Pop

Jahreskarten im Jungbrunnen: "Hackney Diamonds", das neue Album der Rolling Stones

„Hackney Diamonds“ ist das erste Stones-Studioalbum mit nichts als Originalmaterial seit fast zwei Jahrzehnten. Es klingt unverbrauchter, als es müsste – und aufgeräumter, als es sollte.

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Wie will ich mich erinnern? Wie will ich erinnert werden? Wenn das Leben und die Karriere in die Zielgerade einbiegen, steht der alternden Künstlerseele in ihrem so genannten Spätwerk in der Regel der Sinn nach Rückblick und Introspektion. Zumindest, wenn daran noch Bedarf besteht und die Höhenflüge in den Heydays nicht ob einiger entgleister Rockrentner-Rants längst in Vergessenheit geraten sind – schlag‘ (nicht) nach bei Roger Waters, Eric Clapton oder Morrissey.

Mick Jagger hingegen, ewigsaftiger Geck und Gockel, verweigert sich auch nördlich der 80 noch jeglicher Selbstbespiegelung. Da mag das Ableben der Schlagzeug-Institution Charlie Watts anno 2021 noch so sehr Anlass zu verstärkter Gedankenschwere gegeben haben: Wer auf Lebenszeit Jahreskarten im Jungbrunnen gelöst hat, will einfach nicht zum Elder Statesman of Rock erhoben werden. Tiefgründiger als „Now I’m too young for dying and too old to lose“ werden Jaggers Erkenntnisse auf dem 24. Stones-Studioalbum „Hackney Diamonds“, dem ersten mit ausschließlich eigenem Material seit 18 Jahren, auch nicht.

Wenn er dabei zwischendurch haarscharf an der Selbstparodie vorbeischrammt („Cause I love the laughter, the women, the wine, I’ve just got to break free from it all“, informiert er erstaunlich ironiefrei in „Dreamy Skies“), holen ihn seine Mitstreiter zuverlässig auf den bluesbewachsenen Boden ihrer Rock’n’Roll-Realität zurück. Auch ohne Watts‘ kaum ersetzbares Drumming klingt die größte aktive Rockformation dabei jederzeit unverwechselbar. Unberechenbar ist sie im siebten Jahrzehnt ihres Bestehens indes nur noch selten – was durch Keith Richards‘ verlässlich intuitive Gitarrenarbeit mehr als aufgewogen wird, die nach vorne drängende Riffs und filigrane Frickeleien versiert austariert.

Und wenn es dann doch mal etwas mehr braucht, bringt diverse Pop-Prominenz Schwung in den von dem Neo-Produzenten Andrew Watt leider aalglatt und viel zu aufgeräumt abgemischten Klangkosmos: Ein gewisser Paul McCartney von der früheren Pilzkopf-Konkurrenz zupft in „Bite My Head Off“ bescheiden den Bass, während der schillerndste Diamant im Finale dieser Song-Kollektion, der episch-energetische Gospel-Rocker „Sweet Sounds of Heaven“, von Stevie Wonder an den Tasten und Lady Gagas Stimmkraft verführerischen letzten Schliff erhält.

Ohne die musikjournalistische Plattitüde vom „besten Bandalbum seit (Referenzplatte der Wahl einfügen)“ bemühen zu wollen, muss man spätestens beim Rausschmeißer, einer Coverversion von Muddy Waters‘ „Rollin’ Stone“, nach dem sich die Band einst benannte, konstatieren, dass „Hackney Diamonds“ über ein pflichtschuldiges Schaulaufen weit hinausgeht. Man wird sich an dieses Album bei der wirklich allerletzten Stones-Tour im Jahr 2062 (zum 100-jährigen Bestehen der Band) wohl kaum im Detail erinnern. Aber es ruft eindringlich in Erinnerung, dass die Truppe, die den Rockzirkus, seinen Mythos und nicht zuletzt das Älterwerden darin so maßgeblich geprägt hat, erstaunlicherweise immer noch in der Lage ist, ihren Signature-Sound mit unverbrauchtem Leben zu füllen.