Als Hoffnungsträgerinnen wurden Lilith Kraxner und Milena Czernovsky, beide geboren Mitte der 1990er-Jahre, nach „Beatrix“ gehandelt, mit „bluish“ konsolidieren sie nun ihren ungewöhnlich assoziativen, mikronarrativen Stil. Ironisch-liebevoll blicken sie in „bluish“ auf ihr eigenes Milieu – Kraxner hat an Friedl Kubelkas Filmschule und an der Akademie der bildenden Künste studiert, Czernovsky an der Wiener Angewandten. „Wir bewegen uns zwischen der Kunst- und der Film-Bubble“, sagt Milena Czernovsky im profil-Gespräch, „sind in beiden nicht so ganz daheim.“ Insofern sei der Blick von außen auf die Eigenheiten des Kunstbetriebs „auch leichter möglich“. Eine starke Ambivalenz konstatiert Lilith Kraxner: „Wir bewegen uns in diesem Umfeld, das uns natürlich prägt und inspiriert, zugleich ist es voller Widersprüche und Absurditäten.“
Einen Moment in der Zeit wollten sie festhalten, ein Gefühl nach den Lockdowns, „ein Sich-wieder-Einfinden, zugleich aber auch die Orientierungslosigkeit, dieses neue Ausverhandeln von sozialen Räumen und kleinen Interaktionen: Viele waren vor zwei Jahren ein bisschen lost.“ Die Fragen, die man damals im Kopf hatte, sollten filmisch neu gestellt werden: „Wo will ich dazugehören? Bin ich Teil dieser Stadt, oder lass ich mich – in ihr und von ihr – nur treiben?“
Improvisiertes Leben
Wien bot zur Veranschaulichung dieses Verlorenseins reiche Möglichkeiten; freilich als Nichtort – schnell wiedererkennbare Bilder wird man in „bluish“ lange suchen: „Wir wollten die Stadt auch als eine Metapher einsetzen“, erklärt Kraxner, „als einen Ort, an dem Zufälle, Überschneidungen, Begegnungen und Gleichzeitigkeiten stattfinden können.“ Um Bewegung geht es hier, um das improvisierte Leben mit seinen Zwischen- stationen und stets nur vorläufigen Zielen, an denen sich vieles anreißen, ins Auge fassen und wieder verwerfen lässt. An zahllosen Orten wollten sie drehen, in verschiedene Welten eintauchen, sagen die Regisseurinnen. Selbst in der Stille vieler Sequenzen gebe es einiges an Bewegung, „die nun vielleicht eher zwischen den Bildern liegt“.
Beim Festival in Marseille kam das Werk im Frühsommer zur Uraufführung, wo es gleich den Grand Prix gewann, danach wurde es zum New York Film Festival und zur Viennale eingeladen, in Mexiko, Kanada, Chile und China gezeigt. Ab 16. Jänner wird es nun auch regulär in Österreichs Kinos zu erleben sein, in Wien, Graz, Linz und Innsbruck. Anekdotisch und scheinbar absichtslos werden in „bluish“ Szenen aus dem Gegenwartsdasein junger Menschen inszeniert, die den Druck, der auf ihnen lastet, mit Rückzug, Verlangsamung und Desillusionierung quittieren. Der melancholische, ernüchterte Blick Leonie Brambergers ist eine Hauptattraktion dieses Films, der die Schönheit „leerer“ Momente, die subtile Komik einer alltäglichen Ödnis feiert. Bedeutungsschwere wird vermieden, stattdessen eine ätherische, gleichsam schwebende Form gefunden, die aus einem ganz bestimmten, unnachahmlichen Blick auf Körper und Räume entsteht.
Die Abfolge minimalistischer Erzählungen, die von Tagträumereien, Schwimmausflügen und Online-Dating handeln, habe man akribisch gesammelt: „Wir hatten eine Notizenliste am Handy, in die wir Beobachtungen, Fragmente, Puzzleteile einge- tragen hatten“, erzählt Lilith Kraxner. „Wir gingen nicht von einem großen Thema aus, sondern von Situationen und Momenten, die uns etwas spüren ließen. Diese brachten wir in eine Reihung. Wir wollten jenen Zeitpunkt verstehen, als nach der Pandemie plötzlich alles wieder ‚normal‘ war, es sich aber nicht ganz normal angefühlt hat.“ Und Milena Czernovsky ergänzt: „Wir mussten den Film erst machen, um die Zeit und die Gefühle, von denen wir erzählten, versteh- und greifbar zu machen.“
Vieles in „bluish“ mag dokumentarisch wirken, aber fast alle Szenen sind penibel geplant. Das augenscheinlich Zufällige ist exakt choreografiert. „Wir arbeiten nach präzisen Plänen und einem sehr genauen Script. Nur Dialoge legen wir kaum fest“, erklärt Milena Czernovsky. „Die zentralen Elemente sind sehr klar bestimmt, damit schaffen wir einen Rahmen für Geschehnisse, die von den Spielenden mitgeformt werden können.“ Und Lilith Kraxner betont: „Wir wollen den Blick des Publikums bewusst nicht zu sehr lenken“, auch deshalb habe man fast jede Szene in einer Einstellung aufgelöst. Dabei entstehe Mehrdeutigkeit, eine Freiheit des Sehens. Ihren Film haben sie nicht nur inszeniert, sondern auch kuratiert: „bluish“ zitiert Arbeiten von Katrina Daschner und Rebecca Merlic, zeigt Auftritte des legendären Schweizer Musiktrios Les Reines Prochaines und der Performancegruppe ZAK, die Künstlerinnen Dorit Margreiter und Sasha Pirker tauchen am Rande auf.
Bitte keine Nostalgie!
Die Grundsatzentscheidung, auf 16mm-Material und mit natürlichem Licht zu drehen (an der Kamera, wie schon bei „Beatrix“: Antonia de la Luz Kašik), habe mit Ästhetik weniger zu tun als mit der Entscheidung „für eine bestimmte Arbeitsweise. Unser Film soll ein Hier und Jetzt zeigen, Nostalgisches schwingt da für uns nicht mit. Analoger Film hilft uns dabei, uns zu konzentrieren; wir mögen das Adrenalin, das man spürt, wenn man jede Szene maximal dreimal drehen kann.“ Zudem spare man sich Drehtage, weil viel weniger Takes nötig seien und auch der Schnittprozess vereinfacht werde.
Als politisch betrachten die Filmemacherinnen, die ihre Protagonistinnen „nicht unbedingt in einer binären Geschlechterlogik“ sehen, ihr Kino definitiv. „Jede Alltagshandlung ist politisch“, meint Lilith Kraxner, „das gilt auch für unsere filmische Praxis: wie man Menschen begegnet, wie man auf Menschen blickt, wie man sie framed. All diese Entscheidungen gehen mit Verantwortung einher und generieren Bedeutung.“ Es sei wichtig, Hierarchien zu hinterfragen, auf allen Ebenen, am Set und in der Filmsprache.
Über eine Serie als nächstes Projekt denken die beiden nach, halten sich aber bedeckt: „Vielleicht“ werde diese Idee Form annehmen, sagen sie nur. Serielles Erzählen liege ihnen nahe, berge „spannende Möglichkeiten“. Das Blau des Himmels ist die Grenze.