Immersive Erlebnisausstellungen: Zirkus der Sinne
Von Manuel Brug und Stefan Grissemann
Nach Renaissance-Kunst sieht es hier nicht unbedingt aus. Hinter dem Berliner Ostbahnhof macht sich eine räudige Brache aus Leerflächen, Straßenabsperrungen, Plattenbaublöcken und Lagerhallen breit. Ganz hinten klotzt massig-grau der Berghain-Club, ein Plastikplanentor verheißt jedoch „Leonardo da Vinci. Genius“. Dahinter öffnet sich eine weiße Halle, aus der Techno-Beats wummern. Im Inneren wartet erst eine Lounge mit Kunstpflanzen und ausgesägten Holzzahnrädern, dann geht es in eine komplett von Leinwänden umspannte weitere Halle mit einem Projektions- und Spiegelflächenwürfel in der Mitte. Etwa 120 Menschen aller Altersstufen schweifen umher, die Handys gezückt, um das 50-minütige Ton- und Bildgewitter im Zeichen eines ins 21. Jahrhundert gebeamten Universalkünstlers festzuhalten.
Kaum ein anderer lockt breite, nicht unbedingt kunstaffine Massen derart selbstverständlich an wie der Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph Leonardo da Vinci (1452–1519). Doch Leonardo-Originale sind rar und sündteuer auszuleihen. Für den eher niederschwelligen Zugang sind die kostbaren Werke daher ungeeignet. Umso passender erscheinen sie für diverse – etwa an seinem Sterbeort, dem privaten Schlösschen auf Clos Lucé im Loire-Tal, und in der Mailänder Galleria Vittorio Emanuele angesiedelte – Technikausstellungen mit Nachbauten seiner Waffen, Fahrzeuge und Flugmaschinen. Oder eben für eines der immer beliebter werdenden „immersiven“ Multimedia-Spektakel, die – wie vor ein paar Jahrzehnten die ersten 3D-Rundkinos auf dem Jahrmarkt – die Zuschauer zum Staunen bringen, in einen optischen Taumel reißen wollen.
Der jähe Boom immersiver, „multisensorischer“ Erlebnisausstellungen ist nicht zu leugnen: In Zürich schwelgen die Menschen seit Monaten in der „wegen Großerfolg“ bis Anfang April verlängerten „Viva Frida Kahlo“-Schau, für die eigens die Tonhalle Maag, das Ersatzquartier des Zürcher Tonhalle-Orchesters, zur „Lichthalle Maag“, zum ersten immersiven Museum der Schweiz adaptiert wurde. Denn weitere High-Tech-Diaschauen mit anderen gängigen Künstlernamen sollen folgen. Zu „Frida Kahlo“ pilgerten allein in den ersten beiden Monaten 50.000 Besucher. Am Weg zum Ausgang steht natürlich jeweils, wie in allen angesagten Ausstellungen, der Gift-Shop. Merchandise ist schließlich Teil der kommerziellen Kalkulation. In Berlin liegt immerhin auch Frank Zöllners Leonardo-Standardwerk aus, gekauft werden aber eher Bleistifte oder Hoodies mit dem „Genius“-Logo.
Keiner lockt hier mit seltenen Originalen, und niemand erwartet sie. Man muss nicht in einen weit entfernten Museumstempel reisen, diesen Leonardo gibt es in der eigenen Stadt um die Ecke, er kostet mit stolzen 25 Euro Eintritt allerdings auch nicht weniger als die Besichtigung der Originale. Die Öffnungszeiten sind kundenfreundlich, es gibt keine Schlangen und immer Tickets, solange die Nachfrage nicht abreißt. Kein Wärter mahnt, Absperrseile und Alarmanlagen braucht man nicht. Der neue Kunstkonsument, dessen Lust auf Museen bislang gering war, der sich nun aber einen irgendwie spektakulären Bildertrip erwartet, möchte in seinem Erlebnishunger mit Edutainment gekitzelt werden, mit immer perfekteren Projektions- und Soundsystemen, die etwa die Leonardo-Reise zum sinnlichen Bildersturz werden lassen. Die Inhalte werden im Mahlstrom der optischen Abwechslung jedoch systematisch unterpflügt.
In Bremen, Dresden und Wien kann man Vincent Van Gogh derzeit als „Immersive Experience“ erleben. Während man, um vor der vergleichsweise kleinen „Sternennacht“ Van Goghs von 1889 tagzuträumen, ins New Yorker Museum of Modern Art reisen müsste, darf man hier in deren raumfüllend aufgesplittetes, bewegliches Imitat im Himmelkörpertaumel abtauchen.
In den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden wurde eine bedeutende, für drei Monate sofort ausverkaufte Vermeer-Ausstellung mit sensationellen zehn Originalen (von nur 36) wegen des neuerlichen sächsischen Pandemie-Lockdowns nach ein paar Wochen schon von nur wenigen auserwählten Menschen gesehen. Auch solcher Phänomene wegen erscheint das digitale Spiel mit Meisterwerken der Malerei, deren fotografische Abbildungen man nur hochladen und kunstfertig projizieren muss, die derzeit profitablere Idee zu sein, wenn man mit Kunst Geld verdienen will, ohne schwindelerregende Versicherungssummen zu bezahlen. In Zeiten, da es nahezu unmöglich geworden ist, bestimmte Originale überhaupt noch auszuleihen, empfiehlt es sich eben, auf deren Surrogate zurückzugreifen – insbesondere, wenn damit kaum Popularitätsschwund gegenüber den „traditionellen“ Blockbuster-Ausstellungen verbunden ist.
Der immersive Wanderzirkus wirkt wie ein Vorschein jenes Metaverse, an dem die globalen Technologiekonzerne derzeit arbeiten (profil berichtete): Es sind Erlebnisräume, in denen man bespielt und versorgt wird mit einem konstanten, semi-meditativen Strom an Bild- und Klangreizen, an behutsamen Überblendungen und ruhigen Eindringungen in die Oberflächen bekannter Gemälde. Aufwand muss man hier nicht treiben, mit der gern geleisteten Arbeit des Bildungserwerbs ist das, anders als in gut kuratierten Ausstellungen, nicht mehr zu verwechseln: Man kann sich setzen oder langsam flanieren, wird überall eingeholt und eingehüllt von der Gigantomanie der Projektionen. Auch denken muss man nicht mehr, im Gegenteil: Man wird mit wohlwollender Geste davon abgehalten und stattdessen gleichsam darum gebeten, sich fallen zu lassen in die freundliche Brandung der Malerei-Details und der Greatest Hits des Klassikbetriebs. All jene, die mit einem wie sediert durch den jeweiligen Hauptraum spazieren, nimmt man nur noch als Schattenwesen wahr; als wäre man bereits sein eigener Avatar, kann man seine physische Existenz an diesen Orten leicht vergessen.
Tatsächlich erlebt man hier eine Art sanfter Halluzination: Die Passivität, in die einen immersive Ausstellungen zu zwingen scheinen, wird nur durch vereinzelte Appelle an den Spieltrieb aufgeweicht; interaktive Elemente wie das Zuschalten von Bildeffekten durch das Publikum oder das kurzfristige „magische“ Eingreifen in die Farbkompositionen versuchen eher inkonsequent noch, auch den Spaß, auf den die Computerspielebranche es seit jeher anlegt, am Rande mit einzubeziehen – und die sich aufdrängende Assoziation des Gebotenen mit einem (eben auf drei Dutzend Leinwände verteilten) kommentarlosen Dokumentarfilm zu zerstreuen; die Wiener „Van Gogh Alive“-Show hat auf Interaktives trotzdem gleich ganz verzichtet.
Immersive Ausstellungen versprechen stets nichts weniger als ein „Ereignis“; so sind sie zu einem Geschäft mit Zukunft geworden, offenbar (und gerade) auch in der Pandemie: Die „Leonardo“-Produzenten – Jeffrey Jah, sonst im New Yorker Nachtleben und Modegeschäft aktiv, und der niederländische Sportpromotor Bert van der Ryd – wissen, wovon sie sprechen. BIG Borealis Interactive Group nennt sich ihre international operierende Firma, die bislang rund drei Millionen Euro in das Immersions-Business investiert hat. Die teuren Bildrechte an den vergleichsweise wenigen Leonardo-Artefakten fallen da wohl kaum noch ins Gewicht. Die Berliner Digitalvideofirma flora&faunavisions hat sich um die zeitgeistige optische Ummantelung gekümmert. DJ Sasha den treibenden Sound aus HipHop und Barockgeigenimitaten gesampelt. Die Show kann ab sofort identisch an mehreren Standorten zugleich anrollen. Berlin soll nur der Anfang sein.
Was aber lernt man in dieser Schau über das Genie Leonardo? Erstaunlich wenig. Man sieht zerlaufende Bildflächen, auseinanderstiebende Pixel. Die Mona Lisa verwandelt sich in einen Mann von heute, die Dame mit dem Hermelin chattet via QR-Code mit dem Betrachter. Das „Abendmahl“ sieht so perfekt vollendet aus wie in Wirklichkeit niemals. Leonardo muss für Inklusion, Diversity, Umweltschutz und Nachhaltigkeit herhalten. Auf Projektionstools kann man drücken, um Flugmaschinen mit den Flügeln flattern zu lassen und per Katapult Basketbälle in den Korb werfen – und die Eindrücke davon sind gleich auf Instagram zu posten. Das alles ist bunt, laut, verwirrend, überraschend, lustig und sehr manipulativ. Ein Indoorspielplatz für die ganze Familie. Bald auch perfekt geklont anderswo. Man muss nur den Stick in den Steuerungscomputer stecken.
„Leonardo“ will als multimediale Lichtinstallation nichts Böses. Sie lullt ein, ohne jede fachliche Beratung, aber effektvoll aufbereitet. Da spaziert der Vitruv-Mensch als androgynes Digitalwesen in Scheiben geschnitten durch eine Lichter-Metropole. Das alles könnte auch ein Popvideoclip sein. Mit Wischbewegungen auf den Leinwänden lässt sich Funkenregen erzeugen. Ozeane und Eisberge wogen und zerbrechen unter einem, ein simuliertes Weltall gleitet vorbei. Leonardos Gedankenfetzen flattern auf Englisch vorüber, in einer schummrigen Zelle kann man wie im Allerheiligsten altertümlich kalligrafierte Leonardo-Zitate sehen. Ebenfalls auf Englisch, natürlich nicht in der von ihm verwendeten Spiegelschrift. Jeder muss Zugang haben. Ein Genie zum Gernhaben. Mit einem diffusen Glücksgefühl wird man nach draußen komplimentiert.
Wie würde Leonardo heute die Welt sehen?, fragt ernsthaft die Berliner Show. Und antwortet mit inhaltlichen Bruchstücken und Bildberieselung. Hier wird nicht kuratiert, es gibt keine Thesen, und am Ende steht keine Erkenntnis. Alles ist nur Angebot und Verlockung. „Leonardo“ soll in Berlin bis Ende 2022 laufen. Anschließend wird die Show drei Jahre lang an mindestens zwölf weiteren Orten in Europa und in den USA zu sehen sein. Und mit Dalí, Magritte, Miró, Picasso, Klimt oder Hundertwasser lässt sich solches spielend wiederholen.
Wer einmal im echten Grün von Giverny in der Normandie gestanden oder sich in den Untiefen der originalen „Seerosen“-Serien von Claude Monet verloren hat, wird über „Monets Garten“ nur lächeln können, diese malerische Erlebnisreise in einer Berliner Halle, wo man sich zwischen gebauten Kulissen auf einer Holzbrücke unter Stoffglyzinien mit Debussy-Bedudelung fotografieren lassen kann. Ein Münchner Klassikkonzertveranstalter hat dies auf den Weg gebracht; in Pandemiezeiten muss man eben auf mehreren geschäftlichen Beinen stehen.
Aber gehen nach dem durch Spanien tingelnden immersiven „#InGoya“-Event nun mehr Besucher in den Prado, um „Die nackte Maya“ und „Die Erschießung der Aufständischen“ zu sehen? Sehnen sie sich jetzt erst recht nach der verletzlichen Haptik der Originale? Oder sind die immersiven Kunsterlebnisse bloß das Fast Food des Kulturbetriebs? Sind all diese Fakes, Plagiate, Imitate, Surrogate das neue Echt? Ist es möglicherweise sogar gut, dass die im globalen Kunsttransportwesen viel zu lange malträtierten Originale nun entlastet werden? Ist das alles nur Opium für die Massen, oder werden so neue Kunstenthusiasten und Museumsfans generiert? Sehe ich hier einen Künstler „intensiver“, einfach anders, oder rudere ich nur an der Oberfläche?
Eines ist sicher: Den klassischen Ausstellungsbetrieb werden immersive Shows ebenso wenig gefährden, wie das Musical der Oper den Garaus gemacht hat. Kein Grund zu gesteigertem Kulturpessimismus also; die Aura des Originals hat auch in Zeiten seiner Digitalisierung an Reiz nichts eingebüßt. Vielleicht werden im Nebeneinander von Avanciertem und Populärem die Sinne tatsächlich geschärft – für die Unterscheidungsfähigkeit zwischen ernsthafter Auseinandersetzung und touristischer Dienstleistung.
Die „Leonardo“-Macher halten ihre Schau übrigens für „3D-immersiv, weil sie die Sinne der Menschen berühren wird und sie dadurch in der Lage sein werden, diese Berührung zu erwidern“. Der nächste immersive Superlativ lauert bestimmt; an „Michelangelo. The Greatest“ wird sicher schon gearbeitet. Denn wo Nachfrage ist, folgen weitere Angebote. Und was war und ist die bildende Kunst, wenn nicht ein gigantischer Marktplatz?