"Ist er toll?"
Der Reporter notierte beklemmende Szenen. „Die NSDAP war damals in Österreich nicht verboten“, schrieb Hans Békessy im April 1932, zu Besuch in Braunau. „Junge Burschen in Braunhemden paradierten auf den Straßen auf und ab wie die Statisten, die in billigen Filmen immer wieder auftauchten, um das Gefühl der Masse zu erwecken; vom Geburtshaus Hitlers, in dessen Erdgeschoss sich eine Gastwirtschaft befand, wehte die Hakenkreuzfahne; das Geburtszimmer des ,Führers‘ wurde andachtsvoll gezeigt, als wäre es der Stall von Bethlehem.“ Bekessi, der sich später Hans Habe nennen wird, ermittelte auch ein Detail, das bald für Furore sorgen sollte. Der Journalist stellte fest, dass der Geburtsname von Hitlers Vater Schicklgruber und nicht Hitler war. „Heil Schicklgruber“, persiflierten NS-Gegner den Hitlergruß. Winston Churchill titulierte den Despoten in seinen Reden als „Gefreiten Schicklgruber“.
Geschichte ist ein Geflecht aus Zufällen, Anekdoten, Momentaufnahmen, jähen Wendungen, Fehlern, Moden, ein Muster, das sich aus kleinsten Einzelheiten zusammensetzt. Geschichte ist ein Herumirren in den Nebeln der Gegenwart, ein großes Puzzle, das sich, wenn überhaupt, erst in der Rückschau als klares Bild zeigt. Der Berliner Dokumentarfilmer Hermann Pölking, 62, wählt in seinem Buch „Wer war Hitler“, einer Biografie aus Briefen, Berichten und Tagebuchnotizen Hunderter Zeitgenossen, deshalb die Methode der historischen Vielstimmigkeit: Hitlers 56 Lebensjahre, von denen er fast die Hälfte die deutsche und mindestens zwölf Jahre lang die Weltgeschichte bestimmte, lässt Pölking in einer bemerkenswerten Collage von prominenten Schriftstellern und Weggefährten Hitlers, von jüdischen KZ-Häftlingen und polnischen Untergrundkämpfern darlegen und diskutieren.
Der Titel ist Provokation und Irritation zugleich.
„Wer war Hitler“ ist eine gewagte Unternehmung, in der man lesend förmlich verloren gehen kann. Als Arrangeur von 3000 Zitaten verzichtet Pölking auf jede Kommentierung des historischen Horizonts: Goebbels’ Hitler-Verehrung steht neben der Nazi-Verachtung des Publizisten Sebastian Haffner; Himmlers Briefe an seine Frau („Liebe Mami!“) sind parallel zu den letzten Zeilen eines Deportierten und Klaus Manns Frage nach Hitlers Geisteszustand montiert: „Ist er toll?“
Der Titel ist Provokation und Irritation zugleich. Man weiß, wer Hitler war. Von Hitler existieren Zigtausende Fotos, Hunderte Stunden laufende Bilder, Abertausende schriftliche Zeugnisse. „Das war ein aufschlussreicher Prozess“, erinnert sich Pölking. „Lektor wie Grafiker fügten unweigerlich ein Fragezeichen in den Buchtitel ein, weil alle davon ausgingen, es sei vergessen worden. Da ist kein Erstaunen mehr. Unser Blick auf Hitler ist entschärft.“
Hört man dem Schnellredner Pölking länger zu, drängt sich einem das Bild von einem Lexikon auf zwei Beinen fast von selbst auf. 830 Publikationen umfasste die Leseliste für sein Buch, 14.000 Zitate hat er gescannt, im Frühjahr 2017 soll seine gleichnamige, siebeneinhalb Stunden lange Dokumentation in die Kinos kommen. „Bei Hitler war wohl fast alles Fassade“, sagt Pölking. „Was sich dahinter versteckte, wissen wir nicht. Das hat mich auch nicht interessiert. Es wird zu allen Zeiten deformierte Menschen mit Machtinstinkt wie Hitler gegeben haben. Man hätte ihn einfach nicht wählen dürfen. Die deutschen Eliten hätten nicht zulassen dürfen, dass sich ein Mann wie Hitler mit Lüge und Verstellung an die Macht schummelt.“
Es erzählt die Geschichte eines Menschenfeinds in zahllosen Splittern.
Über den Braunauer erschienen bereits zu Lebzeiten Hagiografien, und die Hitler-Biografik kennt Meisterwerke wie jene von Alan Bullock, Joachim Fest, Ian Kershaw und Peter Longerich, dazu Regalkilometer von Detailstudien. Hitlers Physiognomie wurde ebenso erforscht wie seine Rhetorik und Gestik. 2016 ist ohnehin so etwas wie ein Hitler-Jahr: Der Historiker Thomas Weber publizierte mit „Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde“ einen voluminösen Versuch über die ideologische Wandlung des ausgemusterten Weltkriegsgefreiten vom orientierungslosen Einzelgänger zum antisemitischen Scharfmacher; neben den 2000 Seiten von Harald Sandners Studie „Das Itinerar“, einer lückenlosen Tag-für-Tag-Chronik aller Aufenthaltsorte und Reisen Hitlers, erschien die kritische Edition von „Mein Kampf“, die ebenfalls 2000 Seiten umfassende wissenschaftlich kommentierte Fassung einer der wichtigsten Quellen des Nationalsozialismus.
„Wer war Hitler“ tritt nicht in Konkurrenz mit diesen Zentralmassiven der Forschung. In Pölkings Buch werden die Jahre von den Weltkriegswirren ab 1914 über die Machtergreifung 1933 bis zum Selbstmord im Berliner Bunker gleichermaßen polyphon orchestriert.
Es erzählt die Geschichte eines Menschenfeinds in zahllosen Splittern, in einem Panorama aus divergierenden Empfindungen, Einblicken, Betrachtungen, Banalitäten, Belanglosigkeiten, die zusammengenommen die Mentalitätsgeschichte einer Epoche belegen, die in Rassismus und Menschenschlachten mündete. Eine wichtige Stimme in dem Chorus bildet das Tagebuch von Henriette Schneider, einer unverheirateten Ostpreußin, Jahrgang 1872, die sich in ihrem Diarium rückhaltlos zur braunen Bewegung bekannte, der Hitler messianische Gestalt war. Der ideologische Feuereifer der Erzieherin in den, wie das damals hieß, „besseren Kreisen“ steht stellvertretend für jene Teile der Gesellschaft, die Hitlers Aufstieg ermöglichten und ihn bis zum Ende trugen. „Ein schwarzer Tag für das deutsche Vaterland“, schrieb Schneider am 5. Mai 1945 nach der bedingungslosen Kapitulation.
Wer war also Hitler, Herr Pölking? „Ein Mensch mit der Fähigkeit zur Selbstsuggestion, aus der er Willensstärke schöpfte. Und ein sehr begabter Schauspieler, der ohne Hemmungen log – die gefährlichste Mischung, die es gibt.“
Auszüge aus "Wer war Hitler?"
„Besonders Herr Hitler ist, ich darf wohl sagen, ein geborener Volksredner, der durch seinen Fanatismus und sein populäres Auftreten in einer Versammlung die Zuhörer unbedingt zur Aufmerksamkeit und zum Mitdenken zwingt.“ Notiz eines Soldaten, August 1919
„Hitler hat den Deutschen zum verabscheuten wilden Tier in der ganzen Welt gemacht.“ Der Diplomat und Widerstandskämpfer Ulrich von Hassell, Tagebuch vom 15. Mai 1943
„Hitler hat bei der Eröffnung des Reichstags eine wunderbare Rede gehalten. Es ist etwas Wunderbares um unsere Revolution. Jetzt beginnt das große Reinemachen.“ Tagebucheintrag der NS-Sympathisantin Henriette Schneider, 25. März 1933
„Hitler hat Hindenburg in Neudeck über seine scharfen Maßnahmen den Verrätern gegenüber Bericht erstattet. Der alte Herr billigt voll und ganz sein Tun. Hitler hat uns vor Schlimmem bewahrt.“ Henriette Schneider, 5. Juli 1934
„Dass die Nazis Feinde seien – Feinde für mich und für alles, was mir teuer war –, darüber täuschte ich mich keinen Augenblick. Worüber ich mich freilich vollkommen täuschte, war, wie furchtbare Feinde sie sein würden.“ Der damalige Justizreferendar und spätere Publizist Sebastian Haffner
„Was für ein Geburtstag … Mit meinem Mund ist es etwas besser, aber das Essen fällt mir immer noch schwer. Mit den Furunkeln hat sich nichts geändert, das ganze Lager leidet ja an diesem Übel. Zum Abendessen haben sie uns etwas gegeben, das wie gelber Käse aussah, verdorben und übel riechend, voller Würmer, bitter wie Galle, aber wir haben ihn gierig verschlungen, den Käse.“ Arieh Koretz, deutsch-jüdischer KZ-Häftling in Bergen-Belsen, Tagebuch vom 20. Juli 1944
„Übrigens sollen diese Erschießungen nicht mehr stattfinden, da man zur Vergasung der Opfer übergegangen ist.“ Schriftsteller Ernst Jünger, Tagebucheintrag, 21. April 1943
„15 Uhr: Seit zwei Tagen Unbehagen im Darm mit Gasansammlungen, angeblich wegen grüner Erbensuppe, meiner Ansicht nach wegen Aufregung über Bevorstehendes.“ Hitler-Leibarzt Theo Morell, Tagebucheintrag 30. Dezember 1945
„Ich lese Hitlers Buch zu Ende. Mit reißender Spannung! Wer ist dieser Mann? Halb Plebejer, halb Gott! Tatsächlich der Christus, oder nur der Johannes?“ Der arbeitslose Germanist Joseph Goebbels, Tagebuch 14. Oktober 1925
„Von den Judenerschießungen im Osten erzählte jemand, dass vorher ein SS-Mann mit einem Pappkarton von einem zum anderen geht und ihnen die Ringe und Ohrringe abzieht.“ Kriegstagebuch von Erich Kästner, Februar 1943
„Von den Judenerschießungen im Osten erzählte jemand, dass vorher ein SS-Mann mit einem Pappkarton von einem zum anderen geht und ihnen die Ringe und Ohrringe abzieht.“ Kriegstagebuch von Erich Kästner, Februar 1943
„Wir kapitulieren nicht, niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen.“ Hitler Ende Dezember 1944 zu seinem Adjutanten Nicolaus von Below
Hermann Pölking: Wer war Hitler. Ansichten und Berichte von Zeitgenossen. be.bra Verlag, 784 S., Eur 37,10