Herr der Puppen: Der Grazer Marionettenspieler Nikolaus Habjan
Über zu wenig Publikum konnte sich der Puppenspieler Nikolaus Habjan schon als Kind nicht beschweren. Wenn seine Eltern Besuch bekamen, mussten die Gäste im Laufe des Abends auch ins Kinderzimmer schauen. Dort wartete der kleine Nikolaus schon mit einem perfekten Bühnenbild. "Der Luftbefeuchter war die Nebelmaschine, die Schreibtischlampe die Beleuchtung", erinnert sich der Regie-Frühzünder. Bereits im Alter von fünf wünschte sich Habjan zu jedem feierlichen Anlass nur eines: Marionetten, bis er die komplette Besetzung von Mozarts Oper "Die Zauberflöte" zusammenhatte. "Unter einer Stunde ist keiner aus dem Kinderzimmer wieder herausgekommen", scherzt Habjan heute.
Die frühe Beharrlichkeit hat sich gelohnt. Das Burgtheater reißt sich um den 28-Jährigen ebenso wie das Wiener Volkstheater. Der junge Mann kann nämlich nicht nur umwerfend schräge Puppen basteln (Inspiration holt er sich bei Egon Schiele), sondern ist auch ein kongenialer Schauspieler, obwohl er nie eine Ausbildung genossen hat. Beim Treffen in der Roten Bar im Volkstheater erweist sich Habjan als Energiebündel und Entertainer alter Schule. Er möchte, dass sich sein Gegenüber gut unterhalten fühlt. Als Stand-up-Comedian könnte er Säle füllen, wäre er nicht den Puppen treu geblieben. Sekundenschnell zaubert er aus einer Reisetasche eine selbst gebaute Klappmaulpuppe. Er steckt seinen Arm in den Kopf des schlaff herabhängenden Objekts, und sofort beginnt es zu leben. Ein älterer Herr mit großen traurigen Augen hebt den Kopf und sagt: "Ich habe noch nie eine Rolle gespielt, deshalb bin ich ein wenig depressiv."
Abgründiger, selbstironischer Witz
Die arbeitslose Marionette wurde im Vorjahr für "Die letzten Tage der Menschheit" konzipiert. Regie hätte der damalige Burg-Chef Matthias Hartmann führen sollen, nach dessen Entlassung wurde der Plan, die bissigen Miniaturen von Karl Kraus mit einem Puppenspieler zu ergänzen, jedoch fallen gelassen. Wahrscheinlich ist der ältere Herr auch deshalb ein wenig prätentiös geworden. Als die beiden fotografiert werden, hält er dramatisch die Hand vor sein Gesicht: "Mir tut der Blitz in den Augen weh, ich kann ja nicht blinzeln", sagt er wehleidig. Habjan improvisiert munter drauflos, er produziert aus dem Handgelenk kleine, funkelnde Miniaturen, die sein großes Talent aufblitzen lassen: seinen abgründigen, selbstironischen Witz, seine Gabe, Figuren sekundenschnell aus dem Nichts entstehen zu lassen. "Ich mag kein Theater", sagt die Puppe - und drängt, ganz Rampensau, Habjan in den Hintergrund.
Bekannt wurde Habjan mit einem ungewöhnlich gewagten Projekt, das er gemeinsam mit Simon Meusburger, dem Leiter des Wiener Schubert Theaters, 2012 realisierte. Die beiden verarbeiteten eine reale Geschichte. Friedrich Zawrel wurde in der NS-Diktatur in der "Kinderfachabteilung" Spiegelgrund von dem Anstaltsarzt Heinrich Gross als "sozial minderwertig" eingestuft. Jahre später traf Zawrel erneut auf seinen einstigen Peiniger. Jener Mann, der das Leben so vieler Kinder zerstört hatte, führte seine Psychiatriekarriere auch nach dem Krieg unbescholten fort. "F. Zawrel - erbbiologisch und sozial minderwertig" entstand in enger Zusammenarbeit mit Zawrel selbst und läuft noch immer im kleinen Schubert Theater im 9. Wiener Gemeindebezirk, an dem Habjan mittlerweile Ko-Direktor ist.
Das Theater ist eine plüschige Hinterhofbühne, früher war hier ein Pornokino untergebracht. Habjan beteuert, dass die Sitze ausgetauscht wurden, aber sympathisch schmuddelig wirkt der Zuschauerraum noch immer. Und Habjan hat seine Freude daran, wenn sich ehemalige Kinobesucher hierher verirren. Wie kürzlich ein älterer Herr, der Ibsens "Nora" für eine Live-Sexshow hielt. In der Pause verließ er erbost das Theater und rief: "Des is jo Literatur!"
"Ihr seids schiach wia die Nacht"
Habjan schaut den Menschen gern aufs Maul. Wie für seine Idole Helmut Qualtinger und Karl Kraus ist das goldene Wiener Herz eine Mördergrube, aus der man die wunderlichsten Schätze holen kann. Herr Berni etwa, ein unverbesserlicher alter Nazi, aus dem bitterbösen Puppentheater "Schlag sie tot" (2008), Habjans erstem eigenen Stück, sagt: "Hust net - stirb." Das ist nicht erfunden, sondern im Kaffeehaus belauscht. Das Publikum wird während der Vorstellung von Herrn Berni beschimpft ("Ihr seids schiach wia die Nacht"), die anwesenden Schulklassen sind begeistert über so viel Bösartigkeit.
2012 wurde Habjan dann vom Burgtheater entdeckt. Er war gerade dabei zu übersiedeln, schleppte mit seinem Vater Möbel und wartete auf einen Anruf von seiner Mutter aus dem Baumarkt. Als das Telefon klingelte, hob er ab und sagte: "Ja, Mama?" In der Leitung war aber eine Männerstimme zu hören: "Nö, das ist nicht die Mama, hier ist Matthias Hartmann. Wir haben da ein paar Mega-Schauspieler und dachten, wir nehmen noch eine Puppe rein." Natürlich kann Habjan auch den ehemaligen Burg-Chef großartig imitieren. Der musikalische Shakespeare- Abend "Fool for Love" wurde ein Erfolg, 2013 rief Hartmann noch einmal an: "Wir bräuchten wieder eine Puppe. Kannste Jelinek nachmachen?" Habjan saß gerade in der U-Bahn, aber Hartmann beharrte auf seiner Forderung. Zur Belustigung seiner Sitznachbarn versuchte Habjan also wie die Nobelpreisträgerin zu sprechen - und bekam den Job. In "Schatten (Eurydike sagt)" stand er mit einer lebensechten Jelinek-Puppe auf der Bühne. Die öffentlichkeitsscheue Autorin war so begeistert, dass sie Habjan und ihr Double engagierte, als sie 2013 einen Nestroy für ihr Stück überreicht bekam. Jelinek wollte ihre Puppe dann sogar persönlich kennenlernen. Habjan, der sich als politischer Künstler sieht, war aufgeregter als vor einer Premiere. Er bewundert an Jelinek, dass sie sich nicht scheut, brisante Themen aufzugreifen. Eine seltsame Situation sei es trotzdem gewesen, mit der Jelinek-Puppe daheim bei der Autorin aufzukreuzen und die beiden miteinander bekannt zu machen.
Für Habjan ist das Puppenspiel die "Königsdisziplin" des Theaters. Es gehe nicht darum, als Akteur zu verschwinden. Im Gegenteil: In der Arbeit mit Klappmaulpuppen stellt der Spieler der Puppe sozusagen seinen Unterkörper zur Verfügung. Die beiden bilden eine Einheit. "Wenn man sich auf der Bühne möglichst unsichtbar macht, versuchen die Zuschauer doch bloß, den Trick zu durchschauen", sagt Habjan, der von dem australischen Großmeister Neville Tranter gelernt hat: "Puppen sind Schauspielern gegenüber klar im Vorteil, wenn es ums Sterben geht. Niemand kann so überzeugend sterben wie eine Puppe!" Das beweist auch seine aktuelle Produktion "Das Missverständnis", die gerade für einen Nestroy nominiert wurde. Am Ende dieses unheimlichen Abends bleiben fast nur Tote zurück.
Aber Puppen gelingt es nicht nur, aberwitzig brutal und zugleich sehr anrührend zu sterben, sie können auch sexuell so aktiv werden, dass einem die Luft wegbleibt. In "Fasching", Anna Badoras Eröffnungsproduktion ihrer Intendanz am Wiener Volkstheater, spielt Habjan einen jungen Mann, der in Mädchenkleider gesteckt und von einer dämonischen Baronin verführt wird. Die Textpassage zur Szene ist literarisch-pornografisch ("den haarigen Wulst, die offene Wunde, den schwimmenden Glanz des Dunkels"), und Habjan legte die Szene schizophren an, er war, mit Netzstrümpfen an seinen Beinen, zugleich die Baronin und der Bursche, wobei die männliche Puppe und der Spieler einander körperlich fast verschlingen, bis der abgetrennte Puppenkopf zwischen Habjans Beinen baumelt: eine obszöne, eindringliche, geniale Szene. Bei der Premiere war es betreten still im Zuschauerraum, in der zweiten Vorstellung rief ein älteres Paar "Pfui", und am dritten Abend gab es Szenenapplaus, erzählt Habjan. Sein Theater lässt eben niemanden kalt. Genau das ist seine Stärke.
Gefährliche Heimat
Nikolaus Habjan gehört seit der laufenden Spielzeit fix zu Anna Badoras Team am Volkstheater. Ab 23. Oktober ist die Wiederaufnahme von Albert Camus' düsterem Stück "Das Missverständnis" zu sehen - die Inszenierung wurde gerade als "Beste Bundesländer-Aufführung" für einen Nestroy-Theaterpreis nominiert. Habjan zeigt einen abgründigen Familien-Horrortrip, wie von Hitchcock erdacht. Jan kehrt nach 20 Jahren Exil in seine Heimat zurück, mietet ein Zimmer in der Pension seiner Mutter und Schwester, gibt aber seine Identität nicht preis. In der Nacht wird der vermeintlich Fremde von den beiden Frauen aus Geldgier ermordet. Ab 4. Dezember ist dann eine neue Arbeit in der Nebenspielstätte Volx/Margareten zu bewundern: die Erzählung "Das Wechselbälgchen" der 1973 verstorbenen Kärntner Autorin Christine Lavant. Es geht um ein behindertes Kind in einer dörflichen Gemeinschaft, die allem Unbekannten feindlich gegenübersteht. Habjan wird diesmal übrigens nicht selbst auf der Bühne zu sehen sein, er wird Regie führen.