Keine Kulturkolchose: Was die Salzburger Festspiele heuer bieten
Seit über 30 Jahren ist Markus Hinterhäuser mit den Salzburger Festspielen verbunden. Als streitbarer Intendant, der gegen Quotendenken und politische Korrektheit wettert, geht er nun in seine neunte Saison.
Nach den Querelen des Vorjahres, die Markus Hinterhäuser heftige Kritik bescherten, nachdem er sich mit Schauspielern und Regisseuren angelegt, öffentlich Angriffiges gegen gewisse Formen des linken Widerstandes formuliert, schließlich noch das „Jedermann“-Team jäh abgesetzt hatte, zeichnet sich nun ein Jahr der Beruhigung ab. Sein im April erneuerter Vertrag als künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele läuft bis 2031, mit einvernehmlicher Ausstiegsoption 2029. Auf 2023 blickt Hinterhäuser ungern zurück. „Es war ein Jahr, in dem ich einiges zu ertragen hatte. Es gibt jedoch den Engel des Vergessens. Den nehme ich für mich in Anspruch.“
Zum rundum Entspannten hat Markus Hinterhäuser, 66, jedoch keine Begabung. Der Intendant zieht nervös an seiner Zigarette, er spricht leise, aber schnell, lässt seinen Widerspruchsgeist von der Leine und die Gedanken in alle Richtungen sprudeln. Für das profil-Gespräch nimmt er sich Zeit, die er eigentlich, wenige Tage vor der Eröffnung der diesjährigen Sommerfestspiele, gar nicht hat, aber aus der Ruhe, die er auch nicht hat, mag er sich durch schnöden Zeitdruck nicht bringen lassen. Und so philosophiert er in seinem Büro in der Hofstallgasse, gleich neben Felsenreitschule und Großem Festspielhaus, über Ungehorsam und Nonkonformismus – und über die Linien, die zwischen den Hauptwerken seines diesjährigen Angebots verlaufen, von den Mozart-Klassikern „Don Giovanni“ und „La clemenza di Tito“ zu den Dostojewski-Opern „Der Spieler“ (von Sergej Prokofjew) und „Der Idiot“ (von Mieczysław Weinberg) weiter zu Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“.
Man braucht nicht lange, um mit Hinterhäuser bei Albert Camus zu landen. Der metaphysische, innere Umsturz, den der französische Denker 1951 in seiner Essaysammlung „Der Mensch in der Revolte“ beschwor, fasziniert Hinterhäuser, er hebt einen Satz daraus hervor: „Ich revoltiere, also sind wir.“ Diesen „Aufruf zu einer Gemeinschaft“, die sich aus einer Revolte ergeben kann, halte er für spannend. Sämtliche Protagonisten des Opernprogramms 2024 widersetzten sich den Erwartungen und Gesetzmäßigkeiten ihrer Gesellschaft ganz entschieden – „der Spieler ebenso wie der außerhalb des Sozialen stehende, beobachtende ,Idiot‘, wie der rücksichtslos durch die Welt rasende Don Giovanni, der vergebende Kaiser Titus und der liebesschwärmerische Hoffmann – sie alle folgen ihrer je eigenen Spur.“
Der Spieler, der den thrills zuliebe seine Existenz riskiere, sei sowieso eine emblematische Figur unserer Zeit. Man müsse nur an den medienträchtigen „Fall und Absturz jenes Milliardärs“ denken, dessen Namen er nicht nennen möchte und „der offenbar zu heftig gespielt hat“. Gegenwärtig werde ja mit allem gespielt, „mit Kryptowährungen, mit dem Klima, der Welt und unserer Existenz – und es ist ein grausames Spiel.“
Russischer Sommer
Eine stark russische Prägung ist dem Festspiele-Sommer 2024 eigen, nicht nur wegen Prokofjew und Dostojewski, sondern auch durch die Briefe und Tagebuchnotizen des Anti-Putin-Aktivisten Alexei Nawalny, die Michael Maertens vortragen wird, durch den umstrittenen Teodor Currentzis, der neben „Don Giovanni“ Bachs Matthäus-Passion dirigieren wird, durch die Auftritte der Salzburg-Stammgäste Grigory Sokolov, Jewgeni Kissin, Kirill Petrenko und Daniil Trifonow. Eine russische Eröffnungsrednerin wird am 26. Juli zudem ihre Stimme erheben: die in New York lebende Politologin Nina Chruschtschowa, Urenkelin des einstigen sowjetischen KP-Parteichefs Nikita Chruschtschow. Ein Masterplan stehe hinter dieser russischen Phalanx nicht, erklärt Hinterhäuser: Dieses Zusammenspiel habe sich, wie so vieles, eben ergeben. „Das Thema Currentzis ist seit zwei Jahren ein Dauerbrenner, dazu hab ich mehr als genug gesagt. Aber es hat einen Grund, warum ich Nina Chruschtschowa eingeladen habe: Sie ist eine präzise Analytikerin, sie kennt die russische Situation wie kaum eine andere. Denn die Frage, wie sich Kunstschaffende in der Tyrannei verhalten sollen oder können, treibt mich und sie um.“
Teodor Currentzis, dem russische Sponsoren angeblich demnächst in St. Petersburg ein Konzerthaus in Elbphilharmonie-Größe bauen wollen, nennt der Intendant „einen Freund“ – aber aus Freundschaft lade er ihn keineswegs ein. „Ich glaube, dass ich mich, was ihn betrifft, in den vergangenen Jahren richtig verhalten habe. Die Frage, welche Verantwortung ein Künstler haben soll, ist ungelöst. Wir haben das Privileg, niemals in einem autokratischen System gelebt zu haben. Ich fühle mich nicht wohl dabei, eine Art von Schuld zu suchen bei jemandem, der sich zu Putin nicht äußert. Das heißt ja nicht, dass er für ihn ist. Er äußert sich eben anders.“ In Deutschland habe Currentzis unlängst Brittens „War Requiem“ dirigiert. In einer großen deutschen Zeitung hieß es: Mit dieser Aufführung habe Currentzis alles zum Krieg gesagt. „Wir verlangen ziemlich viel von jemandem, der in Russland lebt und Verantwortung für ein Orchester hat. Wir machen es uns verdammt einfach, wenn wir bestimmte Lebenssituationen nur nach unseren Maßstäben beurteilen.“
Ist das Festspieleprogramm, das er entworfen hat, immer auch dazu gedacht, die politische Gegenwart zu kommentieren? „Ich würde, was wir anbieten, nicht Kommentare nennen. Ich glaube fest daran, dass man mit den großen Kunstwerken gewisse Fragen verstärken oder forcieren kann. Kunst kann die Öffnung eines Raums bewirken, Reflexions- und Empfindungsräume herstellen. Natürlich können wir die laufenden Kriege nicht beenden, indem wir Kunst auf die Bühne bringen, aber wir müssen diese Kunst dahingehend untersuchen, was sie uns zu alldem zu erzählen hat. Wenn wir die ,Orestie’ machen, sprechen wir von der Geburt der Demokratie. Das ist nicht wenig.“
Jenseits des Alltagsmöglichen
Bereits 1993 begann der Pianist Markus Hinterhäuser seine Arbeit bei den Festspielen, wo er zunächst, gemeinsam mit Tomas Zierhofer-Kin, acht Jahre lang die Neue-Musik-Reihe „Zeitfluss“ programmierte. Nach einem kuratorischen Abstecher zu den Wiener Festwochen avancierte er 2006 zum Konzertchef der Festspiele, 2011 gar zum interimistischen künstlerischen Leiter. Danach ging es, als Chef der Festwochen, wieder zurück nach Wien, ehe er 2017 seine erste „reguläre“ Festspiele-Intendanz antrat.
Ein starkes Musiktheaterfestival, das ist im Idealfall ein bunter, sozial oder politisch relevanter Strauß aus alten und neuen, bekannten und seltenen Werken, jenseits des Alltagsmöglichen besetzt und kompiliert zu Programmen, die Lust auf mehr machen. Musiktheater ist teuer. Das Festival in Aix-en-Provence zeigt mit weniger als der Hälfte des Salzburg-Budgets sieben szenische Opernproduktionen, nur eine davon ist eine Wiederaufnahme. In Salzburg dagegen reicht es im Sommer 2024 zu lediglich drei szenisch präsentierten Opern, dazu kommen eine Übernahme von den Pfingstfestspielen (Robert Carsens solide „Clemenza“ mit Cecilia Bartoli als Mozart-Jüngling) sowie die Wiederaufnahme des umstrittenen „Don Giovanni“ von Castellucci und Currentzis. Für Prokofjews „Der Spieler“ und „Der Idiot“ des Schostakowitsch-Zeitgenossen Mieczysław Weinberg werden Peter Sellars und Krzysztof Warlikowski Regie führen. Der russische Dirigent des „Spielers“, Timur Zangiev, 30, gilt als aufstrebendes Talent.
Innere Statik
Nach der erneut vielversprechenden Ouverture spirituelle in der Woche vor dem offiziellen Start der Festspiele („Das Programm dieser Ouverture ist für mich das eigentlich Kreativste an den Festspielen; es ist etwas ganz Großes, wird auch vom Publikum begeistert angenommen“) wird Hinterhäuser eine fast antiklimaktische Eröffnung zelebrieren – mit der konzertanten Aufführung der letzten Oper des Festivalgründers Richard Strauss, „Capriccio“, mit den von Christian Thielemann dirigierten Wiener Philharmonikern. „Ich wollte einfach gern noch etwas von Richard Strauss in diesem Programm haben“, sagt Hinterhäuser. „Wir haben die beiden Opern, die mich am meisten interessieren, ‚Elektra‘ und ‚Salome‘, exemplarisch bei den Festspielen gemacht. Für mich bedarf ‚Capriccio‘ nicht zwingend einer Inszenierung, dieses Werk hat auch als reines Hörerlebnis zwingende Qualitäten.“ Letztlich aber ging die Entscheidung auf terminliche Probleme zurück: „Keine unserer Premieren konnte heuer gleich zu Beginn aufgeführt werden, das hat mit der Verfügbarkeit bestimmter Künstler zu tun. Es gibt eine innere Statik, der man zu folgen hat in einem sechswöchigen Programm, das aus derart vielen Veranstaltungen gebaut ist.“
Große Vokalstars fehlen heuer, abgesehen von Benjamin Bernheim, der als Titelheld in „Hoffmanns Erzählungen“ (13. August) in Szene treten wird; und die sehr prominenten Sopranistinnen Aušrinė Stundytė („Der Idiot“) und Asmik Grigorian („Der Spieler“) werden eher innerhalb ihrer Ensembles agieren.
Grigorian sei „die größte Sopranistin der Gegenwart und die wunderbarste Darstellerin“, entgegnet Hinterhäuser. „An solchen Leuten gab es nie ein Überangebot. Wir versuchen schlicht, Idealbesetzungen für unsere Opern zu finden, ob sie Stars sein mögen oder nicht. Unser Publikum ist nicht so eindimensional, dass es nur auf bestimmte Konstellationen reagieren würde.“
Die Festspiele erwirtschaften ihren Etat zu einem Gutteil selbst. Ist dieses Festival hoch genug dotiert? Markus Hinterhäuser denkt lange nach, dann sagt er: „Salzburg ist natürlich immer noch ein wirklich großzügig ausgestattetes, aber kein hochsubventioniertes Festival. Von Stadt, Land, Bund und Tourismusförderung erhalten wir nicht einmal ein Viertel unseres Etats. Insofern sind wir gezwungen, sehr, sehr viele Karten von unseren aufgelegten 220.000 Tickets zu verkaufen. Zudem benötigen wir Sponsorengelder, die sich in einem überschaubaren Rahmen halten. Das Festspiele-Publikum ist immens heterogen, das ich als künstlerischer Leiter aber einstimmen will und muss auf das, was wir zu bieten haben.“ Der Vorverkauf laufe „extrem gut, absolut vergleichbar mit dem Vorjahr. Aber man muss auch da Geduld haben, denn das Kaufverhalten hat sich verändert, ist kurzfristiger geworden. Es muss nicht alles schon im März ausverkauft sein.“
Als „Kassengift“ bezeichnete Hinterhäuser unlängst die – natürlich dennoch unumgängliche und wichtige – Schönberg-Reverenz zum 150. Geburtstag des Zwölftöners. Das prekäre Verhältnis von bürgerlichem Wohlklang (dem sich auch das postromantische „Capriccio“ fügt) und avancierter Tonalität ist der Hierarchie des Programms anzusehen. Gegenwartsmusik findet sich vornehmlich im Konzertprogramm. Der Dualismus von Klassik und Neuer Musik nervt Hinterhäuser: „Ich habe hier seit den 1990er-Jahren so unfassbar viel an sogenannter Neuer Musik aufgeführt, dass dieser Umstand keines eigenen Hinweises mehr bedarf. Niemand wird sagen, dass ‚Der Idiot‘ Opernroutine wäre. Dieses Stück wurde erst dreimal aufgeführt. Es ist als Programmpunkt ebenso ‚riskant‘ wie die Opern von Georg Friedrich Haas und Beat Furrer, die nun im Rahmen der Ouverture spirituelle zu hören sein werden. Und 2025 wird man in der Felsenreitschule eine Oper erleben, die Ende des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Ich habe keine Spektakelambitionen. Aber Neue-Musik-Quoten müssen wir nicht erfüllen. Dagegen sperrt sich in mir alles.“
Persönlich hält er es übrigens gerne atonal, was heuer live zu überprüfen sein wird; denn der Intendant spielt zweimal persönlich auf: Neben einem Liederabend mit Matthias Goerne wird er auch Alban Berg und Arnold Schönberg am Klavier intonieren. „In den Proberaum zu flüchten, bei und mit mir zu sein und mich mit dem zu befassen, was mich wirklich interessiert, das ist schon erfrischend. Es ist viel zusätzliche Arbeit für mich, auch zusätzlicher Druck, aber es beschert mir zuweilen auch echte Glücksgefühle.“
"Das ist doch läppisch"
Bayreuth hat eine Chefin (Katharina Wagner), und gleich drei Dirigentinnen werden im Rahmen der fünf diesjährigen Produktionen dort antreten. Salzburg ist vergleichsweise männlich aufgestellt. Man habe in Salzburg viel, viel mehr Veranstaltungen als in Bayreuth, entgegnet Hinterhäuser. „Und wir hatten in den letzten Jahren wunderbare Dirigentinnen: Joana Mallwitz etwa, die Mozarts ‚Cosí‘ gemacht hat; heuer wird Mirga Gražinytė-Tyla die Weinberg-Oper dirigieren. Damit steht jener Mensch am Pult, der diese Musik im Moment am schönsten und tiefsten verinnerlicht, dazu am meisten zu sagen hat. Unseren Eröffnungsfestakt wird Elim Chan bestreiten. Nicht weil sie eine Frau ist, sondern weil sie verdammt gut dirigiert.“ Dieses „Abzählen von Männern und Frauen“ sei doch „läppisch“, so Hinterhäuser. „Ich habe die größte Bewunderung für jeden, der exzellent Musik machen kann, egal ob Mann oder Frau. In spätestens 15 Jahren wird man eine enorme Auswahl an Möglichkeiten haben. Das ist noch nicht der Fall.“
Die Planungsarbeit eines solchen Festivals sei eben kompliziert: „Ich kann keine Fünfjahrespläne machen, ich führe ja keine Kulturkolchose. Ich brauche meine Zeit, um wichtige Entscheidungen zu treffen, aber das folgt keinem wirklich definierten Plan. Und wenn bisweilen die Sujets bestimmter Opern plötzlich ganz wesentlich werden, dann gibt mir das die Welt vor. Das kann ich nicht beeinflussen.“ Und er wolle, ehrlich gesagt, noch gar nicht wissen, was er 2028 machen werde. „Auch wenn ich es bereits wissen müsste.“
Ein Zitat von Robert Musil liegt Markus Hinterhäuser diesbezüglich auf den Lippen, das er in einen schönen Satz transformiert: „Es gibt einen Wirklichkeitssinn, aber ich möchte eine andere Möglichkeit für diese Wirklichkeit haben.“
Mitarbeit: Manuel Brug
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Stefan Grissemann
leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.