Literatur

Kinder aus dem Haus? Gut so! Doris Knechts neuer Roman feiert die Reduktion

Allein, nicht einsam: Doris Knecht entrümpelt in ihrem jüngsten Roman, in „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“, nicht nur eine Wohnung, sondern auch gängige Vorurteile.

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Neue Lebensabschnitte sind schwierig, vor allem, wenn man Veränderungen hasst. Gleichzeitig sind sie eine Chance, festgefahrene Strukturen zu verlassen. So weit die Theorie; praktisch ist die größte Herausforderung oft, sich gesellschaftlichen Erwartungen, wie man sich gefälligst zu verhalten habe, nicht automatisch zu unterwerfen – und stattdessen eigene Wege zu finden, die abseits der Norm glücklich machen.

Ein hartnäckiges Klischee untersucht die Autorin und Kolumnistin Doris Knecht, 57, in ihrem jüngsten Roman, den sie „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ genannt hat: das sogenannte Empty-Nest-Syndrom, also jene Gefühle, die Eltern befallen, wenn ihre Kinder das Zuhause verlassen. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin mit Zwillingen und einem Hund, ist im Alter von Knecht, die hier erneut auf autofiktionales Schreiben setzt. Ihre Figur beurteilt die Lage folgendermaßen: „Wenn wir erst mal Kinder haben, sind wir Frauen in den Augen der anderen nichts mehr ohne sie. Wenn sie ausziehen, sollen wir trauern wie Witwen, sollen wir in ihren ausgeräumten Zimmern am Boden sitzen und schluchzend die zurückgelassenen Kuscheltiere an uns drücken.“ Sie aber möchte nicht in dieses Schema passen, freut sich, mehr Zeit und Raum für sich zu haben, versteht nicht, warum es im Deutschen nur das Wort „einsam“ gibt. Sie ist endlich allein, aber sicher nicht einsam.

Man könnte so manches in dem Buch als privilegierte Bobo-Probleme abtun: Die Erzählerin muss sich reduzieren, sie hat eine geräumige 130-Quadratmeter-Mietwohnung in der Nähe des Wiener Brunnenmarkts, eine kleine Schreibwerkstatt und ein Haus am Land. Altersarmut sieht anders aus. Gleichzeitig trifft Knecht einen sozialen Punkt: Gehen wir nicht immer davon aus, uns vergrößern zu müssen, um zufrieden zu sein? Das Buch untersucht, wie befreiend es sein kann, unnötigen Ballast abzuwerfen, sich im Alter neu zu erfinden. Damit reiht sich die namenlose Erzählerin blendend in das Gesamtwerk der Autorin ein: Ein wenig soziophobisch sind alle ihre Frauenfiguren, störrisch und nicht unterzukriegen. In dem Aussteigerroman „Der Wald“ (2015) porträtiert Knecht eine ehemalige Modedesignerin, die aufgrund der Wirtschaftskrise ihr „Sex and the City“-Luxusleben inklusive Dachterrasse, Yogalehrer und Green Smoothies in der Großstadt verlässt, um aufs Land zu ziehen.

Romantisch ist das nur bedingt. In „Die Nachricht“ (2021) wird die Protagonistin nach dem Tod ihres Mannes von Stalker-Nachrichten belästigt. Auswege aus diesen beengenden Situationen finden ihre Figuren, indem sie sich gesellschaftlicher Konventionen bewusst werden und hinterfragen, welche Rollenkorsette Frauen aufgezwungen bekommen. Und wie man dagegen rebellieren kann.

Anders als Knechts bisherige Romane schlägt „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ kaum Haken, das Buch bietet mehr Reflexion als Aktion. Zur Verfilmung empfiehlt sich das Buch also nicht wirklich an, obwohl in Rückblenden auch das WG-Leben, die Affären, Freundschaften, Urlaube, Abtreibungen und nicht zuletzt die Gespräche mit ihrer Mutter abgehandelt werden. Knecht misstraut als Autorin dabei Erinnerungen genauso wie dem eigenen Erzählen, was eine schöne Offenheit schafft.

Sowohl in ihren Kolumnen als auch in ihrer leicht lesbaren Literatur ist Knecht mittlerweile eine verlässliche feministische Stimme. Es gelingt ihr, aktuelle Diskurse unaufgeregt in einem Alltag zu verankern, den jede Frau irgendwie kennt. Und über den Männer mehr Bescheid wissen sollten. Schließlich kann es nicht angehen, dass Michel Houellebecqs Potenzprobleme als Weltliteratur gefeiert, aber die Werke von Frauen, die über ihre Kinder schreiben, weiterhin als Nischenprodukte abgetan werden. Listen, wie der Titel andeutet, gibt es in dem Buch allerdings überraschend wenige. Auch das ist vielleicht ein Aufruf, nicht so neurotisch zu sein. Und endlich loszulassen.

Doris Knecht: Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe. Erschienen bei Hanser. 240 S., EUR 25,50

Karin   Cerny

Karin Cerny