherheit aus über zwei Metern Entfernung zu. Die ganze Zeit wurden wir von einem Einsatzwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet. Der jüngere der beiden Polizisten fotografierte uns sogar und führte offensichtlich Protokoll.
So wie ich Jahrzehnte nach der DDR meine Stasi-Akte sichten durfte, werde ich eines Tages vielleicht meine Corona-Akte sichten. Das Verrückte dabei ist, dass wir diesem Staat, der uns bevormundet, mehr Vertrauen schenken als zuvor. Ob die Einschränkungen unseres Zusammenlebens notwendig sind oder nicht – wir befolgen sie und vertrauen darauf, dass uns das Richtige angeordnet wird. Aus jeder kleinen Statistik, die uns vorgelegt wird, lesen wir die Rechtfertigung heraus. Das tun nicht nur wir, sondern auch Bürger anderer Staaten. Egal, wie diese mit dem Virus verfahren, es scheint im Moment das Richtige zu sein. Nicht nur in Österreich, überall befördert der Ausnahmezustand diesen Patriotismus, diesen kleinen Bruder des Nationalismus. Ich habe bereits Leute mit rot-weiß-roten Schutzmasken mit dem Bundesadler auf der Wange gesehen. Freunde in London, die immer Labour wählten, zeigen inzwischen Verständnis für Premierminister Boris Johnson. US-Präsident Donald Trump sitzt fester im Amt als je zuvor. Die viel geächtete GroKo in Deutschland erfreut sich 88-prozentiger Zustimmung.
Und auch ich werde nicht mehr von Ressentiments ergriffen, wenn ich das Konterfei unseres Kanzlers sehe. Mehr denn je wirkt er wie ein junger Pfarrer, wenn er die Hände faltet und dröge, in einfachen Worten, zu uns spricht. Ist er denn doch nicht der böse Mensch, den er bei anderen Gelegenheiten zu verkörpern wusste? Fast empfinde ich so etwas wie Mitleid, ich kann nicht anders, als ihm eine gewisse Läuterung, einen gewissen Reifeprozess zusprechen. Liegt das am Virus? Führt es zu gesteigerter Toleranzfähigkeit? Ist das bereits ein Sich-Abfinden mit allem, was noch kommen möge, ein Resignieren? Oder schreitet einfach die Altersmilde in Corona-Zeiten besonders schnell voran? Laut Farbenlehre ergeben jedenfalls Blau und Grün Türkis. Insofern scheint alles möglich, und wenn dem so ist, will ich nicht den Teufel, sondern eine Wendung hin zum Besseren für die Welt an die Wand malen. Die Welt ist heute ein Flickenteppich aus Nationalstaaten, in denen klein gehaltene Menschen wie ich das Beste aus ihrem Schicksal machen. Unter Türkis-Blau wollte ich auswandern, heute muss ich erkennen: Es gibt jenseits der hochgefahrenen Grenzzäune kein Exil mehr. Alles ist eine No-Go-Area geworden. Ob und wann sich das wieder ändert, wird sich zeigen. Erst müssen wir hierzulande Phase 2 überstehen, danach Phase 3 – oder wieder Phase 1. Sie werden es anders nennen, sie werden je nach Kurveninterpretationen hin und her springen und ich mit ihnen, was bleibt mir anderes übrig? Bis in einem Jahr oder später ein Impfstoff gefunden und kein neues Virus aufgetaucht sein wird. An die Prä-Corona-Zeit werden wir uns dann nur mehr wie an eine Erzählung erinnern.