„Kinders“ und „Im Spinnwebhaus“: Kinder sind auch nur Menschen
„Du bist jetzt der Chef“, sagt die überforderte Mutter zu ihrem ältesten Sohn, ehe sie sich aus dem Staub macht. Weniger Minuten später hat sie ihre Sachen gepackt, das Chaos-Haus verlassen. Auch der Vater will oder kann sich um die gemeinsamen Kinder nicht kümmern. Mit „Im Spinnwebhaus“, einer in Deutschland produzierten Regiearbeit der Österreicherin Mara Eibl-Eibesfeldt, zeigt die Grazer Diagonale ein – vor allem in Sachen Kinderschauspiel erstaunlich souverän gefertigtes – Drama zwischen modernem Märchen und psychologischem Thriller.
Die alleinerziehende Mutter, gespielt von der französischen Schauspielerin Sylvie Testud, ist auf der Flucht vor ihren „Dämonen“, lässt die drei Kinder allein zurück. Also ist Jonas der Boss im Haus, und zunächst macht er das ganz gut. Was gar nicht einfach ist, denn sein jüngerer Bruder Nick ist hyperaktiv, und die kleine Schwester Miechen versteht erst gar nicht, wieso Mama verschwunden ist. Und natürlich darf niemand wissen, dass Mama eine Auszeit braucht. Immer mehr ziehen sich die Kinder in ihre Fantasiewelt zurück, bis Jonas, vor Hunger zum Stehlen gezwungen, den mysteriösen Landstreicher Felix (gothic: Ludwig Trepte) kennen lernt und die Situation immer verworrener wird.
Die Vorlage für den in Schwarz-Weiß gedrehten Film stammt aus der Zeitung. Regisseurin Eibl-Eibesfeldt las von vier Kindern, die fast ein Jahr lang allein gelebt hatten. Für den Zuseher ist „Im Spinnwebhaus“ manchmal kaum zu ertragen, so nah ist der Film an den Problemen der jungen Protagonisten.
Heldengeschichten
Inhaltlich ähnlich erscheint die jüngste Regiearbeit des Wiener Regie-Brüderpaars Arash und Arman Riahi: In ihrem Dokumentarfilm „Kinders“ folgen sie einem guten Dutzend junger Menschen aus prekären Lebensverhältnissen, die ihre persönlichen, ethnischen oder sozialen Barrieren durch die Kraft der Musik zu überwinden lernen. Zuerst noch im Schulunterricht, später beim Wiener Musikförderprojekt „((superar))“. Auch diese Kinder müssen bereits sehr früh lernen, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden. Sei es, weil die Eltern wie in „Im Spinnwebhaus“ nicht für sie sorgen können, weil ein Elternteil viel zu früh verstorben ist, die Religion einer Musikkarriere einen Strich durch die Rechnung macht – oder ein kleines blondes Mädchen bereits mit einem bösartigen Tumor zu kämpfen hatte.
Diese Kinder, denen die Filmemacher hier überraschend nahekommen, waren von Anfang an nicht mit Glück gesegnet. Dennoch erzählen die Riahi-Brüder klassische Heldengeschichten, an deren Enden stets ein kleines Happy End steht. Die Kinder sind trotz – vielleicht auch gerade wegen – ihres schweren Starts ins Leben überaus stolze Menschen, die ihre Wut, ihre Angst, ihre Freude oder Frustration erfrischend nonchalant artikulieren können.
Die Welt der Erwachsenen wird durch die Augen der Kinder wunderbar konterkariert. Ist es notwendig, einen dritten Weltkrieg anzuzetteln? Kommt man nach einem Selbstmord wirklich in die Hölle? Warum belügt mich die Mutter? Warum will mein Vater nichts von mir wissen? Warum haben einander die Nachbarn im Balkan-Krieg eigentlich gegenseitig abgeknallt?
Arash und Arman Riahi versuchen erst gar nicht, Antworten auf solche brennenden Fragen zu finden. Als stille Beobachter folgen sie ihren Heldinnen vom kleinen Singsang im Klassenzimmer zum großen Event im Wiener Konzerthaus.
Das Überwinden privater und sozialer Hürden ist eben kein einfaches Unterfangen. Am Ende bleibt oft nur die Hoffnung – und der Glaube an die Kraft der Musik.