Hass mit links: Wieso der Antisemitismus gerade in den „progressiven“ Milieus boomt
In den Tagen nach dem barbarischen Anschlag auf Israels Zivilbevölkerung geschah etwas Verstörendes. Weite Teile der Kunstszene und der westlichen Intelligenzija, die politischen Aufruhr sonst gerne lautstark und ad hoc kommentieren, schwiegen. Tage-, manche wochenlang. Als gäbe es zu 1400 ermordeten und zu über 200 verschleppten Menschen nichts weiter zu sagen.
Und dann gab es die, die doch etwas sagten; die unverhohlene Freude über den Schlag gegen die „Besatzungsmacht“ Israel artikulierten, die Hohn und Häme über die Opfer ergossen und Verständnis für die palästinensische Terrororganisation Hamas zeigten. Und tatsächlich kamen diese Stimmen primär von links, von aktivistischer Seite, aus emanzipatorischen Gruppierungen, aus dem Kulturbetrieb. Ein spezifisch linker Antisemitismus, latent seit Jahrzehnten gehegt, wurde plötzlich offensichtlich. Ihm liegt ein dualistisches Denken zugrunde, das Palästina als den Inbegriff des „armen Globalen Südens“ sieht, Israel hingegen als Paradebeispiel eines „kapitalistisch-ausbeuterischen Globalen Nordens“.
Seither muss man von einer Neuordnung der alten ideologischen Verhältnisse sprechen, auch in Österreich. Lena Schilling etwa, die sich zwar schon seit einiger Zeit von #FridaysForFuture losgesagt hat, hätte sich als das österreichische Gesicht des Umweltaktivismus wohl bislang nie träumen lassen, dass sie sich von der schwedischen Klima-Ikone Greta Thunberg so rückhaltlos distanzieren muss. SPÖ-Chef Andreas Babler aus dem linken Flügel der Partei hätte ebenso wenig damit gerechnet, dass er nun Ausschlussforderungen gegen einen noch linkeren Genossen mittragen muss. Lukas F., Mitglied der Sozialistischen Jugend in Wien-Alsergrund hatte auf einer Pro-Palästina-Veranstaltung folgenden Lösungsansatz zum Besten gegeben. Der Gaza-Krieg könne beendet werden, „indem dieser israelische Terror- und Apartheidsstaat weg ist. Nur so.“ Jetzt muss die SPÖ froh sein, dass Lukas F. bald weg sein wird.
BlackLivesMatter (BLM) unter Antisemitismus-Verdacht? Auch das hätte in der heimischen Anti-Rassismus-Szene vor ein paar Wochen noch niemand geahnt. Aber BLM Chicago postete unlängst das Bild eines Paragleiters, begleitet von dem Spruch „I stand with Palestine!“ – eine direkte Anspielung auf jene Fluggeräte, mit denen Hamas-Terroristen die Mauer zu Israel überwanden, um auf einem Rave-Festival junge Menschen zu ermorden, viele davon vermutlich Sympathisanten von BLM. Und auf einer am Wiener Stephansplatz von österreichischen Altlinken organisierten Demo skandierte man „Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden, Mohammeds Armee wird zurückkehren!“, nur zwei Tage nach dem Massaker – das hätte sich nicht einmal die Hamas träumen lassen. Chaibar war eine jüdische Oase, die anno 628 nach Christus einen Feldzug Mohammeds erlebte.
Verkehrte Welt
Als die israelischen Vergeltungsschläge begannen, wurde der Ton noch heftiger. Denn nun sahen viele der linken Kräfte in Westeuropa erstmals einen Grund, sich gegen das Blutvergießen auszusprechen: In den sozialen Netzwerken kam es zur stolzen Solidarisierung mit Palästina in Wort, Bild, Blogs und Posts, in den meisten davon keine Silbe zu Israel und seinen Opfern. Eine befremdliche Gleichgültigkeit, was das Schicksal des Judenstaats betrifft, hat sich insbesondere in sich gerne humanistisch-besorgt gerierenden Zirkeln etabliert. Man könnte meinen, die Welt drehe sich neuerdings in die Gegenrichtung: Während rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in ganz Europa sich scheinheilig hinter Israel stellen, um ihren Muslimenhass besser positionieren zu können, meinen linksbewegte Gruppen, dem unterdrückten Volk der Palästinenser beizustehen, indem sie die von der Hamas orchestrierte Gewalt, Folter, Mord und Vergewaltigung tolerieren.
Es ist in den vergangenen drei Wochen offenbar schwierig geworden, Gräueltaten auch dann als solche zu benennen, wenn sie einem Land zustoßen, dessen Regierung man ablehnt; es scheint in erstaunlich vielen politischen Subkulturen nicht möglich zu sein, um alle Opfer zu trauern, die in diesem neuen Nahost-Krieg zu verzeichnen sind.
Angesichts der jüngsten Untaten sei, wer unparteiisch und neutral bleibe, „ein stiller Teilhaber des Terrors“: So formulierte es der Wiener Schriftsteller Doron Rabinovici in profil vor zwei Wochen. Fraglos gebe es gute Gründe, die israelische Politik zu kritisieren. „Aber es ist zynisch, wenn hierzulande nicht wenige die dschihadistischen Massaker kleinreden, indem sie auf die Militäraktionen der israelischen Armee verweisen. Nie schickte das israelische Militär seine Truppen los, um Massenmorde, Vergewaltigungen, Folterungen und die Schändung von Leichen zu zelebrieren.“ Nicht die Zivilisten, sondern die Täter der Hamas seien das Ziel dieser Luftangriffe, so Rabinovici. „Unabdingbar bleibt, Unschuldige, soweit möglich, zu schonen, aber zynisch ist, wenn die israelischen Opferzahlen gegen die palästinensischen aufgerechnet werden.“
Doch die Metastasierung des Judenhasses schreitet voran. Angesehene Künstlerinnen wie Emily Jacir oder Jumana Manna machen sich auf Social Media über die Geiseln und Opfer der Hamas lustig; die antirassistische Bewegung #BlackLivesMatter in Los Angeles nennt den Terror einen „verzweifelten Akt der Selbstverteidigung“. Und auf propalästinensischen Demonstrationen brüllt man den alten Slogan von der erträumten Auslöschung Israels: „From the river to the sea / Palestine will be free“. Neuerdings entspringt der Israel-Hass von links dem vermeintlich „Guten“, dem Kampf gegen Kapitalismus, Rassismus, Ausbeutung, Kolonialismus. „Die Pro-Palästina-Haltung kommt als eine Art Modeerscheinung immer wieder“, sagt die Historikerin Helga Embacher von der Universität Salzburg, die seit vielen Jahren die unterschiedlichsten Spielarten des Antisemitismus erforscht. Heute erweisen sich dafür „woke“ Bewegungen wie BlackLivesMatter, LGBTQ, die Klimabewegung oder intersektionaler Feminismus als anschlussfähig. Für Palästina zu sein, sei in Teilen dieser Szene „ein Code dafür, auf der richtigen Seite zu stehen“, sagt Embacher. In der stark antirassistisch geprägten Wokeness-Bewegung würden Juden oft als „erfolgreich und weiß“ gelten, Palästinenser als „unterdrückt und schwarz“.
Dieses Bild werde auch auf Juden in der Diaspora übertragen. Das kann dazu führen, dass Jüdinnen auf feministischen Demos in den USA nur mitmarschieren dürfen, wenn sie sich vom Zionismus distanzieren. Das verhärtete Feindbild Israel lässt Mitgefühl von links kaum zu. Nur so sind all die Videos zu erklären, die zeigen, wie Hipster in westlichen Städten lachend „Vermisst“-Bilder jüdischer Geiseln von den Wänden reißen.
Die Schwierigkeiten jeder Debatte über Antisemitismus beginnen bereits bei dessen Begriffsbestimmung. Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) hat 2005 eine Working Definition of Antisemitism erstellt. Sie klingt erstaunlich vorsichtig: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die Arbeitsdefinition der IHRA ist umstritten. Sie sei vage und beliebig, kritisieren namhafte Antisemitismusforscherinnen und -forscher – und eben nur eine Art Arbeitsgrundlage. Amos Goldberg, Professor am Institut für jüdische Geschichte an der Universität Jerusalem, erklärte 2021, die IHRA-Definition sei ein Werkzeug geworden, mit dem jede Kritik am Staat Israel zum Schweigen gebracht werden soll.
Goldberg gehört zu jenen, die 2021 die „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ initiierten. Sie wurde von 200 Intellektuellen unterzeichnet. Darunter auch Embacher. In 15 Punkten versucht die „Jerusalem Declaration“ zu definieren, was Antisemitismus sei und was nicht. Anders als in der IHRA-Definition geht es dabei auch explizit um den Zionismus. Diesen zu kritisieren, sei grundsätzlich ebenso wenig antisemitisch wie die Forderung nach Gleichbehandlung aller Bewohnerinnen und Bewohner der Region, sei es durch eine Zweistaaten- oder eine Ein-Staat-Lösung. Auf das Protestbündnis BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) geht die „Jerusalem Declaration“ ebenfalls ausdrücklich ein; der Boykottaufruf sei an und für sich nicht antisemitisch. Wenn man allerdings von Jüdinnen und Juden aufgrund ihrer Religion eine Distanzierung vom Zionismus verlange oder sie kollektiv für die Handlungen des Staates Israel verantwortlich mache, handle es sich um Antisemitismus. Immerhin darin sind sich die beiden Definitionen einig.
Für einen eigenen palästinensischen Staat zu demonstrieren, ist legitim; darauf hinzuweisen, dass auch für die Zivilbevölkerung in Gaza das Genfer Abkommen zu gelten hat, ebenso. Was derzeit aber – auch in Wien – passiert, geht über zulässigen politischen Aktivismus weit hinaus: Koschere Restaurants werden vandalisiert, Israel-Flaggen abgerissen. Eine Verdreifachung der antisemitischen Übergriffe in Österreich beobachteten die Behörden in den ersten beiden Wochen nach dem Terroranschlag auf Israel: physische Angriffe, Sachbeschädigungen, Drohungen.
„Dumm und moralisch abstoßend“
An dem erschreckend hohen Maß an antisemitisch gefärbten Selbstdarstellungen gerade in emanzipatorischen Kreisen erstaune sie „gar nichts, so dumm und moralisch abstoßend es ist“, sagt die Schriftstellerin Eva Menasse auf Anfrage von profil. „Haben diese Leute auch nach IS-Morden vor laufender Kamera, nach dem 11. September oder nach Bataclan gefeiert? Denn das sind die Referenzverbrechen – maximaler Terror, maximal bestialisches Blutvergießen von Unschuldigen, mit dem Schockervorsatz, also gewissermaßen aus Werbezwecken: Seht her, wozu wir fähig sind!“ Leider habe der Israel-Palästina-Konflikt von Anfang an diese besonders von der arabischen Welt kräftig angeheizte internationale Dimension gehabt, so Menasse. Das Schicksal der Palästinenser sei seit Jahrzehnten „ein zynischer Spielball von Ländern, die keine Demokratien und keine Redefreiheit vorzuweisen haben. Insofern ist nichts an den – auch – antisemitischen Äußerungen von vermeintlich linker und westlicher Seite überraschend. Wenn es im Nahen Osten knallt, reagiert man auf allzu erwartbare Weise mit denselben unproduktiven Reflexen. Und je mehr Blut vergossen wird, desto intensiver.“
Menasse mahnt zu „Vorsicht und Sensibilität“ im politischen Diskurs. Wie aber soll oder kann man vorgehen in derart überideologisierten Zeiten, in denen allerorten nur noch mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und Instant-Online-Urteilen gearbeitet wird? „Indem man sich eben immer wieder klar macht, was Ideologie bedeutet: dass nämlich alles, was passiert, radikal verkürzt in den eigenen vorgefertigten Rahmen eingepasst wird.“ Man müsse, sagt die Autorin, sehr genau unterscheiden zwischen Hamas und Fatah, zwischen Terror einerseits und BDS andererseits, und dann noch einmal zwischen all deren Protagonisten und der unschuldigen Zivilbevölkerung, die in Gaza „unter unvorstellbar schrecklichen, im Westjordanland unter entrechteten Bedingungen lebt. Und es wäre zu unterscheiden zwischen den anti-arabischen Rassisten in der derzeitigen israelischen Regierung und mindestens der Hälfte der israelischen Bevölkerung, die seit Monaten erbittert und entschlossen gegen diese Regierung auf die Straße gegangen ist. Zu schweigen von den tödlichen Fehlern der sich für unbesiegbar gehalten habenden Regierung Netanjahu.“ Die Komplexität der Lage werde mit „Immer werden die Juden umgebracht“ respektive „Nie schaut man auf die Palästinenser“ unhaltbar vereinfacht.
Verbote propalästinensischer Demonstrationen hält Eva Menasse für kontraproduktiv. Der israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus habe es bei der Buchmesse „sehr hart und richtig“ formuliert: Neonazi-Aufmärsche können in Deutschland problemlos und jederzeit stattfinden. Die Polizei habe die dafür nötige Vorgehensweise seit Langem drauf: Die Teilnehmenden werden engmaschig beobachtet, und sobald einer „Heil Hitler“ schreie oder den Hitlergruß zeige, werde er rausgezogen und festgenommen – und die anderen marschieren weiter. Genau so müsse man im Fall propalästinensischer Kundgebungen vorgehen. Präventiv Demos abzusagen, weil jemand auf deutschen Straßen „Tod den Juden“ rufen könnte, unterhöhle den Rechtsstaat. Das sei zweierlei Maß und vertiefe die Gräben. Man müsse solche Menschen sofort rausholen und festnehmen – nur so lernten diese Individuen etwas. Und die anderen, die weiter demonstrieren, könnten sich nicht mehr wohlfeil als Märtyrer betrachten, deren Rechte eingeschränkt werden, argumentiert die Schriftstellerin. „Gleiche Rechte für alle, jederzeit. Demokratie ist unangenehm und schwierig, aber sie muss ihre eigenen Prinzipien beachten, sonst hat sie verloren.“
Aus dem Ruder
Ethische Prinzipien gehen gegenwärtig auch in den sozialen Medien reihenweise über Bord, hier läuft die Diskussion gezielt aus dem Ruder: Die oben bereits erwähnte, in Bethlehem geborene US-palästinensische Künstlerin Emily Jacir etwa, die 2007 den Goldenen Löwen der Kunstbiennale in Venedig gewann, hat in einer Instagram-Story das Foto einer betagten Israelin, die von der Hamas als Geisel festgehalten wird, mit folgenden Worten kommentiert: „Diese gefangen genommene Siedlerin sieht sehr glücklich aus. Ich hoffe, sie wird mit der guten palästinensischen Küche versorgt.“ Die manifeste Verhöhnung israelischer Opfer hat in der Kunstszene gerade trübe Hochkonjunktur: Die junge, in Palästina geborene Künstlerin Jumana Manna teilte Bilder von in Panik fliehenden Menschen am Gelände des „Tribe of Nova“-Festivals in der Negev-Wüste im Süden Israels, nahe am Gazastreifen. Manna schrieb: „Echt kein Spaß, in der Nähe des größten Gefängnisses der Welt Party zu machen.“ Opfer-Täter-Umkehr in Reinkultur.
Solche verbalen Entgleisungen seien ein Indiz dafür, sagt Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdischen Museums, dass „viele Leute völlig außer Kontrolle geraten“ seien. Schrecklich ersichtlich sei dies auch daran, dass auf Pro-Palästina-Demonstrationen ein Krieg, der durch ein Blutbad der Hamas ausgelöst wurde, „wie ein Fußballspiel“ abgehandelt werde, „wo eine Fan-Community gegen die andere antritt und diese brutalen Morde regelrecht gefeiert werden“.
Das indonesische Kunstkollektiv Ruangrupa, das die Documenta im Sommer 2022 mit antisemitischen Darstellungen und BDS-Verbindungen an den Rand des Abbruchs gebracht hatte, gönnte sich einen weiteren Eklat: Zwei Mitglieder der Gruppe, die an einer Hamburger Kunsthochschule unterrichteten, solidarisierten sich in sozialen Medien mit propalästinensischen Demonstrationen. Inzwischen haben die beiden ihre Likes gelöscht, ihren Zuspruch ein Missverständnis und einen Fehler genannt.
Die BDS-Kampagne, der auch prominente linke Stimmen wie die Autorinnen Naomi Klein und Annie Ernaux sowie die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis angehören, hat starke populärkulturelle Wirkung: Pink-Floyd-Gründer Roger Waters wettert seit Jahren gegen die „jüdische Lobby“ und vergleicht Israel gern mit Nazideutschland.
Noch absurder argumentiert der Rap-Superstar Kanye West vulgo Ye, Holocaust-Leugner und bekennender Hitler-Fan; er postete Davidstern und Hakenkreuz, ineinander verschränkt. Als antisemitisch sei das natürlich nicht zu verstehen, erklärte er dennoch. Wests gigantischer Einfluss auf Pop und Jugendkultur leistet antisemitischer Gewalt in den USA nachweislich Vorschub. Die BDS-Bewegung ist sehr heterogen, viele ihre Aktivisten sind allerdings offen antisemitisch und gehen Bündnisse mit Islamisten ein. Für sie sind Israelis oder sogar alle Juden Feinde, egal, welche Position sie zur israelischen Regierung einnehmen.
Den Titel eines „Philosophen“ kann sich Richard David Precht seit dem 13. Oktober 2023 nicht mehr ganz so einfach umhängen. Denn als „Freund der Weisheit“ hat er sich krachend disqualifiziert, als er in einem ZDF-Podcast mit seinem Freund Markus Lanz in aller Ahnungslosigkeit uralte antisemitische Klischees reproduzierte: Ultraorthodoxen Juden verbiete ihre Religion zu arbeiten, gab er dort bekannt, „ein paar Sachen wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen“. Für diese auf jeder Ebene kontrafaktische Aussage entschuldigte sich Precht nach dem verlässlich einsetzenden Shitstorm zwar „ganz und gar“, er habe „salopp“ dahergeredet, der ganze Sachverhalt sei deutlich komplizierter, der Satz sei „Quatsch“. Talk-Partner Lanz fand, dass jene Sätze, denen er in der Sendung so rückhaltlos zugestimmt hatte, „mindestens missverständlich“ gewesen seien. Aber Precht sei naturgemäß alles andere als ein Antisemit, „völlig ohne bösen Hintergedanken“. Denn „die Shoah und alles, was damit zusammenhängt“, seien ihm „ein Herzensanliegen“.
Auch Greta Thunberg hat ihren Ruf am Freitag vorvergangener Woche merklich angekratzt: Am 20. Oktober, in Woche 270 ihrer „Fridays for Future“-Proteste, hielt Thunberg ihren 14,7 Millionen Instagram-Followern auf einem Foto ein Schild hoch, auf dem „Stand with Gaza“ zu lesen war. Der heutige Streik, schrieb sie da, gelte der „ Solidarität mit Palästina und Gaza“. Die Welt müsse ihre Stimme erheben und einen „sofortigen Waffenstillstand, Gerechtigkeit und Freiheit für die Palästinenser und alle betroffenen Zivilisten fordern“. Keine Silbe zu den gefolterten, vergewaltigten und ermordeten israelischen Zivilisten.
War das schon Unterstützung für den Hamas-Terror oder noch naiver Pazifismus? Das Posting hatte bei Redaktionsschluss immerhin rund 720.000 Likes generiert, allerdings auch, in fast 160.000 Wortmeldungen, heftige Ablehnung.
Eskalation des Judenhasses
In Klimaschutzbewegungen wie #FridaysForFuture oder Extinction Rebellion sind Antizionismus, BDS-Nähe und antisemitische Untertöne länger schon verbreitet, wie auch Nicholas Potter und Stefan Lauer, die Herausgeber eines neuen Buchs namens „Judenhass Underground“, feststellen. Man betreibe in Öko-Organisationen gern die Dämonisierung des jüdischen Staates und relativiere terroristische Gewalt. #FridaysForFuture international sei „tragischerweise dabei, zu einer antisemitischen Bewegung zu werden“, twitterte der deutsche Autor Sascha Lobo: „Am 19. Oktober verbreiteten sie den antisemitischen Aufruf eines Accounts, der zuvor den Hamas-Massenmord an jüdischen Kindern, Frauen, Männern feierte. Am 25. Oktober behaupteten sie die Existenz einer Art israelischen Weltverschwörung der Medien. Eine weitere Eskalation dieses Judenhasses ist zu befürchten.“
In der Club-Szene sieht es ähnlich trist aus. Die sich fortschrittlich wähnende Partywelt teilt BDS-Hashtags, boykottiert Tel Aviv und weigert sich, israelische Kunstschaffende wegen ihrer Staatsangehörigkeit zu buchen. Die junge dänische Techno-DJ Mama Snake teilte in einer Instagram-Story einen Beitrag, der das Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung als „Kampf für Leben, Würde und Freiheit“, und „die Vorstellung, dass andere Welten möglich sind“, verharmlost.
„Wir müssen endlich begreifen“, sagt Nicholas Potter, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Viele Linke glauben gerne, dass Judenhass in den eigenen Reihen keinen Platz hätte, weil das mit dem eigenen progressiven Selbstbild inkompatibel ist. Aber Antisemitismus hat auch in linken Bewegungen eine lange Tradition. Hinzu kommt, dass er oft nicht richtig verstanden wird, er wird als Unterform von Rassismus abgetan oder als Gespenst der Vergangenheit verharmlost.“ Aber das werde seiner Komplexität nicht gerecht – als ideologisches Weltbild, das „die Juden“ als übermächtig sehe, ihnen in verschwörungsideologischer Manier alles zutraue und sie deshalb auslöschen wolle.
Als Antisemit will kaum jemand gelten. Deshalb suche man nach Umwegen, meint Potter. Fakt sei: „Der israelbezogene Antisemitismus ist aktuell die virulenteste Form des Judenhasses.“ Neu sei er nicht. Er verpacke uralte Mythen in modern klingender „Israelkritik“. Was man früher über „die Juden“ offen sagte, wagten heute viele nur noch über „Zionisten“ oder Israel zu behaupten. Dort sei man „hinterlistig, rachsüchtig, blutdurstig – und hätte geheime Pläne, Nahost oder gleich die Welt zu erobern“.
Postkoloniale Ressentiments
Ein trivialer Antiimperialismus liegt an der Basis des Problems. In der Logik des Kampfs für den Globalen Süden gebe es nur zwei Lager, so Potter: „Unterdrücker und Unterdrückte, den bösen kapitalistischen Imperialismus und die guten Kolonialisierten. Heute feiern die antiimperialistischen Kräfte gerne die Hamas, die Taliban, den Iran: Hauptsache, gegen den westlichen Imperialismus.“
Die postkoloniale Theorie, das Hauptquartier des antiimperialistischen Denkens, hat länger schon, allen Verdiensten um Widerstand und Emanzipation entrechteter Gruppen zum Trotz, eine gefährliche Schlagseite: ein an Feindseligkeit grenzendes Desinteresse an den historischen und gegenwärtigen Zwangslagen des „Besatzer- und Apartheidstaats“ Israel. Der kamerunische Theoretiker Achille Mbembe zeigte vor wenigen Jahren noch Verständnis für palästinensische Selbstmordattentäter. Und die renommierte US-Philosophin, Feministin und Queer-Denkerin Judith Butler bezeichnete die Terrormilizen Hamas und Hisbollah 2006 als „antiimperialistische, daher progressive soziale Bewegungen“ und „Teil der globalen Linken“. Sie unterstützt, mit Vorbehalten, BDS und differenziert klar zwischen Israels Regierung und dem israelischen Volk.
Der jüngste, sechs Tage nach dem Anschlag auf Israel verfasste Butler-Essay trägt den Titel „Der Kompass der Trauer“; doch der Text gibt wenig Orientierung zur Bewerkstelligung der Trauerarbeit. Zwar verurteilt die Autorin die Gewalt der Hamas, sie vermeidet aber den Terrorbegriff, ist anderswo aber um Trennschärfe bemüht: Die auf beiden Seiten angewandte Gewalt sei nicht die gleiche, die Motivlagen der Israelis seien andere als die der Hamas. Man müsse zuerst begreifen, aus welchen Gründen Menschen zu brutaler Gewalt greifen, um sie beurteilen zu können. Eingangs beschreibt Butler die Schwierigkeit, zur Geschichte dieses Krieges und seiner Gewalt überhaupt noch zu sprechen, ohne Gefahr zu laufen, sich historischer „Relativierungen“ schuldig zu machen. Man sei angehalten, eine Seite zu wählen, entweder zu verdammen oder zuzustimmen; das könne nicht alles an ethischen Anforderungen sein.
Und darin ist ihr allerdings zuzustimmen. Denn die vorbehaltlose Verurteilung des Terrors und eine deutlich formulierte Kritik an einer rechtsextremen Regierung und Besatzungsmacht müssen zusammen denkbar bleiben – auch und gerade angesichts der Möglichkeit, sich dabei die Unterstellung der Gleichsetzung einzuhandeln. Natürlich ist nicht jeder gewaltsame Akt in gleichem Maße heimtückisch. Und doch: Um jedes zivile Menschenleben ist zu trauern, egal welcher Seite es zugeordnet wird – und welchen militärischen oder terroristischen Agenden es zum Opfer fiel.
Mitarbeit: Moritz Ablinger, Angelika Hager, Wolfgang Paterno