Buchkritik

Julian Barnes: "Der Mann im roten Rock"

Der britische Erzähler Julian Barnes und sein superbes Buch über das Paris vor 150 Jahren und einen Paradiesvogel namens Pozzi.

Drucken

Schriftgröße

Dr. Samuel Pozzi muss eine wahrhaft beeindruckende Figur gewesen sein. Mit seinem imposanten Bart sah der französische Arzt aus wie ein Wiedergänger französischer Könige, und eine Art König war Pozzi (1846-1918) tatsächlich. Setzt man die Aussagen zusammen, die Julian Barnes, 75, in "Der Mann im roten Rock" versammelt hat, entsteht das Bild eines erstklassigen Exzentrikers seiner Epoche: Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie, Darwin-Übersetzer, Kunstsammler, Freund der Familie Proust und Privatarzt von Alfred Dreyfus, Geliebter von Sarah Bernhardt und bis heute Namensgeber der Rue du Professeur Pozzi im südwestfranzösischen Bergerac, dem Geburtsort des Mediziners. Die Schauspielerin Bernhardt nannte ihn "Docteur Dieu", eine monegassische Prinzessin erkannte in Pozzi einen "ekelhaft gut aussehenden" Zeitgenossen. "Pozzi war überall", schreibt Barnes nicht nur an einer Stelle. Marcel Proust gönnte ihm in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" einen kurzen, versteckten Auftritt.

Ein "vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit"

Porträt und Panorama einer Epoche, Literaturhistorie und Anekdotensammlung, Humoreske und Liebesromanze mischen sich in "Der Mann im roten Rock" aufs Schönste. Pozzi erweist sich als vortrefflicher Reiseführer für den Ausflug in das Paris der Belle Époque, jene in der Rückschau edelvergoldete Periode zwischen 1870 und 1914, in der Kunst, Kultur und Wissenschaft erblühten, ehe die Stahlgewitter und Schrapnellhagel der Moderne dem schönen Trugbild von Glamour und Glanz ein jähes Ende bereiteten. In Wahrheit, schreibt Barnes, habe es sich um eine Ära der Ängste und Hysterien gehandelt: Pozzi, auf seinen Reisen quer über den Kontinent übrigens auch ein früher Verfechter des europäischen Gedankens, für den Barnes seit Großbritanniens verblendetem Austritt aus der Staatengemeinschaft bis heute kämpft, sei ein "vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit" gewesen. Die Jahre, die er "in der fernen, dekadenten, hektischen, gewalttätigen, narzisstischen und neurotischen Belle Époque verbracht habe", bekennt Barnes gegen Ende, hätten ihn dennoch "fröhlich gestimmt. Vor allem wegen der Figur des Samuel Jean Pozzi."

Barnes wäre nicht der Meistererzähler, als der er sich seit seinem Publikumserfolg "Flauberts Papagei" (1984) immer wieder erwiesen hat, beschränkte er sich in "Der Mann im roten Rock" auf die Lebensgeschichte des mondänen Chirurgen, die ein böses, unerwartetes Ende nahm. Der Autor berichtet mit unvergleichlicher Pingeligkeit im Detail von einer auf Krawall und Konfrontation gebürsteten Zeit, in der sich die Männer zu blödsinnigem Duellantentum und die Frauen zu parfümierter Schwärmerei gemäß Moralkodex und Sittenkomment verpflichtet sahen. Es treten Rebellinnen und Revolutionäre, Figuren mit lärmenden Egos und mit der Aura halsstarriger Genies ausgestattete Maulhelden auf: Oscar Wilde, die Dichterin Colette, die Physikerin Marie Curie und die italienische Radfahrlegende Momo, der Nervenarzt Gilles de la Tourette und der Pariser Dandy-Poet Jean Lorrain, der als hemmungsloses Klatschmaul und Giftspritze verschrien war.

"Der Mann im roten Rock" berichtet von den unterschiedlichen Aggregats- und Wahnzuständen eines restlos versunkenen Zeitabschnitts, angereichert mit den Absonderlichkeiten seiner Alltagshelden, verdichtet durch eine Form der Ironie, die bei Barnes stets mit der Groteske verschwägert ist, deren wahrer Zweck am Ende die absichtsvolle Geschäftsstörung des biografischen Erzählens an sich ist: "Eine Biografie ist eine Ansammlung von Löchern, die mit Bindfäden zusammengehalten werden", schreibt Barnes, der in "Der Mann im roten Rock" gezählte zwölf Mal freimütig "Wir wissen es nicht" bekennt, sobald er über die verschlungenen Lebenswege von Pozzi und Co. berichtet. Auf Biografien, so resümiert Barnes, sei deshalb noch weniger Verlass als auf einen Roman. "Ist es unfair, mit dem Rock zu beginnen statt mit dem Mann darin?", fragt der Schriftsteller gleich auf den ersten Seiten: "Aber mit diesem Rock oder vielmehr mit dessen Darstellung ist uns der Mann bis heute in Erinnerung geblieben, wenn er uns überhaupt in Erinnerung geblieben ist. Wie er das wohl aufgenommen hätte? Erleichtert, belustigt, ein klein wenig gekränkt? Das hängt davon ab, welches Bild wir uns aus dieser Distanz von seinem Charakter machen." Und welches Bild wir uns von jenem frühen Europa basteln, dessen große Idee des Miteinander inzwischen beängstigend viele leichthin aufzugeben bereit sind. Chauvinismus, zitiert Julian Barnes eine Maxime seines Helden Pozzi, sei eine Erscheinungsform der Ignoranz.

Julian Barnes: Der Mann im roten Rock. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer &Witsch, 298 S., EUR 24,70

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.