Josef Hader über seinen neuen Film – und den Zustand der Welt: „Das Lachen ist mir vergangen“
Josef Hader, der bei der Berlinale demnächst seine Tragikomödie „Andrea lässt sich scheiden“ vorstellen wird, weiß wie kein Zweiter die Conditio humana zu beleuchten. Im profil-Interview denkt der Entertainer über Feminismus, Provinzpolizei, Männereinsamkeit und Wohlstandsverwahrlosung nach.
In Berlins altehrwürdigem Zoo Palast wird es rundgehen. Denn in wenigen Tagen, am 18. Februar, steht dort die Weltpremiere von „Andrea lässt sich scheiden“ an, Josef Haders zweiter Regiearbeit nach „Wilde Maus“ (2017), in der „Panorama“-Sektion der Berliner Filmfestspiele 2024. Birgit Minichmayr gibt die Titelheldin, eine Landpolizistin, in diesem im Weinviertel gedrehten Film. Neben ihr treten die fabelhafte Maria Hofstätter und der zuletzt in Christian Petzolds „Roter Himmel“ sehr präsente Thomas Schubert auf – und Hader selbst als tragische Figur. Sein Cast erst, der ja stets „eine Mischung aus Intuition und Glück“ sei, so Hader, habe das Drehbuch aufblühen lassen. Es geht in „Andrea lässt sich scheiden“ um moralische Zwickmühlen und eine Katastrophe mit weitreichenden Folgen. In „Wilde Maus“ war Hader selbst das unumschränkte Zentrum der Ereignisse, nun aber musste es, in einer Story fern der Stadt, eine Frau sein: „Denn Frauen haben es am Land ungleich schwerer als Männer. Und beim Schreiben braucht man Schwierigkeiten, sonst funktioniert es nicht.“
Sieben Jahre sind seit „Wilde Maus“ ins Land gezogen. Wird er mit seiner nächsten Kinoinszenierung folglich bis 2031 warten? Er lacht zwar, aber sehr viel schneller wird es kaum gehen. Mit seinem aktuellen Programm, „Hader on Ice“ tourt er weiterhin durch den deutschsprachigen Raum. Und er brauche eben sehr lange, sagt er noch, um für sich „Neues zu finden“. Zwei spannende Filmrollen kommen außerdem 2024 auf ihn zu, danach hoffe er den Kopf fürs Schreiben wieder freizuhaben.
Diese Woche wird der talentierte Josef Hader 62 Jahre alt, aber seine schelmisch juvenile Art hält ihn alterslos, sein genuines, fast nerdiges Interesse an der menschlichen Psyche produziert unaufhörliche Neugier. Im Wiener Café Stein nimmt er Platz, gewohnt liebenswürdig widmet er sich, ohne jeden Zeitdruck, dem profil-Gespräch – kein Hauch von Selbstgefälligkeit durchkreuzt seine Ausführungen.
„Andrea lässt sich scheiden“, Ihr neuer Film, der von einem tödlichen Dilemma handelt, konterkariert die lustspielhafte Harmlosigkeit seines Titels konsequent. Wollen Sie Ihr Publikum in die Irre führen?
Hader
Ich bin mit diesem Titel schon auf Widerstände gestoßen, manche fanden die Ironie am Anfang nicht so cool. Mir gefällt, dass man, wenn man nach dem Film aus dem Kino geht und am Plakat vorbeikommt, noch einmal eine kleine Pointe hat. Im Englischen funktioniert er noch besser. „Andrea Gets a Divorce“, da schwingt das Unfreiwillige mit.
Sie locken die Menschen zwar unter falschen Prämissen ins Kino, aber der Titel hat seine eigene Doppelbödigkeit. Insofern passt er auch wieder.
Hader
Ich glaube, dass die Menschen bei mir eh schon mit Doppelbödigem rechnen, insofern werden sie nicht so enttäuscht sein. In den Testvorführungen ging das gut auf. Da gab es dieses spezielle Lachen, das auch in meinen Bühnenprogrammen passiert
Wo genau spielt Ihr Film eigentlich?
Hader
Das wollte ich nicht so ganz festmachen. Gedreht haben wir im Weinviertel, teilweise ganz im Osten, teilweise nahe am Waldviertel. Es ist ein bissl meine persönliche Provinz, wie ich sie erlebt und mir ausgedacht habe. Die Diskothek etwa, einer meiner Schauplätze, liegt in der Gegend, aus der ich komme, im Donautal, in Neumarkt an der Ybbs. Aber Ortstafeln und andere Markierungen haben wir bewusst vermieden.
So ergibt sich eine Art Ortlosigkeit.
Hader
Ja, und gesprochen wird im Weinviertel auch nicht ganz genau wie in unserem Film. Wir sind da von Birgit Minichmayrs Heimatdialekt ausgegangen und von meinem eigenen, das ist eine Sprache, in der das Oberösterreichische und das Niederösterreichische ineinander übergehen. Wir haben versucht, uns auf eine Sprache einzupendeln, die eine Gegend erzählt, irgendwo zwischen Linz und Mistelbach. Es ging uns nicht um präzise sprachliche Verortung.
Sie wurden im Mühlviertel geboren, wuchsen im Waldviertel auf. Schwingen in Ihren liebevoll-desillusionierten Beschreibungen des Landlebens auch Kindheitserinnerungen mit?
Hader
Sicher, aber es sind nicht nur Erinnerungen. Mein Bruder hat den elterlichen Bauernhof übernommen, ich habe auch einen sehr guten Freund draußen. Ich bin auf dem aktuellen Stand, mein Bild vom Landleben ist nicht vor 30 Jahren eingefroren. Meine Beobachtung ist, auch anlässlich einiger Geburtstagsfeiern, dass sich die Beziehung zwischen Männern und Frauen überhaupt nicht verändert hat. Die Traktoren haben inzwischen alle Klimaanlagen. Aber die Geschlechterrollen sind noch recht ursprünglich.
Der Feminismus ist dort noch nicht angekommen?
Hader
Ich fürchte nein. Aber bei den meisten Männern in der Stadt ist der Feminismus auch noch nicht angekommen, sie verstellen sich nur geschickter.
Ihre Protagonistin, gespielt von Birgit Minichmayr, haben Sie eben deshalb selbstbewusst und unabhängig gezeichnet?
Hader
Andrea hat eine Taktik gefunden, wie sie mit den Männern umgeht – wie alle Frauen, die am Land nicht dem ganz traditionellen Rollenbild entsprechen wollen.
Ihr Film weist eine fast thrillerhafte Mechanik auf, hat erstaunliche Überraschungen und Komplikationen parat. Wie entstand das?
Hader
Der erste Entwurf dieser Geschichte war ganz reduziert: eine Nacht, zwei Menschen, ein Unfall, und Andrea erlebt mit der Figur, die ich spiele, eine lange Nacht, viele Gespräche und wenige Schauplätze. Aber bei näherer Überlegung fand ich es viel spannender zu zeigen, wie sie mit dem Unfall umgeht und damit weiterlebt. Ich hab also begonnen, gegen meinen Plan anzuschreiben. Wenn mir nichts einfällt, bastle ich wahnsinnig gern Konzepte – da hat man beim Schreiben das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, obwohl eigentlich nichts weitergeht. Aber wenn man dann richtig ins Schreiben hineinkommt, bewegt man sich von diesen Konzepten wieder weg, kommt auf neue Ideen. Der Hauptwunsch dabei ist immer, das Publikum zu überraschen. Das versuche ich ja mit meinen Solo-Programmen auch: Man kann nie sicher sein, wie zuverlässig die Hauptfigur ist. Und ist die Panne, die gerade auf der Bühne passiert, real? Diese Dramaturgie mag ich einfach gern.
Eine triste Rolle spielen Sie selbst: den unschuldig zum Handkuss kommenden Religionslehrer und Alkoholiker, einen sympathischen Verlierer.
Hader
Ich kenne etliche reale Menschen, die ein Schicksal dieser Art hatten, eine schlechte Weggabelung erwischt haben. Das sind am Land oft Männer, die alleine in ihren Bauernhöfen oder Reihenhäusern sitzen, wie einsame Ritter in ihren Burgen, meist geschieden – oder sie haben gleich überhaupt keine Frau gefunden. Man könnte diese Geschichte ebenso in Norddeutschland oder Finnland erzählen. Man kennt es aus amerikanischen Filmen oder aus französischen Romanen: Männer, mit Alkohol bewaffnet und teilweise auch mit echten Waffen, verschanzt in ihren bröckelnden Eigenheimen, mit viel Wut im Bauch und in schlechtem Gesundheitszustand. Diese Art von Provinz ist recht international.
Die Landpolizei, die St. Pölten schon als Großstadt wahrnimmt, ist das dysfunktionale Zentrum Ihrer Erzählung. Was reizt Sie an diesem speziellen Menschenschlag?
Hader
Es war nicht so sehr die Berufsgruppe, sondern als Idee die Frage, welcher Druck auf einer Frau am Land lastet, die in einer männerdominierten Gesellschaft eine korrekte Polizistin sein will. Jede Polizistin, jeder Polizist vermeidet tunlichst, dort zu arbeiten, wo man die Leute alle kennt, wo man zu jedem Alkolenker eine persönliche Beziehung hat. Ich hab Polizistinnen interviewt und sie gefragt, was sie am meisten nervt; das sind die vielen unnötigen Kilometer, die man machen muss. Dass man per Notruf irgendwohin gerufen wird, dort aber nichts ausrichten kann, weil die Leute ihr Haus nicht öffnen, und nachdem sie ja nichts angestellt haben, muss man wieder abziehen oder stundenlang herumstehen.
Sie recherchieren persönlich? Sie besuchen Polizeireviere, um an Informationen zu kommen?
Hader
Ich suchte Polizistinnen, die mir etwas aus ihrem Alltag erzählen. Ich hab ein paar Kontakte zur Polizei, hab ja schon für die Haas-Krimis beim Drehbuchschreiben immer wieder Tipps gebraucht. Die freuen sich, dass sich jemand mit ihrer Arbeit auseinandersetzt und wissen will, wie es wirklich läuft.
Welches Genre würden Sie Ihrem Film zuordnen? Ist es eine Tragikomödie?
Hader
Ja, nur mit höherem Dramenanteil als üblich, im Vergleich zu „Wilde Maus“ jedenfalls.
Ein Krimi ist es nicht?
Hader
Nein, es geht ja nicht darum, herauszufinden, wer was angestellt hat.
Aber es geht wie in den alten „Columbo“-Krimis auch um die Frage, ob und wie diese Tat offengelegt werden kann.
Hader
Das stimmt. Aber an einen Krimi hab ich dabei gar nicht gedacht. Weil ich mich nicht gern wiederhole, wollte ich diesmal eine Geschichte am Land erzählen. Und es sollte sich keine eingebildete Katastrophe ereignen wie in der Stadtgeschichte „Wilde Maus“, wo die Nöte der Hauptfigur Luxusprobleme sind; diesmal wollte ich ausprobieren, welche Art von Komödie noch funktioniert, wenn sich eine wirkliche Katastrophe ereignet hat.
Birgit Minichmayr spielt Ihre Heldin mit herrlich schlechter Laune.
Hader
Ja, großartig. Man spürt stets, was in ihr vorgeht, aber sie braucht dazu kaum etwas Äußerliches. Sie ist grandios in ihrer Inwendigkeit. Stoisch wie ein Soldat marschiert sie durch diesen Film, wie ein Cowboy eigentlich.
Sie kaschiert ihre Gewissensbisse unter einer Schutzhülle des Grants.
Hader
Wie im alten, klassischen Kino die Männerfiguren. Es gab in den Testvorführungen auch Reaktionen älterer Herren, dass sie es seltsam fanden, dass Andrea nicht viel emotionaler reagiert. Das hätten sie lieber gehabt – die zerbrechliche Frau voller Gefühlsausbrüche.
Wäre dieser Film auch mit einer anderen Schauspielerin denkbar gewesen?
Hader
Ich weiß nicht. In einer frühen Phase des Drehbuchs hatte ich an eine jüngere Frau gedacht, die eine Ex-Schülerin meiner Figur sein sollte. Diese Variante hab ich aber bald verworfen, weil ich Birgit im Kopf hatte – und drauf hoffte, dass ihr diese Rolle gefallen würde.
Minichmayr kann offenbar alles, sie spielt in einem anderen neuen Film die Malerin Maria Lassnig, beeindruckt am Theater ebenso sehr wie im Kino.
Hader
Stimmt. Sie kann alles spielen. Außerdem ist sie ein glänzendes Drehbuch-Korrektiv. Sie untersucht jede Szene und ihre Rolle ganz akribisch. Das hat mir enorm weitergeholfen.
Sie sind offen für Zurufe aus dem Team?
Hader
Ich glaube, dass niemand ein besserer Anwalt seiner Figur ist, als eine kluge Person, die sie darstellt.
So halten Sie es ja auch, wenn Sie in den Filmen anderer auftreten: Sie gestalten gerne mit.
Hader
Meistens, ja. Aber es muss auch nicht sein. In Maria Schraders Stefan-Zweig-Film „Vor der Morgenröte“ hatte ich kaum Gestaltungsspielraum. Aber die Figur des Stefan Zweig hat in mir etwas zum Klingeln bringen, schon beim Lesen des Drehbuchs, sonst hätte ich sie nicht übernommen. Ich bin ja kein „richtiger“, kein ausgebildeter Schauspieler, der gelernt hätte, sich Rollen, die sich auf den ersten Blick nicht rasend interessant lesen, so an sich heranzuholen, dass etwas Besonderes daraus entsteht.
Das können auch viele ausgebildete Schauspielkräfte nicht.
Hader
Manche schon. Wenn ich sehe, was Leute wie Maria Hofstätter oder Thomas Schubert in meinem Film aus ihren nicht so großen Rollen machen
Weil sie etwas einbringen, mit dem Sie nie gerechnet hätten?
Hader
Genau, sie machen Dinge, die nicht im Drehbuch stehen, die man sich nie ausdenken könnte: wie Maria in der Disco tanzt beispielsweise – oder Thomas’ Gesichtsausdruck, wenn er als Polizist Auto fährt. Solche Bilder kann man nicht vorher schreiben.
1994 brachten Sie Ihr Programm „Privat“ zur Uraufführung, in den 30 Jahren seither haben Sie nur zwei genuine neue Hader-Stücke veröffentlicht. Sie sind ein, sagen wir: bedächtiger Arbeiter, oder?
Hader
Ja, aber kein fauler. Ich bin viel auf Tour, und wenn ich schreibe, dann sehr lange, stelle viele Fassungen her, bis etwas fertig ist. Das war bei den Brenner-Filmen so, beim „Aufschneider“ und bei all den Sachen, die ich allein geschrieben habe. Insgesamt war ich eh ganz fleißig, so gesehen.
Genau sieben Jahre sind seit „Wilde Maus“ vergangen, auch damals fand die Weltpremiere im Rahmen der Berlinale statt. Stand immer fest, dass Sie weiter Regie führen wollen?
Hader
Anfangs dachte ich: nie wieder. Aber dann hab ich parallel zum Kabarett-Solo diese Geschichte geschrieben und war plötzlich in diesem ländlichen Milieu, das ich so gut kenne, da wollte ich meine Idee von Provinz dann schon auf der Leinwand sehen.
Es geht Ihnen nicht darum, dereinst auf eine schöne Liste an Regiearbeiten zurückblicken zu können?
Hader
Dazu bin ich zu spät dran. Mit einem richtigen Œuvre wird es nix mehr bei mir. Es geht doch, wenn man im weitesten Sinne Kunst macht, und das viele Jahre lang, vor allem darum, die Dinge zu finden, die man noch spannend findet, die einen fordern. Wenn ich das Gefühl hätte, ein Erfolgsrezept wiederholen zu müssen, krieg ich massive Lustlosigkeit und fühle mich wie ein Schüler, der einen Aufsatz schreiben muss zu einem vorgegebenen Thema. Ich muss diesen sanften Zweifel spüren, ob ich ein Projekt überhaupt hinkriege.
Sie kriegen es offenbar locker hin, an einem Projekt wie diesem als Autor, Regisseur und Darsteller zugleich zu arbeiten. Ist Ihnen das nicht mitunter zu viel?
Hader
Es ist eigentlich zu viel. Es ist aber genauso anstrengend zu spielen, wie Regie zu führen. Würde ich nicht selbst in dem Film auftreten, so würde ich das Problem nur verlagern. Ich müsste eine wichtige Rolle mit jemandem besetzen und sie in engem Austausch mit ihm erarbeiten, also kann ich es gleich selbst machen. Das Überfordernde ist aber natürlich die Regie, diese Letztverantwortung, dass an jedem Drehtag etwas Gescheites heraus kommen muss. Damit hab ich sehr spät begonnen, da wird sich nie eine Routine einstellen.
Als langjähriger Forscher der österreichischen Psyche werden Sie es vermutlich wissen: Was treibt ein Drittel der Menschen dieses Landes in die Arme von Rechtspopulisten und Rechtsextremen?
Hader
Das ist, bei allen österreichischen Besonderheiten, ein europäisches, oder besser gesagt: ein westliches Problem. Und ich glaube schon, dass es auch mit unserem veränderten Wirtschaftssystem zu tun hat. Dieser freundliche Nachkriegskapitalismus, den man soziale Marktwirtschaft nannte, wurde ab den Achtzigern sukzessive ersetzt durch einen Neoliberalismus, bei dem immer weniger durchsickert zu den Menschen, die wenig verdienen. Die Reichen sind inzwischen unverschämt reich, stellen ihren Reichtum auch unverschämt zur Schau. Es ist nicht normal, sondern eine Perversion, wenn Milliardäre kaum Steuern zahlen sondern stattdessen Raketen auf den Mars schießen. Die soziale Marktwirtschaft wurde seinerzeit deshalb erfunden, weil man eine Situation wie in der Zwischenkriegszeit vermeiden wollte, wo Menschen derart verunsichert und auch wütend waren, dass sie für einfachen Populismus empfänglich wurden.
Ist der Neid in einem vergleichsweise reichen Land wie Österreich nicht ein viel größeres Problem als die Armut? Es sind ja nicht 30 Prozent der Menschen in diesem Land armutsgefährdet.
Hader
Es gibt viel Wut über ein sogenanntes System, und vielleicht hat sich da eine Koalition aus Armutsgefährdeten und Wohlstandsverwahrlosten gebildet. Aber Tatsache ist, dass das zentrale Versprechen der etablierten Parteien über viele Jahrzehnte, nämlich dass es von Jahr zu Jahr aufwärts gehen wird, für die meisten einfach nicht mehr stimmt. Und es stimmt deswegen nicht mehr, weil zu wenig Geld da ist für Bildung, für soziale Berufe. Dort arbeiten Menschen, die viel Verantwortung haben, aber schlecht bezahlt werden, weil ihre Arbeit in unserem Wirtschaftssystem viel weniger wert ist als die Arbeit von jemandem, der im Finanzkapitalismus zockt. „It’s the economy, stupid“ war ein berühmter Wahlslogan von Bill Clinton, und teilweise gilt das auch für das Auseinanderdriften der Gesellschaft.
Und dann gibt es die, die „das System“ nur zusammenschlagen wollen.
Hader
Ja, diesen Nihilismus gab es auch immer schon. Der hat eine schöne österreichische Ironie. Vor über 100 Jahren waren viele der Überzeugung, man könnte das brüchige System der österreichisch-ungarischen Monarchie nur retten, indem man einen Weltkrieg anzettelt, man werde im „Stahlbad“ gesunden. Der Ausgang ist bekannt.
Was fasziniert so viele Menschen an Politikern, deren einziges Programm der Hass zu sein scheint?
Hader
Ich war lange der Überzeugung, dass man rechtspopulistische Politik nur „charmant“ verkaufen könne, wie Jörg Haider das gemacht hat. Aber spätestens seit Donald Trump weiß man, dass man als erfolgreicher Politiker auch mies gelaunt und wütend sein kann; man kann sich so benehmen wie jemand, mit dem man nicht fünf Minuten im gleichen Zugabteil sitzen wollte. Als Jugendlicher hab ich mich immer gefragt, wie die faschistischen Politiker der Zwischenkriegszeit Erfolg haben konnten, mit ihrem aggressiven Gebrüll und all dem Herumfuchteln, das auf mich vollkommen lächerlich gewirkt hat. Und jetzt sehe ich es wieder, und es ist wieder lächerlich, aber das Lachen ist mir vergangen.
Rhetorische Frage: Blicken Sie mit bangem Gefühl auf die Nationalratswahl 2024 voraus?
Hader
Inzwischen denke ich wie Franz Schuh, der hat in einem Interview gesagt: Da müssen wir durch. Es bringt nichts, hysterisch zu werden, man wird sehen, was kommen wird, und dann muss jeder Mensch an seinem Platz eben auch politisch agieren. Was anderes bleibt uns nicht übrig.
Wie sehr können Sie jene Teile der – auch künstlerischen – Linken noch verstehen, die völlig empathie- und verständnislos auf ein von Terrormilizen heimgesuchtes Israel reagieren?
Hader
Jeder, der aufrichtig beide Seiten im Blick hat, ist Teil der Lösung; all jene, die sich nur auf eine, egal welche, Seite schlagen, sind Teil des Problems.
Waren Sie nicht überrascht von dem weitreichenden Schweigen zum Angriff auf Israel, vom Desinteresse gerade des Kulturbetriebs?
Hader
Alfred Polgar hat, glaub ich, gesagt, man soll immer an das Gute im Menschen glauben, aber stets vom Schlechten ausgehen. Insofern war ich nicht überrascht. Wir alle hegen eine ziemlich schematische Moral, die an Symbolen hängt. Wie die Katholiken die Monstranz haben, so halten auch wir uns an bestimmte Symbole, die uns verlässlich signalisieren, was wir ganz grauenhaft oder besonders gut finden. Und wenn das plötzlich nicht mehr zusammenpasst, gibt es Verwirrung und auch Feigheit. Aber es ist eigentlich ganz einfach: Man kann nur auf Seiten derer sein, die leiden und sterben.
Wenn Sie für die Bühne arbeiten, schreiben, inszenieren, dann performen Sie allein, sind von kaum jemandem abhängig. Für einen Kinofilm brauchen Sie zahllose Menschen, die Ihnen dabei helfen müssen, Ihre Visionen umzusetzen. Gefällt Ihnen dieses Wechselspiel?
Hader
Ja. Ich mag gerne ein bisschen Abhängigkeit, damit mir die Unabhängigkeit nicht fad wird. Meine Kabarettprogramme mache ich schon sehr lange, das kann ich sicher auch besser. Im Kino bin ich Amateur, besonders, wenn man den Amateur als Liebenden definiert.
Sie inszenieren mit hoher Ambition und großer filmhistorischer Kenntnis. Sie lieben etwa William Friedkins Cop-Movie „The French Connection“ von 1971, aber auch die Filme François Truffauts.
Hader
Ich hatte eine Phase in jungen Jahren, in der ich mich stark mit Filmgeschichte befasst habe; Truffaut ist mir ganz wichtig, ich war immer berührt davon, wie liebevoll er seine Filme gemacht hat. Ich hatte zwar auch an kühleren, zynischen Werken meine Freude, aber die war immer nur kurz.
Liebevoll ist „French Connection“ gerade nicht.
Hader
Stimmt, einerseits ist das ein beinharter Polizeifilm mit einer unglaublichen, modernen Kamera. Aber Gene Hackman als Popeye Doyle geht als trotziger, beleidigter Teddybär durch diesen Film, der hat so was Zerbrechliches. So jemand könnte heutzutage gar kein Filmstar mehr werden, leider! Ein G’sicht wie ein Erdapfel.
Welche Vorbilder hatten Sie für „Andrea lässt sich scheiden“?
Hader
Wir wollten bestimmte Ästhetiken unbedingt vermeiden: eine fremdenverkehrsfördernde Bildgestaltung etwa oder einen sozialdramatischen Realismus. Wir wollten aber auch nichts Lustiges dazu bauen, wir wollten sozusagen alles finden, was es wirklich gibt, aber trotzdem die Figuren und Schauplätze zuspitzen. Vorbilder waren eher amerikanische Filme, die Art, wie dort die Provinz geschildert wird. „Papermoon“ von Peter Bogdanovich zum Beispiel oder „Nebraska“von Alexander Payne. Meinen Kameramann Carsten Thiele fand ich, weil ich unbedingt mit dem Mann arbeiten wollte, der den letzten Film Michael Glawoggers, den Landkrimi „Die Frau mit einem Schuh“ fotografiert hat.
Ihre Figuren sind ambivalent – jenseits von Gut und Böse?
Hader
Ambivalenz ist der größte Suspense, den ein Film haben kann. Mein Film handelt von Menschen, die nicht böse sind, nur – wie wir alle – vom Leben deformiert. Das ist auch in der Stadt so. Am Land haben die Leute aber eine dickere Haut, sie sind nicht böswillig, nur oft unbedacht, so verursachen sie Verletzungen, meistens unabsichtlich. Das ist zumindest meine subjektive Kindheitserfahrung; ich hatte diese dicke Haut leider nie.
Aus der Kurve
Cocktail aus Melodram, Polizeifilm und Landkrimi: Haders „Andrea lässt sich scheiden“
Man sollte allen unnötigen Spoilern in der Vermittlung dieses an Überraschungen wahrlich nicht armen Films aus dem Weg gehen. Denn es gehört zu den Qualitäten von Josef Haders „Andrea lässt sich scheiden“, dass man die jeweils nächste Kurve, die seine Erzählung nimmt, nicht absehen kann. Einen alternativen Polizeifilm, angesiedelt in Österreichs Landleben, hat Hader geschrieben und inszeniert, mit einer famos lakonischen Birgit Minichmayr, die als uniformierte Titelheldin nach einer feucht-freudlosen Nacht unversehens in eine Tragödie gerät. Die Tristesse der Filme Ulrich Seidls ist, abgemildert zwar, in manchen Szenen spürbar (diese Assoziation wird auch durch das Auftreten der eigenwilligen Maria Hofstätter befördert), während eine sanft irritierende Mischung aus Kriminalgeschichte, Charakterstudie und untergründiger Komödie sich ihren Weg bahnt. Gleich nach der Berlinale-Premiere wird Haders Film übrigens in Österreichs Kinos starten, ab 23. Februar ebendort zu besichtigen sein.
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Stand:
Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.