Kritzendorf Bahnhof. Ankunft 10.26 Uhr. Abfahrt 10.27 Uhr
Mit weit über viereinhalb Millionen verkauften Büchern ist Glattauer der mit Abstand erfolgreichste österreichische Gegenwartsautor, weit vor Robert Schneider („Schlafes Bruder“), Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“) und Daniel Kehlmann, der seinen Bestseller „Die Vermessung der Welt“ ohnehin nie in die Reihe der Austro-Literatur stellen wollte. Glattauer ist, bahntechnisch gesprochen, die Transsibirische Eisenbahn der österreichischen Gegenwartsprosa. „Gut gegen Nordwind“ (2006), die Liebesgeschichte zwischen Emmi und Leo im Gewand einer ausufernden E-Mail-Korrespondenz, wurde bis dato in Hardcover und Taschenbuch rund drei Millionen Mal verkauft und in mehr als 40 Sprachen übersetzt; vom Fortsetzungsroman „Alle sieben Wellen“ (2009) wurde eine Million Exemplare veräußert. Glattauer ist ein Schriftsteller, der durch unterschiedliche Themen und Genres vagabundiert. Im Psychokrimi „Darum“ (2003) ließ er einen Jedermann ohne Motiv morden, in „Ewig Dein“ (2012) heftete er sich dem Thema Stalking auf die Spur. Der Roman „Die spürst du nicht“ (2023) erzählt die Geschichte einer Katastrophe: Die Familien Binder und Strobl-Marinek machen gemeinsam Urlaub in der Toskana. Das Flüchtlingsmädchen Aayana aus Somalia, das gegen die Teenager-Langeweile der mitreisenden Tochter der Marineks mitfahren durfte, verunglückt tödlich im Swimmingpool.
In groben Zügen ließe sich festhalten: Glattauer ist ein Mann des Jahrzehnte-Takts. Mit 25 begann er als Gerichtsreporter und Kolumnist bei der Tageszeitung „Der Standard“ zu arbeiten, mit 45 wechselte er vom Journalismus zum Bücherschreiben über. „Mit 75 werde ich dann endlich Singer-Songwriter werden!“, prophezeite er 2012 im „Kurier“.
Mit knapp 65 nun die nächste Weichenstellung. „Ich bin ein Mensch, der in seinem Leben selten etwas verändert, womit ich sehr gut klarkomme“, sagt Glattauer in der dahinratternden S 40. Nach Jahrzehnten bei Deuticke und Zsolnay hat er sich mit DuMont einen neuen Verlag gesucht – und eine literarische Agentur gleich dazu, was in der Regel selten ohne Kränkung und Enttäuschung einhergeht, zumal im Bestseller-Business. Der Wechsel von Wien nach Köln war für ihn ein großer Schritt, nicht allein deshalb, weil bei Glattauer zwischen Harmoniebedürftigkeit und -sucht eine feine Grenze verläuft. „Ich glaube, es ist ein Kunststück, mit so wenig Ellenbogeneinsatz und mit so schwachen Schultern so weit zu kommen. Das ist ein Glück.“ Neue Gleisspur, sozusagen. Am Zugfenster zieht die Landschaft wie ein verwässertes Aquarell vorbei. Durch die Gegend gondeln.
Sankt Andrä-Wördern Bahnhof. Ankunft 10.36 Uhr. Abfahrt 10.36 Uhr
Glattauers zerknirschter Held Eduard Brünhofer hat 15 Romane geschrieben, den letzten, die Gefühlsduselei „Tanz im Eis“, vor 13 Jahren. Ein Auslaufmodell, fremd im eigenen Leben. Ein Liebesromanautor, der nicht mehr über die Liebe schreiben will. Die Liebe ist kein leichtes Spiel. Kein Sturm der Liebe. Im Zug zwischen Wien-Hütteldorf und Sankt Pölten notiert der Ich-Erzähler: „In der Sprache der Weinverkoster würde man mir die Begriffe ‚schal‘ und ‚abgestanden‘ zuordnen, wenn auch ‚nicht unharmonisch‘. Aber es fehlt das Erfrischende, das Prickelnde.“ Auf Höhe von Amstetten die Beteuerung: „Wenn ich einmal etwas Kluges sage, glauben die Leute postwendend, ich zierte jemand anderen.“ Kurz vor Salzburg die Erkenntnis: „Ich denke, es gibt für alle Themen, außer dem Tod vielleicht, ein Ablaufdatum, und es kann nicht schaden, wenn man das als Autor rechtzeitig erkennt.“ In Linz das Eingeständnis: „Es ist harte Arbeit, eigentlich sogar brutale Arbeit, denn ich schreibe in der Hoffnung, dass mir etwas einfällt, das unbedingt lustig sein soll.“
„In einem Zug“ ist heiteres Künstlerporträt und Werkstattreport, pfiffiges Buch-im-Buch-im-Buch, mit leichter Schlagseite zur Übererfüllung des Klischees vom Lächeln-und-die-Welt-lächelt-zurück. Die „Grausamen Fünf“, jene zuweilen marternden Fragen an Autorinnen und Autoren? Brünhofer berichtet: „Wie kommen Sie auf die Ideen für Ihre Bücher? Wo schreiben Sie, wenn Sie schreiben, und warum dort? Schreiben Sie, wenn Ihnen was einfällt, oder haben Sie geregelte Schreibzeiten wie in einem Büro? Sind Ihre Romane autobiografisch? Wie viel von Ihnen steckt in den Figuren? Was lesen Sie selbst gerne, wer sind Ihre Lieblingsautoren?“ Kurz vor München schließlich so etwas wie Brünhofers Kommentar zu Glattauers jüngst vollzogenem Verlagswechsel: „Ein Autor wie ich, der dem Verlag schon Millionenumsätze beschert hat, erhält zum Glück noch eine zweite Gnadenfrist.“ Je länger man mit Glattauer im Zug spricht, desto mehr versteht man im Detail, wie schwierig es sein kann, der ewige Gefangene eines bestimmten Rufs zu sein.
Zieselmauer-Königstetten bei Tulln. Ankunft 10.39 Uhr. Abfahrt 10.39 Uhr
Liebesromanautor. Wohlfühlautor. Bücherschreiber. Frauenversteher. So wurde Glattauer immer wieder genannt, wobei Letzteres augenfällig auf das vergangene Jahrzehnt verweist. Er setzt im Zug ein Gesicht auf, das man bei Menschen findet, die durch ein Museum geführt werden und ungläubig den Ausführungen des Vermittlungspersonals lauschen. „Zuerst war ich Redakteur einer Tageszeitung, später lernte ich den Alltag eines ,freien Schriftstellers‘ kennen. Dann ist der Erfolg gekommen. Seitdem lese und höre ich ständig, ich sei ein ,Erfolgsautor‘“, sagt Glattauer. Schulterzucken. Augenbrauenhochziehen. Klugrederei und alberne Allüren sind ihm fremd. „Von meiner Ehefrau Lisi höre ich zuweilen, ich soll endlich aufhören, mich für meinen Erfolg zu genieren.“ Er lebt abwechselnd in Wien und im Waldviertel; er ist gerne auf Reisen und hasst es, auf Gesprächspodien zu sitzen. Er weiß einen TV-Fußball-Männerabend zu schätzen und flüchtet vor allzu tiefschürfender Konversation, die ins Leere geht. Menschen, die ihn gut und lange kennen, sagen, der Erfolg habe ihn kaum verändert, er wisse inzwischen nur genauer, was er nicht wolle. Vor mehr als zehn Jahren gab er in einem Interview zu Protokoll: „Ich möchte auch in hohem Alter für andere erträglich sein. Ich will keine Redemaschine werden, die nicht zuhören kann.“ Oft blickt Glattauer auf dem Weg nach Tulln stumm und versonnen aus dem Fenster.
Langenlebarn Bahnhof. Ankunft 10.44 Uhr. Abfahrt 10.45 Uhr
Wenn man denn will, ließe sich Daniel Glattauers Literatur im großen Durcheinander von E und U, von sog. ernsthafter und sog. unterhaltsamer Prosa, im K-Fach unterbringen: Glattauer schreibt kluge, komödiantische Bücher mit Kernpunkt Alltagsbetrachtung. Er durchleuchtet die Daseinstauglichkeit und Unbeholfenheit seiner Figuren, deren Gefühlshaushalt und Emotionsreservoirs. In seinen Büchern hält er für jeden von uns eine kleine Bühne bereit. Seine Sätze klingen nicht lehrbuchhaft, kommen nie im Vibrato der Empörung daher. Zynismus ist ihm so fremd wie der Mond. Um sprühende Dialoge und spöttisch gefärbte Seitenhiebe auf die Wichtigtuerei und Schaumschlägerei seiner Zeitgenossen ist Glattauer dagegen nie verlegen. Er weiß auch „In einem Zug“ lässig auf dem Klavier seiner Mikro-Beobachtungen zu klimpern, die er immer wieder gekonnt zu Szenen ganz eigener Tag-für-Tag-Surrealität bündelt. Glattauers Humor beruht auf dem Vorsatz, Wahnsinn und Absurdität der Normalität leise kichernd zu enthüllen. Kurz vor Tulln beginnt die automatische Zugdurchsage kurzfristig zu stottern. „Nächste Halte-Halte-Halte-Halte-Haltestelle“. Ein Glattauer-Moment.
Tulln an der Donau Stadt Bahnstation. Ankunft 10.58 Uhr
Es ist leicht, Tulln an der Donau nicht unter die schönsten Orte des Landes einzusortieren. Ende der Reise. Abfahrt 11.03 Uhr. Die Rückfahrt verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Ankunft Wien-Heiligenstadt um 11.42 Uhr.