50 Jahre Ö3: Hinter den Kulissen des Erfolgssenders
Der Notfall bleibt aus. Robert Kratky ist auch an diesem frühen Aprilmorgen zwischen Sonnenschein und Schneesturm ein Gastgeber von unverwüstlichem Frohsinn. Kratky, 43, Wollweste und Turnschuhe, ein buschiger Bart, der so aussieht, als sei er frisch angeklebt worden, moderiert den "Ö3-Wecker“ im Stehen, seine Finger fliegen über Tastatur und Mischpult. Musik, Zeitdurchsagen, Verkehrsmeldungen, Wetter, Nachrichten, dazwischen Kratkys Weisheiten für einen guten Tag. Der Notfall tritt ein, wenn 20 Sekunden lang Stille herrscht, wenn die Mikrofone keine Ausschläge auf den Monitoren zeigen und ein Alarmsystem automatisch Musik einspielt. Keine sekundenlange Stille.
Ö3 sendet seit 50 Jahren, seit 1967 an 365 Tagen im Jahr, täglich 24 Stunden lang. Der Sender bündelt vieles, was Österreich ausmacht: eine gewisse Hemdsärmeligkeit, manchmal hart an der Grenze zum Operettenhaften; die Suche nach dem verbindlichsten Konsens; das Selbstverständnis, Großmacht im Kleinen zu sein. Ö3 war immer zugleich mediale Unterhaltungsbühne und (lange Zeit jedenfalls) öffentlich-rechtlicher Monopolist, der durch politische Ränke die flächendeckende Privatradio-Konkurrenz bis 1998 zu verhindern wusste. Daraus ergeben sich nicht selten Widersprüche, die dafür sorgen, dass genügend Raum bleibt für Weltanschauungsdebatten wie "Spielt Ö3 genug Austropop?“ und Publikumsberieselung, Wortfetzen-Journalismus und Humor-Hokuspokus, Trivialität und eine Popularität, die andere ORF-Sender wie Ö1 querfinanziert. Eine sehr österreichische Erfolgsgeschichte, die tatsächlich mehr über den Zustand des Landes erzählt als viele politische Analysen.
Die Menschen im Ö3-Studio tragen fröhliche Dienstgesichter. Die gute Stimmung, sagt einer, hätten hier viele in der DNA. Ö3 ist auch eine Art Maschinenraum für große Emotionen, ein Generator positiver Gefühlslagen. Der Sender ruft zum "Großen Kuscheln“ und zum "Schmusewochenende“ auf. Moderatoren verlesen, Schmelz in der Stimme, Liebesbriefe von Hörern. Der Mensch mit Ö3, ein Bild der Harmonie.
"Ö3 ist wie ein Toaster"
Kurz nach neun Uhr. Robert Kratky hat seine Abmoderation gesprochen. An seinem Leben als Radiofrechdachs, der auf interessante Art zugleich exaltiert und ungekünstelt ist, scheint er auch nach Sendeschluss Gefallen zu finden. "Ö3 ist wie ein liebgewonnenes Haushaltsgerät, wie ein Toaster. Ich liebe meinen. Ö3 vermittelt dem Einzelnen das Gefühl, nicht allein zu sein. Man muss die Menschen in unserem Job mögen. Ich möchte nicht pathetisch klingen, aber man muss eine generelle Liebe für sie empfinden.“ Das ist natürlich Pathos, das sagt aber auch ein Journalist, der sein Herz seit unzähligen "Wecker“-Jahren in aller Öffentlichkeit auf der Zunge trägt. "Ciao, Rock’n’Roll“, verabschiedet sich Kratky am Ende seines Arbeitstages.
Zahlen geben eine Antwort darauf, warum Ö3 als Phänomen gesehen werden muss. Der Sender, bei dem 120 Menschen arbeiten, ist mit Abstand nationaler Marktführer und internationaler Quotenbringer. Täglich geben sich in Österreich mehr als 2,8 Millionen Personen Ö3 hin, der Sender wird länger gehört und von mehr Konsumenten genutzt als alle anderen 60 heimischen Stationen zusammen, von FM4 über Ö1 bis Kronehit und Radio Wien. Im Vergleich zu ähnlichen Formatsendern in der Schweiz, Deutschland und Großbritannien feiert Ö3 seit Jahren unangefochtene Tagesreichweitensiege. In Relation zur relativen Kleinheit Österreichs dürfte Ö3 einer der meistgehörten Sender der Welt sein.
"Urgestein“ darf man Alfred Rosenauer, schwarzes Hemd und Turnschuhe, Designerbrille, stahlgraues Haar, nennen - "Berufsjugendlicher“ auf keinen Fall. Seit 1981 ist Rosenauer, 57, bereits bei Ö3, als Musikchef hat er 1997 den ersten CD-Sampler "Ö3 Greatest Hits“ kompiliert. Kürzlich ist Volume 76 erschienen. Gefühlte Tausende Ö3-Sendungen hat er musikalisch programmiert, das Vinyl noch in einer unförmigen Schallplattenwaschanlage mit Spirituslösung gesäubert.
Ein guter Moment, um von früher zu erzählen. Ö3 wird gegründet, als in Vietnam ein blutiger Krieg tobt und die Lage im Nahen Osten eskaliert. Franz Jonas heißt der österreichische Bundespräsident, in Berlin wird der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten und Che Guevara in Bolivien von einem Soldaten erschossen. In den "Bravo“-Jahrescharts ist "Frag nur dein Herz“ von Roy Black die Nummer eins, die Beatles veröffentlichen ihr Album "Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“. Alte und neue Welt treffen aufeinander. Show und Staat, Musik und Politik gehen zusammen. 1967, im Schaltjahr des Pop, gerät auch Österreich in Bewegung. Unter die Glocke des Provinziellen strömt frischer Wind in Form von Jazz, Folk, Chanson, Beat und Pop, so schnoddrig wie selbstbewusst offeriert durch das neue Format Ö3, Europas ersten Jugendsender, gegründet von Hermann Egger und Ernst Grissemann, im Auftrag des damaligen ORF-Generalintendanten Gerd Bacher.
"Die Mischung macht's"
Irgendwann führt diese Geschichte zu Alfred Rosenauer. Auf zwei kleinen Bildschirmen verwaltet er die rund 18.000 Songs des vollständig digitalisierten Ö3-Musikarchivs, die CD-Regale sind sentimentale Erinnerung. "Wir kochen mit eigener Würze“, sagt er. Rosenauer sucht nach Worten für das Spezielle des Ö3-Sounds. "Erfahrung, Seniorität, Gespür. Ohren, Kopf und Bauch arbeiten gewissermaßen zusammen. Die Mischung macht’s, nicht der einzelne Song.“ Es klingt wie ein Rezept, das niemand genau kennt.
Im Büro mit der Nummer 203 ist der Pragmatiker am Wort. Georg Spatt, seit 2002 Ö3-Chef, kann "Programmhygienefaktoren“, "Zielgruppenabhängigkeit“ oder "Aktualitätsgetriebenheit“ ohne Silbenstolpern aussprechen. Auf einem Zettel an der Wand von Zimmer 203 ist der Pannenalarmierungsplan skizziert. Rote und blaue Rechtecke mit Namen und Telefonnummern, im grünen Kreis mittendrin Spatts Name. Eine Zeit lang kursierte in den Gängen mit dem dunkelgrauen Gumminoppenboden der Spruch, wonach Ö3 eine Art Küchentuch sei: verlässlich, praktisch, wichtig, unentbehrlich. Die Hobbyköche in der Redaktion wehrten sich gegen diesen Vergleich, den angeblich Spatt selbst in die Welt gesetzt hatte. Bis heute spricht niemand gern darüber. Spatt greift deshalb zu einem unverfänglicheren Bild: "Ö3 ist eine Werkstatt der Ideen, ein Möbelstück, dessen Verlust man betrauern würde.“ Die Liebe zur Marke, Ö3 als love brand. "Ö3 ist Leidenschaft, Vertrauen, Zuneigung, der Sender darf sich nicht staatstragend gerieren“, sagt Spatt, schlank und hager, mit seltenem Enthusiasmus. "Ö3 war immer ganz nah dabei: Hochwasser, Niki Laudas Formel-1-Unfall, Fußball-Weltmeisterschaften.“ Es dürfe nie fad werden, lacht er. Dann wieder ansatzlose Ernsthaftigkeit. "Das Alleinstellungsmerkmal von Radio ist das Hören. Der Wettbewerb um die besten Ideen wird über die Zukunft des Mediums entscheiden.“ In diesem Moment ist kein größerer Gegensatz zwischen dem Radiodenker aus Zimmer 203 und dem bisweilen zähen, rettungslosen Ö3-Klamauk denkbar.
Es ist kurz vor Mittag. Benny Hörtnagl, aufgekrempelte Jeansärmel, Camouflagehose, aufgekratztes Temperament, macht sich für "Bennys Musik-Show“ bereit. Hörtnagl, 34, muss man sich als Musicbox auf zwei Beinen vorstellen. Soeben hat er mit den Jungs der schwedischen Band Mando Diao herumgealbert, die gerade ihr neues Album promoten. Er betreut Festivals, arbeitet als DJ, über seine Musikleidenschaft kann Hörtnagl ausufernde Monologe halten. Gerade erinnert er sich an Udo Huber, die Ö3-Legende mit zeitweiligem Sprechdurchfall. "In jede erste Strophe hat er gequatscht. Bis heute habe ich Tonbandkassetten davon.“ Hörtnagl ist seit über zehn Jahren beim Sender. "Früher war Radio Geheimnis, heute zeigt man alles her. Wir spielen aktuelle Popmusik, kommunizieren mit den Hörern in einer Sprache, die man versteht, die aber nicht unintelligent ist.“ Hörtnagl ist auf Facebook, Instagram, Twitter, Whatchado, LinkedIn präsent. Er trällert einen Refrain von Mando Diao: "We’re having good times in a shitty world.“ Welt aus den Fugen, gute Zeit.
Gabi Hiller und Philipp Hansa sind Teil der Zukunft von Ö3. Hansa, groß und gnadenlos sympathisch, moderiert im Wechsel mit Robert Kratky die Morgenshow. Hiller, die laut offiziellem Ö3-Fragebogen gern Sex mit Ryan Gosling hätte und es hasst, dass sie nicht singen kann, arbeitet als Reporterin und Producerin. Gemeinsam haben Hansa, 26, und Hiller, 31, die neue Ö3-Erfolgsschiene "Frag das ganze Land“ mitetabliert. "Die Samstagssendung verhandelt Dilemmas unserer Hörer“, sagt Hansa. "1000 Anrufe in drei Stunden sind keine Seltenheit“, ergänzt Hiller.
Sabrina ist lesbisch und wünscht sich ein Kind. Katrin weiß nicht, ob sie ihren Freund verlassen oder bleiben soll. Hannes macht sich um seine Freundin Sorgen, die ständig online ist.
Die Fragen richten sich an das Land. Die Antworten hat Ö3.