Dänen lügen nicht: Hype um TV-Serien aus Skandinavien
Schluss machen, wenn es am schönsten ist
Nicht auszudenken, wenn "Borgen", die dänische Erfolgsserie, die von 2010 bis 2013 der fiktiven Politikerin Birgitte Nyborg beim Arbeiten und Leben über die Schulter schaute und nach schlanken drei Staffeln ihr würdiges Ende fand, in den USA entstanden wäre. Vermutlich würde in Amerika gerade "Borgen"-Staffel neun an den Start gehen, mit künstlich in die Länge gezogener Handlung und einer Story, die maximal ausgedünnt und dadurch zusehends unglaubwürdig wird. Tod durch Überdosis! Viele TV-Sender wissen nicht, wann es Zeit ist, die Prestigeprodukte vom Strom zu nehmen. Sie prolongieren ihre Erfolgskonzepte, stoßen aber oft -dramaturgisch, inhaltlich, spannungsmäßig - bereits in der zweiten Serienstaffel an eine Grenze. Gut beobachten lässt sich das etwa beim Sci-Fi-Schlager "Westworld" aus dem Hause HBO. "Westworld" spielt in einem futuristischen Vergnügungspark, in dem Menschen an künstlichen Kreaturen ihre niedrigsten Triebe ausleben, während die Androiden im Gegenzug menschlicher werden und rebellieren. Mit rund zehn Millionen US-Dollar pro Folge ist "Westworld" aktuell eine der am teuersten produzierten Serien auf einem überschießenden TV-Markt. Die soeben zu Ende gegangene zweite Staffel zeigte die grundlegenden Probleme symptomatisch auf: Zunehmend abstruser werdender Inhalt trifft auf protzig-aufgeblasene Ästhetik; das Ensemble blieb schauspielerisch weit hinter seinen Möglichkeit und gern im Klischee stecken.
Die zweite Staffel der feministischen US-Dystopie "Handmaid's Tale" verhedderte sich ebenfalls in unnötigen Bilder-und Materialschlachten. Muss man auf explizite Gewaltdarstellung setzen, um menschliche Abgründe zu illustrieren? Erst gegen Ende erobert sich diese eigentlich herausragend gemachte Fernsehunterhaltung ihre alten, subtilen Stärken zurück. Nicht plumpe Actionszenen sind gefragt, sondern fein ziselierte Figuren. Die Skandinavier dagegen wissen längst, dass jedem Stoff sein natürliches Ablaufdatum innewohnt - und glaubwürdige Akteure das Herzstück jedes TV-Serienmarathons sind.
Alle Macht den Drehbuchautoren
Mit dem Label "Nordic Noir" legte Skandinavien ein bis heute gültiges Erfolgsrezept vor. Serien wie "Die Brücke" (seit 2011) oder "Kommissarin Lund - Das Verbrechen" (2007-2012) begründeten ein international gefragtes Genre: brutale Krimis, die in unheimlich-schöner Natur spielen und dabei (europäische) Länder in den Fokus rücken, die vom Rest der Welt als sozial vorbildlich und begütert wahrgenommen werden - und unter deren schimmernden Oberflächen Abgründe und Brüche lauern. Dass nordische Serien im Vergleich zur Masse beliebiger TV-Thriller so komplex und dramaturgisch klug wirken, liegt vor allem an den exzellenten Drehbüchern, die wiederum an bereits vorhandene Traditionen anknüpften: Bestsellerautoren wie Stieg Larsson ("Millennium") und Jussi Adler-Olsen ("Selfies") gaben in ihren sozialkritisch-düsteren, szenisch abwechselnden Thrillern den Takt vor, den das Fernsehen gern übernahm.
Dazu kommt, dass Fernsehen im Norden Europas seit jeher einen hohen Stellenwert innehat und nicht, wie jahrzehntelang in den deutschsprachigen Ländern, als tendenziell minderwertig eingestuft wird. "Die dänische Medienlandschaft ist klein. Daher waren Film und Fernsehen nie so strikt getrennt: Bereits 1994 konzipierte Lars von Trier seine ungewöhnliche Serie ,Riget' (,Geister'), eine an ,Twin Peaks' gemahnende Mystery-Serie", erklärt die deutsche Medienwissenschafterin und Producerin Lea Gamula. Gemeinsam mit dem Fernsehwissenschafter Lothar Mikos hat Gamula das Nordic-Noir-Genre im gleichnamigen Buch ausgiebig analysiert.
Dänemark, merken die beiden Autoren an, investierte bereits früh in die Nachwuchsausbildung an Filmhochschulen, förderte die Zusammenarbeit zwischen Newcomern und TV-Sendern. "Dänische Rundfunkanstalten haben erkannt, dass der Autor an Relevanz gewinnt, am besten ohne starken redaktionellen Einfluss und in Gruppen arbeiten kann." Das Problem vieler deutscher TV-Mehrteiler dagegen: Zu viele Köche verderben den Serienbrei, die Ergebnisse wirken entsprechend verwaschen, weil allzu viele glaubten, partout mitreden zu müssen. "Sender und Redakteure müssen Vertrauen haben -und Autoren einfach machen lassen", meint Gamula: "Gute Geschichten brauchen Freiheiten."
In Dänemark hat sich deshalb auch ein System etabliert, das an das US-Showrunner-Prinzip angelehnt ist: Der Showrunner, eine Mischung aus Headautor und Produzent, ist der Ideengeber, der seine Vision umsetzt und die Verantwortung für das Produkt trägt. Drehbücher entstehen in sogenannten "Writers' Rooms", einem hierarchiefreien Zimmer, in dem Plots und Figuren in Teams erarbeitet werden. Gamula betont, dass gerade im deutschsprachigen Raum davon eine "etwas naive und romantisierte Vorstellung" herrsche - nicht für die Entstehung jeder Serie sei dieses Gruppenprinzip nämlich ideal. Eine Crew mittelmäßiger Autoren ergibt nicht automatisch eine gute Serie.
Neues wagen - dem Erfolg zum Trotz
Der internationale Run lässt sich nicht auf das Schlagwort "Nordic Noir" reduzieren. Das Erfolgsrezept lautet: Die Serienmacher verwalten nicht den TV-Crime-Hype, sondern machen sich auf die Suche nach neuen Themen. Die Comedy "Fallet" etwa ist die Persiflage einer typischen "Nordic Noir"-Serie. Dänemarks Top-Showrunner Adam Price, der unter anderem für "Borgen" verantwortlich zeichnete, erzählt in seiner neuen Serie "Ride Upon the Storm" (im Original: "Herrens Veje") von einer Familie mit einem so charismatischen wie tyrannischen Priester als Oberhaupt. "In diesen Zeiten ist es doch fast schon politischer, eine Serie über Religion als eine über Politik zu schreiben", betonte Price kürzlich in einem Interview. "Wenn wir über Integration, Immigration, Terrorismus und Geopolitik diskutieren, haben wir es immer auch mit Fragen der Religion zu tun." Die offensichtliche Stärke von "Ride Upon the Storm": Die drängenden gesellschaftspolitischen Fragen und Themen verlieren sich nicht in didaktischer TV-Abstraktion; als Zuschauer ist man regelrecht gezwungen, mit den starken Figuren mitzufiebern. Zweieinhalb Jahre lang konnten sich Price und sein Team Zeit nehmen, den Stoff zu entwickeln, der als internationale Koproduktion (unter anderem mit dem Kultursender Arte) verwirklicht wurde. Aber auch die soeben angelaufene TV-Reihe "The Rain", übrigens die erste dänische Netflix-Produktion, setzt sich überzeugend mit dem gerade am Fernsehbildschirm angesagten Motiv der postapokalyptischen Endzeitstimmung auseinander: Der Regen bringt hier den Tod, weil das Nass ein Virus in sich trägt, das große Teile der Menschheit ausgelöscht hat. "The Rain" ist zudem eine Coming-of-Age-Geschichte mit fesselnden Nachwuchsschauspielern. Für das diffizile Genre der Teenie-Dramen haben die Skandinavier ebenfalls ein gutes Händchen: Das beste Beispiel dafür ist das norwegische "Skam" ("Schande", mit englischen Untertiteln auf dailymotion.com). Die vor drei Jahren gestartete und im Vorjahr abgeschlossene Serie erzählt vom Alltag einer Schülergruppe in Oslo. In jeder der insgesamt vier Staffeln agiert eine neue Hauptfigur; als Zuschauer konnte man mit den jugendlichen Akteuren über soziale Medien wie Facebook und Instagram kommunizieren. Abgesehen von dieser neuen Interaktionsmöglichkeit funktioniert "Skam" blendend als klassische Serie: Das zeigt sich spätestens in der dritten Staffel, die unverkrampft eine schwule Liebesgeschichte erzählt, ohne in altbekannte Klischees abzudriften. Ausgangspunkt des Drehbuchs war gründliche Recherche: Autorin Julie Andem reiste ein halbes Jahr durch Norwegen und befragte Jugendliche über ihr Leben. Beim Casting wurden Laiendarsteller ausgewählt. Gemeinsam mit ihnen wurde anschließend das TV-Leben (und Sterben) ihrer jeweiligen Figuren maßgeschneidert entwickelt. Die Grenzen zwischen fiktiv und real verschwimmen.
Es muss nicht immer alles episch sein
TV-Hits wie "Breaking Bad" (AMC, 2008-2013),"Mad Men" (AMC, 2007-2015) oder "The Sopranos" (HBO, 1999-2007) begründeten das vermeintlich unverrückbare Seriengesetz, wonach die besondere Stärke der TV-Galavorstellung in deren epischer Breite liege: Gerade die allgemeine Langsamkeit der Erzählung sowie die ständigen Wiederholungen - Tony Soprano stattet seiner Psychotherapeutin ungezählte Besuche ab, Walter White diniert ständig mit Familie - sollen dem Format Tiefe verleihen. Seitdem laboriert das Genre an einer Art Trauma: Je länger die Einzelfolge dauert, desto besser und qualitätsvoller das Gesamtprodukt.
Inzwischen verlieren Serien, die alles und jedes künstlich auswalzen, jedoch merklich an Zusehern. Viele Geschichten lassen sich pointierter erzählen, ohne deshalb an Komplexität einzubüßen. "Skam" tritt den Beweis mit Einzelfolgen an, die jeweils rund 20 Minuten dauern. Wenn die Story es erfordert, werden ohne viel Federlesens 50-Minüter in den Serienfluss eingepasst. Form folgt Inhalt.
Vom Kino ins Fernsehen
Bis in die 1990er-Jahre hinein glich Fernseharbeit für viele Schauspielerinnen und Schauspieler einer Karrieresackgasse. Die Kinoleinwand rückte durch Soaps und Sitcoms in weite Ferne. Heute sind TV-Seriendarsteller gefragter denn je. Fashion-Labels wie Louis Vuitton und Calvin Klein holen sich etwa die TV-Zelebritäten als Werbeträger, etwa "Stranger Things"-Girl Millie Bobby Brown. Die Skandinavier folgen zwei unterschiedlichen Prinzipien in ihrer TV-Besetzungspolitik: Man sucht nach neuen, unverbrauchten Gesichtern - oder verpflichtet aus Kino und Medien bekannte Stars. Der dänische Schauspieler Lars Mikkelsen, der in "Ride Upon the Storm" als Priester geradezu dämonische Präsenz entwickelt, hat am Theater begonnen, wirkte in Dogma-Filmen mit und feierte in Serien wie "Kommissar Lund -das Verbrechen" Erfolge; zuletzt spielte er den russischen Präsidenten an der Seite von Kevin Spacey in der Netflix-Produktion "House of Cards". In der erfolgreichen Serie "Babylon Berlin", einer Koproduktion von ARD, Sky und Beta Film, spielen die Kino-und Theaterstars Lars Eidinger, Benno Fürmann und Karl Markovics mit. Fernsehen und Kino wachsen zusammen, das bestätigt auch TV-Expertin Lea Gamula: "Serien wagen immer mehr den Weg ins Kino. Kürzlich wurde angekündigt, dass , Downton Abbey' bald als Film in die Kinos kommen soll." Parallel dazu, so Gamula, werden sich die Marketingbudgets von TV-Serien und Kino-Blockbustern unweigerlich annähern.
Außenseiter an die Macht
Die Skandinavier haben es vorgemacht: Mit unübertrefflichen Drehbüchern, grandiosen Schauspielern und regionalen Eigentümlichkeiten lässt sich auch auf dem internationalen Serienmarkt reüssieren. Im globalen Serien-Überangebot, das pro Jahr rund 500 neue Produkte an den TV-Start bringt, wird das Spezielle immer wichtiger. Expertin Gamula ist etwa überzeugt davon, dass in Zukunft aus Osteuropa Spannendes zu erwarten ist. Belgien zeige bereits, wie es geht: Dem kleinen Player auf der TV-Landkarte sind in den vergangenen Jahren hochwertige und überraschende Serien gelungen, die für große internationale Aufmerksamkeit sorgten. Manche meinen sogar, Belgien sei das neue Skandinavien: Während man bei etlichen Produkten aus dem Norden mit fortschreitender Zeit ziemlich genau weiß, wohin die Reise geht, schlagen die Serien aus Belgien gern Haken. "The Out-Laws" ist so eine herrlich verquere Mischung aus Thriller und Comedy, angesiedelt zwischen "Desperate Housewives" und "Braunschlag".
Eckiger werden
Was im Fernsehen oft an den Nerven zerrt, zeigt sich außerhalb der Sommerpause allsonntäglich im "Tatort": Die Ausstatter toben sich hemmungslos aus - jede Wohnung das perfekte Loft für perfekte Schurken. Die Mehrzahl der "Tatort"-Konsumenten dürfte aber nicht wie im Design-Katalog leben.
Die Jugendlichen in "Skam" tragen zwar auch Fjällräven-Hipster-Rucksäcke - aber nicht als Ausstatter-Statement, sondern als Abbild der Realität; sie sind schick angezogen, weil Skandinavien die Heimat federführender Labels ist. Dennoch erhebt sich das Design hier nie über den jeweiligen TV-Charakter, es unterstützt bestenfalls die Figur. In vielen deutschsprachigen Produktionen wirken die Kostüme dagegen wie Fasching. Alles super, alles korrekt: Keine Hose knittert, kein Hemd schlabbert. Der Erfolg der RTL-Spionage-Serie "Deutschland 83" (2015) beruht vielleicht zu einem großen Teil darauf, dass die 1980er-Jahre nicht wie aus einem knallbunten Musikvideo entsprungen wirken. Mehr Mut zu Ecken und Kanten!
Trends setzen, nicht blind kopieren
Der ORF durfte mit "Vorstadtweiber" einen Achtungserfolg verbuchen, indem er das bewährte US-Format "Desperate Housewives" mit Wiener Schmäh unterfütterte. In Dänemark wurden bereits in den 1990er-Jahren amerikanische Serienhits für den Markt adaptiert. So lernt man Handwerk. Viel wichtiger ist es jedoch, regionale Besonderheiten zu erkennen und zu promoten. Der Clou von "Nordic Noir" ist länderspezifisch: Auch Wohlfühloasen wie Dänemark mit angeblich rundum glücklichen Einwohnern und hohem Hygge-Faktor (die Kunst der Zufriedenheit, das dänische Pendant zum französischen Savoir-vivre) kennen soziale Probleme. "Den Serienmachern ist es gelungen, globale Themen lokal zu adaptieren, ihre Geschichten zeigen kein einseitiges Bild", analysiert Autorin Gamula.
Klasse statt Masse
Zwischen zwölf und 13 Milliarden US-Dollar will allein Netflix heuer für neue Serien-Inhalte ausgeben, berichtete kürzlich das Magazin "The Economist". Das kleine Dänemark hat auch hier vorgemacht, wie ein mögliches Finanzmodell aussehen könnte: Mindestens zwei Prozent des jährlichen Gesamtbudgets des dänischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks Danmarks Radio wird für die Entwicklung neuer Serien veranschlagt. Der schwedischen Autor Hans Rosenfeldt, der unter anderem das Drehbuch für die Erfolgsserie "Die Brücke" schrieb, sprach in einem Interview unlängst über richtige und falsche Wege der Serienzukunft: "Ich habe mir nie überlegt, dass , Die Brücke' eine Serie über Flüchtlinge oder Menschenhandel werden soll. Dahin kommt man doch ohnehin automatisch, wenn man sich mit Verbrechen auseinandersetzt."
Lernen von den Kleinen
Es verwundert nur auf den ersten Blick, dass ausgerechnet kleine Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark im Serien-TV die Nase vorn haben, während große Player wie Deutschland, Frankreich und Spanien wenig zustandebringen. Gerade weil Norwegen vergleichsweise klein ist - und die Winter lang und düster sind -, entsteht schneller ein Hype, der eine ganze Nation vor den Fernseher holt. Man importierte im Norden zudem schon früh internationale Programme und sendete sie nicht wie in Deutschland zu unmöglichen Zeiten. "Dänische Serien mussten sich deshalb auch immer mit den internationalen Produktionen messen", erklärt Autorin Gamula. "Aus Kostengründen haben sich die Sender auf wenige hochwertige Serien im Jahr als Leuchtturmprojekte konzentriert und erkannt, dass man, um Qualität garantieren zu können, international kooperieren muss." Aber auch in Deutschland schaut es mit einiger Verspätung zumindest für die Zukunft nicht schlecht aus, betont Gamula: "Da zunehmend in die Ausbildung investiert und die Entwicklung professionalisierter wird, aber auch die Sender immer offener werden, kann ich mir vorstellen, dass uns noch einiges von jungen Serienmachern erwartet, mit denen wir noch gar nicht rechnen."