Mit Ihren Arbeiten bespielten Sie letzthin vor allem große Kunst- und Museumsräume. Nun widmet man Ihnen im Filmmuseum eine Werkschau. Im Kino herrscht eine potenziell konzentrierte, immersive Stimmung, die mit dem „zerstreuten“ Blick auf Videoinstallationen in Kunst- und Museumsräumen wenig gemeinsam hat. Wie gehen Sie künstlerisch mit diesem Rezeptionszwiespalt um?
Hito Steyerl
Ich versuche, mich auf die mangelnde Konzentration einzustellen. Denn ich glaube, dass es mittlerweile überall so ist. Die Leute schauen auch im Kino auf ihre Handys und checken, wenn sie schon dabei sind, schnell noch ihre TikTok-Accounts.
Verfolgen Sie, wenn Sie eine halbstündige Videoarbeit als Installation in einen Kunstraum stellen, nicht bestimmte Methoden der Attraktionserzeugung, um zu verhindern, dass man an Ihrem Werk bloß vorbeischlendert?
Hito Steyerl
Man muss schon anders arbeiten, etwa kurze Kapitel anlegen, die spätere Einstiege in die Geschichte ermöglichen. Weil man ja damit rechnen muss, dass da ständig Menschen kommen und gehen. Es ist also vor allem die Erzählweise, die sich ändert.
Im Abspann eines Ihrer frühen Filme heißt es nicht „Regie“, sondern „Beobachtung und Kompilation“. Sehen Sie sich vor allem als Forscherin und Sammlerin?
Hito Steyerl
Ja. Die Filme passieren einem ja oft eher, als dass man aktiv auf sie hinarbeiten würde. Sie entstehen aus den Recherchen. Meine Dreharbeiten fallen mit der Spurensuche nach dem Film in eins.
Ihre Bildwelten haben sich in den vergangenen 20 Jahren stark verändert, während Sie sich von klassischeren Essayfilmen zu sehr viel technoideren Arbeiten voranbewegt haben. Wie betrachten Sie selbst Ihre Evolution als Filmemacherin?
Hito Steyerl
Die Technologie und die Methoden des Bildermachens haben sich eben so stark und so schnell verändert. Da ich stets interessiert war am Apparat des Kinos, war diese Entwicklung unausweichlich.
Zwischen den 1980er-Jahren, als Sie zunächst Super-8-Amateur-Actionfilme drehten, und den 2020er-Jahren liegt tatsächlich eine Revolution der Bilder. Und doch entstehen Ihre Werke immer noch mit einfachsten Mitteln?
Hito Steyerl
Absolut. Das ist alles DIY (do it yourself), nach wie vor. Alles gebastelt, unter Verwendung gängiger Unterhaltungselektronik.
Sie haben 2009 einen Essay mit dem Titel „In Defense of a Poor Image“ verfasst, ein Plädoyer für das subversive Potenzial „schlechter“ oder „ärmlicher“ Bilder, die von jeher der Stoff einer avantgardistischen Kultur waren. Sehen Sie Ihre Filme als Sammlungen solch „fehlerhafter“ Bilder?
Hito Steyerl
Eigentlich schon. Allerdings gibt es ja heute das, was man früher „schlechte Bilder“ genannt hat, so nicht mehr, denn der Kontext hat sich radikal gewandelt. Inzwischen sind es die nicht gesehenen und die langsamen Bilder, die diese Funktion erfüllen. Die Auflösung spielt keine große Rolle mehr. Ein „gutes“ oder ein „wertvolles“ Bild, das ist heute ein schnelles oder weitverbreitetes Bild.
Worauf legen Sie es denn an, wenn Sie Ihre Bildwelten entwerfen?
Hito Steyerl
Es geht mir oft darum, festzustellen, wo die Bildproduktion gerade steht. Was ist das für eine Fabrik, welche Leute arbeiten darin und unter welchen Bedingungen? Was tun die Maschinen? Was hat sich geändert? Die Entwicklung schreitet rasant voran. Zuletzt waren es die NFTs, diese Krypto-Bilder, um die sich die Welt riss. Nun hält uns das Phänomen der künstlichen Intelligenz in Atem. Es geht mir also weiterhin um die Bildermaschine, die Bilderfabrik. Was sind heute Kameras? Diese unterscheiden sich absolut von den Maschinen, die wir aus dem 20. Jahrhundert kennen.
Wie rasant die Entwicklung der Bildangebote vor sich geht, zeigt der Hype um NFTs am allerbesten, den Sie ja 2022 in Ihrer Documenta-Arbeit „Animal Spirits“ thematisiert haben. Dieser Boom scheint jäh abgerissen zu sein. Kommt da auch Schadenfreude auf?
Hito Steyerl
Nicht wirklich. Es hat mich nicht gewundert, dass NFTs so schnell wieder von der Bildfläche verschwanden. Zugleich denke ich, dass die KI-Hysterie, die wir gerade erleben, etwas nachhaltiger sein wird. Aber der nächste Hype kommt bestimmt bald.
Künstliche Intelligenz ist das Schreckgespenst der Stunde, nicht nur in Hollywoods Schauspielgewerkschaft, sondern bei fast allen kreativen Geistern; man fürchtet eine Menschen ersetzende, kontrollierende Macht. Ist die Angst vor KI gerechtfertigt?
Hito Steyerl
Ja und nein. KI wird definitiv viele Arbeitsplätze extrem transformieren, einige auch überflüssig machen: Grafik- und Webdesigner, Buchhalter, Programmierer müssen sich von KI realistisch bedroht fühlen. Kunst an sich wird die KI in absehbarer Zeit nicht ersetzen können. Leider ist das aber keine besonders entscheidende Frage. Denn was mit dem Rest der Welt passieren wird, ist doch wichtiger.
Wenn man Maschinen mit den Ergebnissen zahlloser kreativer Individuen füttert, werden Erstere möglicherweise selbst sehr kreativ werden können.
Hito Steyerl
Von mir aus. Ich frage mich eher, was passiert mit dokumentarischen Bildern? Was passiert mit Begriffen wie Faktizität und Wahrheit? Was wird mit der Kriegsführung, wenn man sich zu stark auf diese stochastischen Wahrscheinlichkeitszuschreibungen verlässt?
KI wird die Brandbeschleunigerin der Fake News sein: Sie bringt absolut glaubhafte, die Sinne betrügende Fiktionen hervor. Wie werden wir mit dem Umstand umgehen, dass wir an nichts, was wir zu sehen und zu hören kriegen, noch einfach so glauben können werden?
Hito Steyerl
Ich weiß es nicht. Ich merke aber an mir selbst: Ich traue keinem Bild und keinem Ton mehr. Ich denke, dass wir alle einen neuen Alphabetismus, eine Lese- und Verständnisfähigkeit entwickeln werden müssen, um mit dieser Informationssituation umgehen zu lernen. Das wird, nach und nach, auch gelingen. War ja schon immer so.
Noch angesichts jeder technologischen Innovation in der Menschheitsgeschichte gab es erst Misstrauen und Angst – und anschließend Akzeptanz.
Hito Steyerl
Allerdings spitzt die Situation sich gerade zu – auf eine allgemeine und vollständige Skepsis hin. In anderen Worten: Niemand wird mehr irgendetwas glauben.
Das klingt aber auch dystopisch.
Hito Steyerl
Ideal ist es nicht.
Es wird immer schwieriger, politische Einschätzungen zur Lage zu treffen, etwa was die Kriege, die allgegenwärtige Gewalt betrifft. Die Abwesenheit verlässlicher Zahlen, Fakten, Bilder und Töne könnte zum Dilemma unserer Zeit werden, oder?
Hito Steyerl
Ja. Der Nebel des Krieges breitet sich aus.
Man stellt dieser Tage eine starke Polarisierung und politische Radikalisierung gerade in der Kunst fest. Ob das Museum „ein Schlachtfeld“ sei, haben Sie schon 2012 gefragt. Die Antwort ist immer noch ja?
Hito Steyerl
Allerdings. Natürlich war das Museum immer schon ein Ort, in dem verschiedene Interessen gegeneinander in Stellung gebracht wurden. Aber derzeit sind nur noch die Interessenvertreter im Museum zugange; die Künstlerinnen und Künstler haben sich aus der Debatte schon wieder verabschiedet.
Zeigt der prolongierte Eklat bei der Documenta nicht fast kristallisiert das Antisemitismusproblem, in dem sich gerade linke, emanzipatorische Gruppen, also insbesondere auch die Kunstszene, verfangen haben?
Hito Steyerl
Vor allem zeigt sich in diesem Eklat, dass es keinerlei nachhaltigen Versuch gab, die beunruhigenden Vorgänge auf der Documenta zu diskutieren. Sie wurden hingenommen – und dann wurde weitergemacht wie immer. Das hat eben nicht funktioniert. Und ja, natürlich gibt es aufseiten der Linken immer wieder blinde Flecken, vor allem was Antisemitismus betrifft: Das kommt wellenhaft, in einem 25-Jahre-Rhythmus, und anscheinend muss man immer wieder von Neuem anfangen, Aufklärung zu betreiben. Anders scheint es nicht zu gehen.
Gerade die postkoloniale Theorie ist diesbezüglich in Verruf geraten. Muss man sie in Schutz nehmen?
Hito Steyerl
Ich finde schon. Es werden gerade unglaublich viele, extrem heterogene Denkströmungen unter diesem Schlagwort zusammengefasst; und ich kann die sehr allgemeine Kritik an post- und dekolonialen Theorien auch nachvollziehen, aber nicht teilen. Das ist zu undifferenziert.
Sie haben ja schon in Ihren frühen Werken über Antisemitismus gearbeitet, insbesondere in der „Normalität“-Serie. Sie bewegen politisch Dinge, erheben Anklage. Verstehen Sie sich auch als Aktivistin?
Hito Steyerl
Nein. Ich sehe die „Normalität“-Filmserie und viele andere Werke, die ich erarbeite – etwa auch die Texte, die ich schreibe –, als Zeitkapseln für die Zukunft. Als ich „Normalität“ drehte, Ende der 1990er-, Anfang der 2000er-Jahre, interessierten sich nicht viele Leute für die Schändungen jüdischer Friedhöfe. Inzwischen, viele Jahre später, ist die Kritik an antisemitischer Gewalt aber ein wichtiges Thema. Meine Arbeit ist – mehr als irgendetwas sonst – der Versuch, in der unmittelbaren Gegenwart Geschichte zu schreiben.
Auf die Geschichte weisen Sie bisweilen auch hin, indem Sie Auszeichnungen zurückweisen: 2021 lehnten Sie das Bundesverdienstkreuz ab, zuletzt auch den Hugo-Ball-Preis – im ersten Fall, um die asoziale Politik der deutschen Regierung zu ächten, im zweiten, um die antisemitischen Textfunde eines gefeierten Dada-Künstlers ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.
Hito Steyerl
Mir liegt an sich wenig daran, Preise abzulehnen, aber manchmal gerate ich eben in Situationen, in denen mir nichts anderes übrig bleibt.
Sie behandeln in Ihren „Zeitkapseln“ die jeweils akuten, ganz gegenwärtigen Themen. Birgt dies nicht die Gefahr einer schnellen Alterung dieser Werke? Weil sie eben nicht das große Ganze, die angeblich „zeitlosen“ und „ewigen“ Menschheitsfragen thematisieren?
Hito Steyerl
Ich versuche, Quellen für die Zukunft zu produzieren. Wenn ich im Rahmen einer Recherche etwas herausfinden will, das sich in den 1890er-Jahren zugetragen hat, dann ist es am besten, Quellen heranzuziehen, die sich mit jener Gegenwart beschäftigen, nicht mit Texten, die sich aus historischer Distanz über das Wahre, Gute und Schöne jener Zeit auslassen. Nachdem es nur die Gegenwart gibt, über die ich zuverlässig Zeugnis ablegen kann, sollte ich dies tun, finde ich. Künftige Historikerinnen und Historiker wird es freuen. Es stimmt übrigens, dass meine Filme oft eine Weile lang veraltet erscheinen; sie fallen wenige Jahre nach ihrer Entstehung in eine Art Limbo, in dem sie unzeitgemäß wirken – aber nach zehn Jahren kommen sie da wieder raus.
Ja, Ihre Filme aus den 1990er-Jahren wirken sehr gegenwärtig.
Hito Steyerl
Vor 15 Jahren hätte man nur deren schlechte Bildqualität gesehen.
Sie haben unlängst behauptet, die Kunst habe „ihre Unschuld verloren“: Wo steht denn die Gegenwartskunst?
Hito Steyerl
Sie hat große Schritte gemacht, um sich im Alltag aufzulösen, um lebensnäher und praktischer zu werden. Aber das hat den Nachteil, dass die Kunst vom Leben ununterscheidbar geworden ist. Ihr Reflexionsraum ist verloren gegangen. Inzwischen wird sie beurteilt wie jede andere aktivistische oder sonstige Praxis. Was sind denn die Kriterien der Kunst? Wie unterscheiden sich die Kunstformen überhaupt noch voneinander? Insofern wäre eine Rückbesinnung auf die Form wichtig, auf das, was das Politische in der Form sein kann. Das alles wird derzeit nicht mehr diskutiert. Es geht nur noch um Inhalts-, sogar um Polizeifragen: Welche Kunst muss man mit welchen Mitteln verbieten? Solche Fragen interessieren mich überhaupt nicht. Wir brauchen dringend eine politische Formdebatte.
Sie benutzen die Ästhetiken und Logiken der Unterhaltungstechnologie, etwa Bildoberflächen aus den Gaming-Universen und den sozialen Medien, um darin tiefer zu schürfen. Ist es nicht anstrengend, da stets am Laufenden zu bleiben?
Hito Steyerl
Es ist anscheinend nötig. Ich habe mit 55 damit angefangen, Programmieren zu lernen. Das ist tatsächlich anstrengend.
Auf TikTok und Instagram findet so etwas wie die Entertainisierung der Realität statt. Wie gefährlich kann das werden?
Hito Steyerl
Es ist schon längst gefährlich. Das ist auch den gegenwärtigen Debatten zu entnehmen – wobei: Debatten als solche gibt es gar nicht mehr, weil niemand mehr zuhört. Das sind nur noch Monologe von Menschen, die nicht bereit sind, andere Argumente zu akzeptieren. Diese Filter-Bubble-Realität ist schon allgegenwärtig.
Wie reagieren Sie auf die Kunst-Rankings, die Sie oft sehr weit vorn in der Liste der einflussreichsten Menschen des globalen Kunstbetriebs nennen? 2017 belegten Sie in dem Londoner Magazin „ArtReview“ sogar Platz eins. Ist das eine Ehre?
Hito Steyerl
Nein. Es ist totaler Quatsch. Und völlig paradox, denn ich schreibe ja ständig gegen diese algorithmische Quantifizierung an. Insofern ist es geradezu fürchterlich, in diesen Listen vorzukommen.
Wobei solche Listen, die zugegeben willkürlich erscheinen, ja nicht nach Algorithmen, sondern nach redaktionellen Vorlieben und Launen gestaltet sind.
Hito Steyerl
Nach Launen, genau. Das ist so ähnlich wie der Aktienmarkt. Der kommt auch hauptsächlich durch Launen, Interessen und Kaprizen zustande, greift dann aber in die Realität ein. Ich glaube, die Kunstwelt käme sehr gut ohne die Realität solcher Wichtigkeitslisten klar.
Warum verweigert eine der berühmtesten Medienkünstlerinnen der Welt eigentlich die sozialen Medien – und hat nicht einmal eine eigene Website?
Hito Steyerl
Ich nehme nicht teil an den von Konzernen betriebenen sozialen Medien, weil ich diese algorithmischen Hassfabriken strukturell ablehne. Ich bin inzwischen allerdings auf dem dezentralen Netzwerk Mastodon. Eine Website hatte ich in den 1990er-Jahren. Dann fand ich, sie diene eigentlich nur der Selbstwerbung, also nahm ich sie vom Netz. Seither hab ich nie wieder eine gebraucht.
Hat sich niemand je darüber beklagt?
Hito Steyerl
Doch. Und ich bezahle auch weiterhin für die Domain.
Damit sie nicht von Fremden gekapert und bespielt wird.
Hito Steyerl
Ja. Ich habe auch nur deshalb einen Instagram-Account, damit niemand anderer ihn nutzen kann. Aber das bringt nicht viel: Unter meinem Namen finden sich da bereits mehrere gekaperte Konten.
Sie werden gerne der Post-Internet-Art zugeordnet? Wir sind doch noch gar nicht post, oder?
Hito Steyerl
Gute Frage. Ich mag diesen Begriff nicht besonders, weiß auch nicht, was er konkret meint. Aber die Kunstströmung der 2010er-Jahre, die er bezeichnet, war die einzige wirklich neue im 21. Jahrhundert. Aber sie ist nun auch schon zu Ende gegangen.