Kulturtipp

Im Inneren des Kreises: Victor Kossakovskys Kinospektakel "Architecton"

Beton ist viel zu teuer: Stefan Grissemann legt Victor Kossakovskys „Architecton“, ein filmisches Requiem für den Baustoff Stein, ans Herz.

Drucken

Schriftgröße

Es gibt Filme, die sich Heimbildschirmen kategorisch verweigern. „Architecton“ ist ein solcher: ein immersives, in Bildern und Musik entworfenes Wunderwerk der Zivilisationskritik. Man muss schon ins Kino gehen, um dieser Arbeit Genüge zu tun. Der in Berlin lebende Russe Victor Kossakovsky, geboren 1961 im einstigen Leningrad, hat sich – mit Produktionen wie „Long Live the Antipodes (2011) und „Gunda“ (2020) – in die Riege der international bedeutenden Dokumentarstilisten eingeschrieben. Seine Filme sind bildgewaltig, textarm und elementar. Mit seinem jüngsten Werk, „Architecton“ (ab Freitag im Kino), hat er eine Hymne an das Baumaterial Stein gestaltet, ein ebenso titanisches wie zartes Kinogedicht, eine Art Partnerfilm zu seiner ozeanischen Wasserstudie „Aquarela“ (2018). 

Der Materie Stein nähert sich Kossakovsky mit der immateriellen, aus Licht, Klang, Raumillusion und Zeit gebauten Filmkunst. Eine hohe Sinnlichkeit ist seinen Arbeiten eigen: „Architecton“ bringt die Steine, gegen der Gesetze der Schwerkraft, zum Tanzen. Wie er zu solchen Bildern kommt, weiß er selbst nicht so genau, wie Kossakovsky im profil-Interview berichtet, das im Hyatt-Hotel am Berliner Potsdamer Platz stattfindet. „Als Filmemacher dreht man viel zu wenig, ein paar Wochen im Jahr nur, den Rest der Zeit verbringt man inaktiv. Ein Fußballprofi, der drei Tage lang kein Lauftraining macht, wird auf die Ersatzbank verbannt werden. Filmemacher, die ihre Augen nicht trainieren, drohen zu erblinden.“ Er habe sich daher ein System geschaffen, das ihn zwinge, seine Augen unablässig zu trainieren – auch ohne Kamera. „Ich weiß in diesem Augenblick ganz genau, wie ich Sie filmen müsste. Ich habe gelernt, dies mit einem einzigen Blick zu tun. Wenn man sich diesbezüglich trainiert, wird alles lebendig: diese Pflanze hier, der Himmel, die Bäume, die Steine.“

Präzisionsarbeit

Die „Rahmenhandlung“, die Kossakovsky seinem Architektur-Kraftakt gibt, erscheint denkbar fragil: Ein Steinkreis entsteht in einem Mailänder Garten in stundenlanger Präzisionsarbeit, bei Regen und bei Schnee. Menschen sollen fortan außerhalb dieses Kreises bleiben. Der betagte Architekt Michele De Lucchi, der diesen Kreis in Auftrag gibt, ist ein Idealist wie Kossakovsky selbst, der an die Liebe glaubt, an die Schönheit und an die Zukunft der Menschheit. Das Unternehmen „Architecton“, erzählt der Filmemacher, habe mit einer Massenpostsendung begonnen: „Ich schrieb 100 Briefe an 100 große Figuren der Gegenwartsarchitektur. Ich lud sie alle ein, Vorschläge zu machen, wie man Berlin-Tempelhof retten könnte, diesen leeren, seit 2008 geschlossenen Flughafen.“ Eine Bürgerbewegung hatte sich gegen die Errichtung von Büro- und Geschäftsgebäuden gewehrt, sie trat an, die Wiese und den weiten Raum des Tempelhofes Feldes zu erhalten. Die Kommerzialisierung des Ortes droht jedoch weiterhin. „Ich dachte, Architekten könnten dieses Feld mit großen Ideen vielleicht retten. Was müsste man dort errichten? Was wären die für die Menschheit langfristig wichtigen Gebäude? Was werden wir nicht schon bald wieder abreißen? Niemand wusste es, ich erhielt auf meine Briefe kaum Reaktionen. Ein einziger nur hatte eine echte Antwort parat: Michele De Lucchi. Er schlug vor, das Gebiet der Natur zu überlassen, die Menschen auszusperren. So kam er in meinen Film.“

Gedreht wurde „Architecton“, diese Reflexion über nachhaltiges Bauen, in türkischen Amphitheatern und den römischen Tempelruinen im libanesischen Baalbek, in der zerbombten Ukraine und den Erdbebenzonen der Türkei, wo man moderne Ruinen finden kann. Kossakovsky folgt den Spuren und Lebenswegen der Steine, findet dabei apokalyptische Bilder. „Die modernen Bauwerke stürzen ein, die antiken Gebäude ein paar Schritte weiter bleiben erhalten“, staunt der Regisseur, während er sich lustvoll in architekturhistorischen Theorien und philosophischen Rätseln verliert.

Architektur sei eine Art, darüber nachzudenken, wie wir leben, sagt De Lucchi im Film, denn Bauweisen prägen das Verhalten der Menschen. Architektur bestimme die Spielräume unserer Handlungen, damit sei sie eminent politisch und existenziell. „Architecton“ ist geprägt von der elektronischen Musik des französisch-russischen Komponisten Evgueni Galperine und der Fotografie des Kossakovsky-Routiniers Ben Bernhard.

Kaputtes Holocaust-Mahnmal

Ein Statement steht am Ende des Films: ein Misstrauensantrag an den Beton. Auf Stein kann etwas wachsen, auf Beton nicht. „Stein gilt in der gegenwärtigen Architektur als zu teuer, aber diese Idee ist grundfalsch“, ereifert sich Kossakovsky noch. „Es ist die Verwendung von Beton, die uns alle teuer zu stehen kommt. Denn sie wird unsre Nachkommen und unser Land Unsummen kosten. Stein mag kostspielig für uns sein, aber er wird noch existieren, wenn unsere Enkel alt sein werden.“ Und wenn man Bauten für die Ewigkeit errichtet, habe man ein höheres Interesse daran, etwas wirklich Schönes zu bauen, etwas, das emotional berühren könne. „Zu einem Betonkubus kann niemand eine emotionale Beziehung entwickeln. Er wird irgendwann bedenkenlos zerstört werden. Die Beton-Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin wurden 2005 errichtet. Sie sind jetzt schon kaputt. Das ist absurd. Denkmäler sollten doch für immer konzipiert sein.“

Aus Beton gegossene Architektur sei zudem eine Umweltbelastung. Ihre Lebensdauer beträgt durchschnittlich nicht mehr als 40 Jahre. „Wir verwenden Zement inzwischen überall, berühmte Architekten machen daraus gefeierte innerstädtische Gebäude. Auch sie sehen das Problem nicht. Denn die Zementproduktion wächst ins Unermessliche, während sie unseren Planeten verschmutzt und vergiftet.“

Victor Kossakovsky ist ein weltreisender Dokumentarist, genau wie sein Freund Michael Glawogger, der 2014 mitten in der Arbeit an seinem „Untitled“-Filmdreh in Westafrika verstorben ist. Er denke sehr oft an ihn, sagt Kossakovsky. „Für mich ist es, als hätte ich meinen Bruder verloren. Die Idee, dass ein Dokumentarfilm kein Drehbuch braucht, haben wir damals gemeinsam entwickelt: Wir wollten der Welt beweisen, dass man nicht schreiben kann, was vor unserer Kamera passieren wird. Man muss offen für alles sein, sich überraschen lassen, dann erst kann ein großer Dokumentarfilm entstehen.“ 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.