"Jedermann": Die neue Buhlschaft Valery Tscheplanowa im Porträt
An Frank Castorfs Berliner Volksbühne zu arbeiten, war so, als werde man in ein Haifischbecken geworfen: Entweder man triumphierte – oder man kam jämmerlich um. Eine starke Persönlichkeit zu haben, schadete nicht. Eine Portion Wahnsinn gehörte freilich auch dazu, um in Produktionen mitzuwirken, die locker sieben Stunden dauerten und in denen das Chaos regierte.
Die 1980 im russischen Kasan geborene Valery Tscheplanowa ist ein später Star dieses grandiosen Ensembles. In „Faust“ (2017), Castorfs letzter Inszenierung an der Volksbühne, bevor er als Intendant abtrat, bewies sie Nervenstärke. In der zweiten Vorstellung riss ihr Kreuzband, sie spielte trotzdem sechseinhalb Stunden weiter, ließ sich die Schmerzen nicht anmerken. Dabei war Tscheplanowa keine klassische Castorf-Darstellerin, trotz sexy Kostümen spielte sie mit großer Würde und Ernsthaftigkeit. Sogar Castorf ließ sich zu einem Kompliment hinreißen: Sie verfüge über die „Kraft eines russischen T34-Panzers und die Disziplin einer Bolschoi-Ballerina“, aber auch über die „typische Verlogenheit einer Russin“, erzählte er gut gelaunt dem deutschen Fachmagazin „Theater heute“.
Diese geballte Energie, die perfekt kontrolliert in ihr schlummert, merkt man auch beim Treffen im „Schwarzen Café“, ihrem Lieblingslokal in Berlin-Charlottenburg. Tscheplanowa hat ihr Hündchen Gucci dabei, das während des Gesprächs zufrieden auf einem Sessel schläft. „Das Castorf-Ensemble ist wie ein Rudel Wölfe“, sagt sie: „Wenn dich die Kolleginnen und Kollegen akzeptieren, tragen sie dich durch den Abend.“ Sie trinkt einen Karottensaft und Rooibos-Tee, und erzählt, wie sie als Achtjährige mit ihrer Mutter, einer Dolmetscherin, nach Deutschland kam. Sie lernte die Sprache auf die harte Tour: „Meine Mutter hat konsequent aufgehört, Russisch mit mir zu sprechen. Das war ein Schock, und ich verstummte ein halbes Jahr lang“, erinnert sie sich: „Die Kinder im Dorf haben mir dann Dinge erklärt.“ Vielleicht ist ihr Zugriff auf die Sprache auch deshalb so fordernd und intelligent, weil Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. „Im Russischen spreche ich ein bisschen derb, im Deutschen klinge ich eher fein, was mich manchmal nervt“, ergänzt sie.
"Disziplin und Eigenverantwortung"
Sie gilt als keine einfache Schauspielerin, bereitet sich penibel vor, möchte mit den Regisseuren inhaltlich diskutieren. „Wenn ich auf die Probebühne kam, um mit ihr an dem großen Monolog des Dareios zu arbeiten, war sie schon da. Sie hatte zuvor bereits ein, zwei Stunden an Text, Bewegung und Rhythmus gearbeitet“, beschreibt der deutsche Regisseur Ulrich Rasche auf profil-Anfrage die Arbeit an „Die Perser“, einem düsteren Spektakel, in dem Tscheplanowa sich mit zwei Kolleginnen gegen eine gigantische Bühnenmaschinerie behaupten musste. Premiere war im Vorjahr bei den Salzburger Festspielen. „Disziplin und Eigenverantwortung sind die herausstechenden Eigenschaften dieser Schauspielerin, die mehr mit der – vielen als altmodisch erscheinenden – Arbeitsweise von Edith Clever oder Inge Keller gemein hat als mit Kolleginnen ihrer eigenen Generation“, sagt Rasche.
Auch für die Mini-Rolle der Buhlschaft im „Jedermann“, die sie heuer bei den Salzburger Festspielen von Stefanie Reinsperger übernehmen wird, bereitet sie sich vor, als wäre es ein Marathon. Sie sieht sich Videos der bisherigen Aufführungen an. „Mich hat umgehauen, wie Gert Voss die Rolle gespielt hat – da haben die Verse gar nicht geklappert. Man muss diese Reime greifen, das ist dann wie naive Malerei, hat eine große, rohe Kraft.“ Tscheplanowa fühlt sich übrigens nicht auf Frauenrollen beschränkt: Bereits an der Schauspielschule sprach sie in einer Männerrolle vor (als Leonce aus Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“); in Rasches monumentaler Version von Schillers „Die Räuber“ am Münchner Residenztheater verkörperte sie einen faszinierend subtilen Franz Moor – bevor sie 2017 das Ensemble verließ, um als freie Schauspielerin zu leben.
Tscheplanowa möchte sich nicht einschränken lassen. „Der Dichter schreibt ja auch für beide Geschlechter, tastet sich an Frauenfiguren heran. Da ist es doch logisch, dass ich auch beides spielen kann“, erklärt sie ihren Zugang. Außerdem sei es befreiend, beides zu machen: „Wenn ich nur Frauen spielen würde, müsste ich zu viel in eine Figur reinpacken, sie feministischer machen. Aber wenn ich gerade einen alten König gespielt habe, dann habe ich auch kein Problem, eine Naive zu verkörpern.“ Regisseur Michael Sturminger wird also bei den „Jedermann“-Proben einige grundlegende Fragen beantworten müssen. Etwa: Warum wird der Jedermann immer mit einem Schauspieler besetzt? „Das ist doch ein universelles Wort, es bedeutet jeder Mensch. Das könnte genauso gut eine Frau sein“, wirft Tscheplanowa durchaus nachvollziehbar ein: „Hat es schon einmal einen weiblichen Jedermann gegeben? Nach 100 Jahren wäre es an der Zeit!“
"Mit 17 brannten mir alle Sicherungen durch“
So ungewöhnlich wie ihre Art, Deutsch zu lernen, war auch ihr Weg zum Schauspiel. Mit 14 stand sie zum ersten Mal auf der Bühne, ausgerechnet in einem Stück auf Lateinisch. Der Lehrer attestierte ihr Talent, was sie zuerst eher verwirrte. Aber irgendwie schien der Gedanke ans Theater in ihr zu gären. „Mit 17 brannten mir alle Sicherungen durch“, erinnert sie sich: „Ich bin dann von daheim abgehauen, lebte eine Zeit lang auf der Straße.“ Sie schlief in Häusereingängen, sang russische Lieder, womit sie gut verdiente. Erst diese extreme Erfahrung habe ihr den Mut gegeben, ihrer Mutter zu sagen, dass sie Schauspielerin werden wolle.
Als sie im Vorjahr mit „Die Perser“ in Salzburg gastierte, war das mediale Interesse an ihr überschaubar – obwohl sie für ihre Darstellung als Beste Schauspielerin für den Wiener Theaterpreis Nestroy nominiert wurde. „Tagsüber war mir das Gewusel in den engen Gassen manchmal ein bisschen viel“, erzählt sie: „Ich bin um zwei Uhr nachts aufgestanden und spazieren gegangen. Die Stimmung war toll, diese leere Stadt mit den vielen Kirchen, diese massiven Berge rundherum.“ Das Zeug zum Publikumsliebling hat sie und eine Neugierde auf Österreich auch: „Eigentlich wollte ich am Max Reinhardt Seminar studieren, habe aber an der Berliner Ernst Busch Schule vorgesprochen.“ Und dann folgt einer dieser radikalen Tscheplanowa-Sätze: „Ich hätte es gelassen, wenn ich nicht genommen worden wäre.“ Sie setzt ihr russisches Pokerface auf, das Castorf so begeistert hat. Und man weiß: Sie meint es ernst.