Karl-Markus Gauß: Spaziergang mit King Charlie
Von Wolfgang Paterno
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Karl-Markus Gauß steht an einer Straßenkreuzung, wie es sie hier zu Dutzenden gibt. Der Himmel drückt wie ein grauer, undichter Stoppel auf Salzburg. Gauß klappt seinen Regenschirm auf und zu. Es dauert nicht lange, bis Gauß im Straßengeviert, über das hupendes Blech walzt, einen Kreuzungspunkt von Geschichte und Gesellschaft entdeckt.
Westlich der Fußgängerampel liegt die Aiglhofsiedlung, in der Gauß aufwuchs, eine Gegend, in der vom Mozart-und-Festspiele-Kern der Stadt nicht mehr viel übrig ist, die von Lehrern, Krankenschwestern und Magistratsbediensteten bewohnt wird. „Hier, beim Bäcker Bacher, endete das Reich meiner Kindheit“, sagt Gauß. Die Älteren sagen noch immer Bäcker-Bacher-Kreuzung, obwohl es seit 40 Jahren keine Bäckerei mehr gibt.
Auf der gegenüberliegenden Seite, ostwärts der Kreuzung, beginnt der Stadtteil Mülln, der sich über pittoreske Gassen zu einem Hügel hinzieht, an dessen Scheitel die Müllner Kirche thront, von der es hinauf auf den Mönchsberg und hinunter zur Salzach geht, ins Loden-Bourgeoisie-Salzburg. Gegen Norden hin liegt der Stadtteil Lehen, einer der größten der Stadt, ein Betonburgen-Bezirk mit den Problemen, die das mit sich bringt. „Lehener Stüberl“, verkündet eine einsame, von Döner- und Pita-Buden belagerte Portalinschrift, raumschiffgleich erhebt sich ums Eck die Stadtbibliothek. Salzburg ist nicht nur Mozart, Festspiele, Schokoladenkugeln und so weiter und so fort, die endlose touristische Spirale, eine aufs Spektakel versessene Inszenierung. Im Süden der Bäcker-Bacher-Kreuzung liegt schließlich die Riedenburg mit ihrem verschlafenen Wohlstand, wo Gauß seit 1994 in einer mit Büchern und Bildern vollgestopften geräumigen Wohnung als Refugium lebt. In dem Band „Die unaufhörliche Wanderung“ (2020) hat er auf der Kreuzung, die an diesem Märznachmittag beim schnellen Queren weniger als nichts zu bieten hat, „die unerkannte Mitte einer Welt“ aufgestöbert: „Hätte sie einen Hang zur Eitelkeit, könnte die Bäcker-Bacher-Kreuzung damit renommieren, dass sie nach vier Richtungen vier Welten trennt und vereint.“
Alltag der Welt
Dies ist die Gauß-Methode: Blitze der Erkenntnis in trostlose urbane und ländliche Orte zu schleudern, sich mit den Standard-weisheiten nicht zufriedenzugeben, das Große im Kleinen zu entdecken, das eigene Leben mit den Geschichten ausgesuchter Gegenden zu verzahnen.
Am 14. Mai wird Gauß 70. Ein freundlicher Mann in dunklem Mantel, schlohweißer Schnauzbart, die ewige bullerbüartige Frisur, leicht zerknautschtes Gesicht, der mit der inneren Ruhe einer sehr alten Eule durch Salzburgs Gassen und Wege schlendert. Gauß macht das nicht routiniert und gelangweilt, eher wie einer, der dem Alltag des Lebens bei seiner Arbeit zusehen will. Die beiden kürzlich überstandenen Herzinfarkte tragen einen Teil zur Gemächlichkeit bei.
Als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk ist soeben das Journal „Schiff aus Stein“ erschienen, das sich in eine lange Reihe essayistischer Bücher einreiht, halb Autobiografie, halb Kartografie des europäischen Kontinents. Das Leben ist eine Reise, und Gauß war viel unterwegs. Mit Büchern wie „Die Hundeesser von Svinia“ (2004), „Zwanzig Lewa oder tot“ (2017) und dem Reportagenband „Die unaufhörliche Wanderung“, für den er im Jahr 2022 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, hat Gauß kleine, länderumspannende Literaturdenkmale geschaffen, eine Lesewanderung über einen komplizierten Kontinent. Seine Journalbände – „Mit mir, ohne mich“ (2002), „Zu früh, zu spät“ (2007), „Der Alltag der Welt“ (2015), „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ (2022) – entfalten neben viel Titelzauber die nachhallende Chronik unserer Gegenwart, von Gauß mit wachem, ruhelosem Temperament betrachtet.
„Ich bin kein Wanderer und kein Flaneur, für jenen fehlt mir die sportliche Ambition, zu diesem der kulturelle Snobismus“, schreibt Gauß in „Schiff aus Stein“: „Ich bin ein Geher und Schauer, also ist das Schlendern mein Metier. Das Schlendern ist die freie und natürliche Form der Fortbewegung, daher muss man sie, wenn man sie auf dem langen Weg zum Erwachsenwerden vergessen hat, später als Kulturtechnik erlernen und sich stetig in ihr üben, um nicht wieder in den Trab oder Galopp der Zielhaftigkeit zu verfallen.“
Das Herumstreifen in Städten, Dörfern und Landstrichen zieht sich als vertraute Textur durch so gut wie alle Bücher dieses Schriftstellers. „Ohne grob aufzuschneiden, kann ich guten Gewissens behaupten, ich würde die Taxifahrer-Prüfung für Salzburg mit Leichtigkeit absolvieren“, sagt Gauß. „Nur der Führerschein fehlt.“ Vom spanischen Autor Rafael Chirbes hat er sich eine seiner Schlender-Satzungen entlehnt: „der sesshafte Reisende“.
Gauß beherrscht die Kunst der großen These, die bei ihm nicht ins Getragene abzudriften droht, ihn auch nicht zum Dozieren reizt. Er kann die Dinge auf den Boden holen und hat keine Scheu vor vermeintlichen Allerweltsthemen: Militärfriedhöfe, Fußballtormänner mit Depressionen, Abtreibungskliniken, Flugzeugunglücke, TV-Kochspektakel, Eternit-Wellplatten, Hunde, der Irak-Krieg, Spermabanken, Stadtstreicher, Politik, Religion und immer wieder die Ränder Europas – das sind, neben zahllosen weiteren Interessensgebieten, seine Erkundungszonen.
Gauß liest Romane als Lebensratgeber, fremde Städte als Romane, Gesichter von Menschen als Erzählungen. Er ist ein Essayist und Literaturkritiker mit Charme und Chuzpe, schelmischem Unernst und beschwingtem Understatement, ein wunderbar flunkernder Erzähler und unberechenbarer Einmischer: Gegen die Erweiterung der Mönchsberggarage positionierte sich Gauß ebenso deutlich, wie er sich neben der Autorin Helena Adler und dem Musiker Hubert von Goisern über die ÖVP-FPÖ-Annäherung nach der Landtagswahl im Jahr 2023 in Salzburg entsetzt zeigte, die schließlich in die erste schwarz-blaue Regierung des Bundeslandes mündete. „Wenn die bürgerliche Partei in der Gefahr steht, Macht zu verlieren, ist ihr die Nobilitierung der Rechtsextremen eben doch lieber als die Zusammenarbeit mit dem ‚roten Gsindl‘“, ließ Gauß vor der Finalisierung des Koalitionspakts wissen: „So wird auch aus Salzburg ein Labor, in dem eine andere Art von Österreich erprobt wird.“ Pardon wird nicht gegeben.
Gespräch über das Damals
Wer mit Gauß das Salzburg seiner Aiglhofer Kindheit durchstreift, kann sich einen Begriff von einer längst verwehten Zeit machen. Mit jedem Wegmeter kommt er mehr ins Erzählen. Hier die Garagenmauer, die einst als Fußballtor diente. Dort die Bäume mit den anno dazumal gespannten Wäscheleinen, die regenschwere Wuchtel, die auf den frisch gewaschenen Leintüchern unschöne Spuren hinterließ. Der schattige Durchgang, in dem Generationen von Schülerinnen und Schülern
das Schmusen lernten. Der Lebensmittelgrossist, in dem früher das Aiglhofkino untergebracht war. Eine Katze hat auf der Stiege zu einem der Aiglhöfe offenbar ganze Arbeit geleistet. Eine Taube liegt tot auf einer Treppenstufe, rot schimmerndes Blut, Federn im Wind. Die Schönheit des Hässlichen.
Sieben Mal hat Gauß in knapp 70 Jahren innerhalb Salzburgs seinen Wohnort gewechselt. Das sogenannte Hochhaus in der Radetzkystraße 7 steht inmitten der
geduckten Aiglhof-Häuser wie ein stummer Riese da. Im Jahr 1956 zog die sechsköpfige Familie Gauß in eine Wohnung im dritten Stock. Vor der Haustür der Radetzkystraße die Zufallsbegegnung mit einer ehemaligen Nachbarin. Ein kurzes Gespräch über das Damals. Über Krankheiten und Todesfälle, wie das bei älteren Menschen häufiger der Fall ist. In Salzburg ist Gauß nicht zu einem Denkmal seiner selbst erstarrt.
Gauß freut sich wie ein Schneekönig über das Zusammentreffen. Läuft er im Kindheitsviertel, selten genug, ehemaligen Volksschulfreunden über den Weg, nennen ihn diese bei seinem damaligen Kosenamen: „Charlie“. Gauß weiß dann sofort, dass sehr viele Jahrzehnte vergangen sind. King Charlie. „Auf der einen Seite stand ein großes, von fern an die Bauhaus-Architektur erinnerndes Haus“, schreibt Gauß über die Bäcker-Bacher-Kreuzung, „das über und über mit Efeu bewachsen und eine Art von Märchenschloss war, dem betörende Wohlgerüche entströmten. Für die Schulkinder, die alle Tage hier vorbeizogen, war der Geruch von frischem Gebäck, der aus der Bäckerei nach draußen drang, eine immerwährende Versuchung, der zu widerstehen schwer war.“
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.